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2

Boris stattete Lina seinen ersten Krankenbesuch ab. Die Mütter ließen die beiden allein, um nicht zu stören, weil – wie sie hofften – das Wunder in den hallenden Herzen vor sich ging.

Boris überkam eine große Traurigkeit, als er an Linas Bette saß und in ihre sprechenden, zärtlich flüsternden Augen sah, deren Blick ihm ins Herz schnitt, obgleich er das junge Mädchen nicht liebte.

Jungmädchenliebe ist scheue Stille und Lauschen; sie ahnt das Geheimnis dumpfer Sinneslust und schrickt zurück und flieht vor ihr in sündlos reine Zärtlichkeit; die Lust aber lockt mit Unerkanntem, Unfaßbarem und schreckt noch im sorglos heiteren Kuß.

Linotschka hätte sich gern an ihn geschmiegt, etwas anderes kannte sie nicht, fühlte sie nicht. Auf einen Kuß aber wartete sie, ersterbend bei dem Gedanken. Sie sah ihm in die Augen, bat:

»Erzählen Sie mir irgend etwas … Ich muß noch immer an Ihr Märchen damals denken.«

»Mein Leben ist ein endloser Traum; auch im Wachen sehe ich Träume. An einen solchen Traum erinnere ich mich eben … Ein schmaler Nachen mit scharfem Bug, ohne Ruder; unter weißen weitgespannten Flügeln furcht der Nachen schäumend die Wellen eines Sees. Ich darf mich nicht rühren, jede Bewegung droht mit dem Sturz in die Tiefe, wo Schlingpflanzen wuchern, aus deren Netzen es kein Entrinnen gibt. Der See verengt sich, die bewaldeten Ufer rücken näher aneinander, werden hoch und steil, Felsen schließen sich über mir zusammen. In dieser unterirdischen Grotte herrscht Dunkel, ich aber spüre Licht und unterscheide jeden Stein in der Tiefe, und es scheint, als entströme das Licht diesen Steinen. Nicht mehr die Flügel des Nachens wogen – mir sind Flügel gewachsen, jene, die bisher den Nachen trugen, und ohne ein Glied zu rühren fliege ich in die Tiefe. Das schwarzgrüne, gallertartige Naß glänzt wie Pech, ist aber, wenn man nach unten blickt, durchsichtig. Wasserpflanzen durchziehen es, immer dichter und dichter, sie treiben weiße Blüten, die auch Helligkeit verbreiten. In weiter Ferne, gleichsam in einer Höhle, glänzt ein Lichtstrahl, und ich strebe diesem Lichte zu und weiß, wenn ich es erreiche, werde ich am Leben bleiben und Glück finden, so wie ich aber eine Bewegung mache, bin ich verloren, muß versinken in der schwarzen Gallertmasse. Je näher ich dem Lichtstrahl komme, desto dichter – nicht heller – wird er und weißer, dann aschblond und schließlich hellblau wie ein flimmernder Stern, hellblau wie ein leuchtendes Augenpaar … Ich will in diese Augen schauen und strebe ihnen entgegen und weiß jetzt, daß es kein Lichtstrahl, sondern leuchtende blaue Augen sind …«

»Wessen Augen, Borja?«

Er beugte sich tief über sie, sah ihr in die Augen, und ihm war, als schwebten ihre Blicke von Seele zu Seele.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es noch nicht … Vielleicht Ihre …«

Als er zu Hause im Bett lag und eingeschlafen war, erschien ihm im Traum, was er erzählt hatte; er sah wieder das Leuchten der blauen Augen und jetzt im Traum wußte er, wessen Augen es waren, zu denen es ihn zog.

 

Jeden Tag ging er zu Lina und wußte es noch nicht, daß er sie liebte, konnte aber ohne sie nicht mehr leben, auch nicht einen Tag. Ging er einmal nicht hin, so entstand eine Leere in ihm, er irrte durch das Haus, öffnete den Bücherschrank, nahm irgendein Buch, ein anderes heraus, blätterte darin und legte sich schließlich untätig auf den Diwan in seinem Zimmer, auf den Ruf der Mutter zum Tee wartend. Wenn dann das Dienstmädchen der Gurnows kam und mitteilte, das Fräulein bitte ihn, zu ihr zu kommen, sie habe Langeweile, eilte er mit offenem Mantel hin, voll Sehnsucht nach den blauen Augen unter dem aschblonden Haar.

»Ich habe Ihren Traum in mein Tagebuch geschrieben, Borja.« Ein Hustenanfall zerriß ihr Lächeln; schmerzlich senkte er die Augen. »Sonst steht aber nichts Interessantes darin.«

Es klang wie ein Bekenntnis der Seelenreinheit des jungen Mädchens, das den ersten Liebeskuß noch nicht empfangen hatte.

Das Frühlingstauen legte das schwellende Erdreich frei, die feuchten Äste schaukelten schwer im Winde. In den Schulen begannen die Abgangsprüfungen. Die Vorsteherin des Lyzeums wurde ersucht, der Kranken das Reifezeugnis auszustellen, um die Todgeweihte durch die Aussicht auf das bevorstehende fröhliche Leben an der Hochschule zu ermuntern.

Als Bauernmädchen aus den Wäldern Körbe voll Maiglöckchen zum Verkauf in die Stadt brachten, setzte Boris zum ersten Male die Studentenmütze auf, holte auf Frau Gurnowas Bitte hin Linas Abgangszeugnis ab und kaufte an der Ecke der Adelsstraße ein ganzes Körbchen voll Maiglöckchen.

Von der Gartenseite her schritt er durch die Lindenallee auf ihr Fenster zu und warf ein Sträußchen nach dem anderen in ihr Zimmer hinein, und als die blauen Augen hinauslugten, legte er die übriggebliebenen auf die Fensterbank.

»Borja, schon Student?«

»Und Sie sind Studentin, Lina …«

Er sprang durch das Fenster in ihr Zimmer und reichte ihr das Abgangszeugnis.

»Das schicken wir an die Hochschule und fahren im Herbst zusammen nach Petersburg …«

In der Dämmerstunde saßen sie am offenen Fenster, lauschten auf das Rauschen der Stadt und sahen zu, wie von den Obstbäumen der weiße Blütenregen herabrieselte.

»Sehen Sie dort, Lina; wie damals im Winter ist alles in aschblonden Reif gehüllt …«

»Leuchten auch blaue Sterne?«

Sie sprachen in bewegtem Flüsterton, Mund an Mund.

»Ja, Lina, zwei Augen wie blaue Sterne im Strahl der Liebe …«

Sie legte ihre durchsichtigen Finger auf seine Hände.

»Wessen Augen, Borja?«

Der erste, nicht endenwollende Liebeskuß wurde durch einen würgenden Hustenanfall unterbrochen. Als sie wieder zu Atem kam, lehnte sie das Köpfchen erschöpft an seine Brust.

»Rasselt es bei dir nicht da drinnen, Borja? … Bei mir ist da ein Klang wie von einer zerrissenen Saite. Weißt du, wenn während des Spiels eine Saite reißt, so tönt aus der Geige ein hohler, zitternder Ton. So ist es auch bei mir. Höre mal.«

Er kniete nieder, umschlang sie und lauschte lange auf ihren schnarrenden Atem, und ihm war, als sinke sein Herz in eine bodenlose Tiefe. Sie strich ihm leise über das Haar und drückte seinen Kopf an ihr Herz.

»Es macht nichts, Borja; das wird schon wieder vergehen.«

»Wie laut dein Herz schlägt.«

Sie küßte ihn zärtlich auf die Stirn.

»Wie wohl tut mir deine Nähe, Borja. Wie süß das ist! Ich bin das glücklichste Mädchen auf Erden, nicht wahr, Borja? …«

Das Leuchten zweier Blicke, das Flüstern zweier Lippenpaare und der Hauch des Todes durchdrang sie als Seligkeit ihrer ersten Liebe; mit banger Hoffnung sagte sie:

»Ich will glücklich sein, ich werde nicht sterben. Nicht wahr, Borja, ich werde doch nicht sterben?«

»Nein, Linotschka, nein, Geliebte, du wirst nicht sterben.«

»Ich weiß, jetzt werde ich nicht sterben. Ich fühle ja, daß es mir viel besser geht.«

Auch Boris liebte, auch bei ihm war es die erste Liebe. Nicht er hatte an ihr, sondern sie an ihm ein Wunder vollbracht. Wie trunken vor Glück kehrte er nach Hause zurück. Nein, Lina würde nicht, durfte nicht sterben; an der Seligkeit ihrer Liebe würde sie genesen!

Die Mutter kam nach dem Abendessen zu ihm aufs Zimmer.

»Du bist heute so sonderbar, Boris. Ist etwas geschehen?«

»Ja, Mama …«

»Sage es mir, mein Junge …«

»Mutter, ich liebe sie … Und ich habe es ihr gesagt …«

Verzweiflung klang aus seiner Stimme; wie ein unterdrückter Schrei aus tiefster Seelennot drangen seine Worte in das Herz der Mutter.

»Borja, mein Junge! …«

Erst jetzt war ihr klar geworden, daß sie ihr Kind zu Leid und Qual verurteilt hatte; in die Arme einer Todgeweihten hatte sie ihn getrieben!

 

Im Sonnenschein ihres jungen Glückes lebte Lina wieder auf, ihre Kräfte schienen zu wachsen. Ihre Mutter glaubte nun an das Wunderwirken der ersten Liebe und freute sich an dem Glück ihres Kindes.

Honigschwer schwärmten und summten die Bienen um die blühenden Linden.

Lina spann in der Lindenallee Zukunftspläne.

»Wirst du mich auch nie verlassen, mich immer lieb haben?«

»Ja, Lina, immer. Im Herbst fahren wir zusammen nach Petersburg, und im nächsten Frühjahr« – er senkte die Stimme und fuhr unter Küssen fort – »und im Frühjahr wirst du mein, meine kleine Frau …«

»Ja, dein, Borja.«

Die Linden blühten. Quälender, dumpfer wurde Linas Husten. Hohl klang es in ihrer Brust.

Boris fragte seine Mutter:

»Mama, wird Lina am Leben bleiben?«

»Ich weiß nicht, mein Junge, ich weiß es nicht …«

»Wenn sie stirbt, sterbe ich auch. Ich könnte ohne sie nicht mehr leben.«

Zwei Mütter weinten und hofften auf ein Wunder.

 

Einmal kam Boris durch den Garten und trat leise an ihr Fenster. In einem weißen Schlafrock, die welligen Haare gelöst, lag sie auf den Knien und betete reglos; nur ihre blassen Lippen bewegten sich stumm. Ihre Augen schienen in die Unendlichkeit zu blicken.

»Borja, Liebster! …«

Er hielt ihre Hände, küßte sie lange.

»Um was hast du gebetet, Lina?«

»Daß Gott mich dir erhalte … Ich will nicht sterben. Früher schreckte mich der Gedanke an den Tod nicht, aber jetzt will ich leben. Ich will bei dir bleiben, Borja, Liebster …«

Er sprang zu ihr hinein.

»Ich bete jeden Morgen und jeden Abend zu Gott um mein Leben, um deinetwillen, Borja. Betest du auch?«

»Nein.«

»Du glaubst nicht an ihn?«

»Nein.«

»Du sollst es von mir lernen, sollst lernen zu glauben und zu beten.«

»Kann man das denn lernen, Lina?«

»Wenn du wüßtest, welch eine Wohltat es ist, zu beten … Es lebt sich leichter und es stirbt sich wohl auch leichter, wenn man beten kann. Wenn ich sterbe – ich meine das nur so, du brauchst nicht zu erschrecken –, will ich ihm danken, daß er mich glücklich gemacht hat auf Erden. Und du wirst bei mir sein und meine Hände halten, damit ich dich bis zum letzten Atemzug spüre, und mir in die Augen sehen, und ich will ihn bitten, daß er dir Glück beschere auf Erden, und ihm für die Liebe danken, die er in meinem Herzen erweckt hat.«

Boris kniete vor ihr, den Kopf auf ihre Knie gebettet; leise strich sie ihm über das Haar und sprach im Flüsterton, um nicht husten zu müssen.

»Ich werde ja aber nicht sterben, Borja. Ich stelle mir das nur so vor …«

Er weinte nicht, hatte keine Tränen, aber er litt.

»Auch du sollst beten lernen, Liebster …«

»Das kann man nicht lernen.«

»Ich will es dich lehren, Borja. Wenn du erst anfängst zu beten, wirst du auch glauben. Willst du, Borja? Ich weiß schon, wie ich es mache …«

»Tu es, wenn du kannst. Auch mir scheint zuweilen, daß das Leben leichter und einfacher sein müßte, wenn man glauben und beten kann.«

Den ganzen Tag war Lina nachdenklich, in sich gekehrt; sie atmete langsamer und hustete fast gar nicht.

Beim Mittagessen sagte sie zur Mutter:

»Mama, laß uns aufs Land ziehen, auf unser Gut. Ich möchte so gern noch einmal in unserer Kirche in Rjabinki beten. Und Borja soll mitkommen.«

»Es geht nicht, Kind, die Bauern brennen die Gutshöfe nieder; bei Belopolskijs haben sie fast das ganze Herrenhaus eingeäschert.«

»Nur auf einen Tag! …«

Als die Dämmerung anbrach, bat Lina die Mutter, Grieg zu spielen, und hörte mit Boris zu. Als die Mutter geendet hatte, umarmte Lina sie und bat schmeichelnd:

»Mama, erlaube mir auch zu spielen, ein bißchen. Es geht mir ja viel besser jetzt.«

Frau Gurnowa konnte ihrer Einzigen die Bitte nicht abschlagen.

»Mütterchen, ich möchte Boris etwas vorspielen.«

Olga Grigorjewna, die von den vielen heimlich vergossenen Tränen jetzt immer heiße Augen hatte, verstand. Jedem Wunsch der Kranken nachgebend, ging sie ins Nebenzimmer und hörte weinend dem Spiele ihrer Tochter zu. Mitten in Tschaikowskijs »Herbstlied« brach Lina ab.

»Ich kann nicht mehr, Borja … Die Kräfte reichen noch nicht.«

Sie drehte sich auf dem Sessel um und streckte ihm die Arme entgegen. Er küßte ihre Hände und führte sie zu einem Lehnstuhl.

»Ich möchte dir auch etwas vorspielen …«

Bis zum Abendtee spielte er im Dunkeln, suchte in Tönen seine Sehnsucht, seinen Schmerz, seine Liebe auszudrücken.

Nach dem Abendessen pflegte Boris immer nach Hause zu gehen. Diesmal hielt Lina ihn zurück und bat:

»Komm auf einen Augenblick in mein Zimmer, Borja …«

Olga Grigorjewna sagte besorgt:

»Es ist spät, Kind … Und du bist müde; das Musizieren greift an.«

»Nur auf einen Augenblick, Mama … Bitte, bitte …«

Sie führte ihn in ihr Zimmer. Das Bett, ganz weiß, war zur Nacht aufgeschlagen; von dem grünen heiligen Lämpchen fiel ein dunkles Kreuz auf den Fußboden. Im Zimmer herrschte ein stilles Halbdunkel.

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte leise und innig:

»Laß uns zusammen beten, Liebster …«

Er senkte stumm die Stirn.

»Knie hier neben mir nieder, lege den Arm um mich und schließe die Augen … Die Augen mußt du unbedingt schließen …« Sie stützte den Kopf leicht an seine Schulter. »Und sprich nach, was ich sage.«

Leise, fast flüsternd, wiederholte er ihre Worte und fühlte die Geliebte so nahe, wie nie zuvor; ihm war, als klinge ihre Stimme in ihm, und nicht die Worte, seine Liebe ward ihm zum Gebet.

»Lieber Gott, wir beten beide zu dir … Du weißt, wie wir uns lieben … Laß uns dieses Glück … Wir sind in deiner Hand … Ich möchte so gern leben … Laß mich genesen um seinetwillen … Er betet zusammen mit mir … Vergib ihm, er ist sündig wie ich … Du bist barmherzig … Du siehst, wie sehr ich ihn liebe … Laß uns dieses Glück, Herr …«

Andächtig fanden sich ihre Lippen; ihre Liebe war Gebet geworden.

Die Kräfte verließen sie, sie rang nach Atem, sank auf seine Arme, ein dumpfer röchelnder Husten schüttelte sie. Er spürte, wie es in ihrer Brust rasselte und arbeitete. Sie schien zu ersticken, als sich ein Blutstrom aus ihren Lippen ergoß; warme Tropfen sickerten auf seine Hände hinab.

Er trug sie aufs Bett, holte ihre Mutter und eilte durch die schlafenden Straßen zum Arzt.

Als der Arzt nach der Untersuchung der Kranken im Vorzimmer den Hut aufsetzte und die erhaltenen fünf Rubel in die Westentasche steckte, sagte er zu Boris:

»Sind Sie mit der Kranken verlobt?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Ihnen will ich die Wahrheit sagen; im August ist alles zu Ende.«

»Kann nicht ein Wunder geschehen?«

»Leider geschehen heutzutage keine Wunder mehr, junger Mann.«

»Doch, Herr Doktor.«

Der Arzt warf ihm einen prüfenden Blick zu und setzte seine Zigarette schweigend in Brand.

Als Boris in Linas Zimmer zurückkehrte, um noch einen Blick auf die Kranke zu werfen, steckte sie kleine Eisstückchen in den Mund und blickte ihn traurig an. Flüsternd bat sie die Mutter:

»Mütterchen, darf Boris heute bei mir bleiben? Wir werden nicht sprechen.«

Olga Grigorjewna nickte stumm. Lina legte ihre weißen durchsichtigen Finger auf seine Hand und sank still in Schlaf, ein glückliches Lächeln auf den Lippen.

Boris regte sich nicht. Bis zum Morgen saß er schweigend an ihrem Bett und wiederholte lautlos immer wieder: »Herr, laß uns dieses Glück …«

 


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