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3. Buch.
Der Stern von Bethlehem


1

Eine Laterne stand vor dem Hause, eine ganz gewöhnliche Petroleumlaterne auf einem knorrigen Eichenpfosten, und blinkte Afonka zu, als er nach Penji kam. Schmutz gluckste unter seinen Füßen, der lange Kaftan wurde vom Winde aufgerissen – in der Dunkelheit konnte man sich in den Haken nicht zurechtfinden; unter den Mützenschirm drang ein feiner Herbstregen. Niemand kreuzte seinen Weg, keine Menschenseele war zu sehen, frei lag die Welt vor ihm. Er schritt über den Platz und stieß gerade auf die Laterne.

Er betrachtete die Gebäude – ein zweistöckiges Backsteinhaus und ebensolche Speicher; es stimmte, das war Drakins Fabrik.

»Was suchst du hier?«

Es war Wanja Kain, der Kaljabin in der Dunkelheit anfuhr.

»Hast mich wohl nicht erkannt?«

»Ah, Afanaßij Timofejewitsch! Wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt? Wir haben mit Lossew gewartet und gewartet. Jetzt wache ich hier auf der Straße, in acht Tagen werde ich Nachtwächter auf der Fabrik.«

»Ausgezeichnet, Wanja, halt' gute Wacht. Schlafen sie schon?«

Er wies mit dem Kopf nach den dunklen Fenstern des Hauses, klingelte lange, bis es hinter den Fenstern hell wurde.

»Wer ist da?«

»Ich muß Fjokla Timofejewna sprechen oder den Herrn Ingenieur selbst.«

»Wer sind Sie denn?«

Wanja Kain, der sich hier bereits zu Hause fühlte, stand ihm bei:

»Machen Sie auf, ich kenne den Mann.«

Die Kette klirrte, knarrend ging die Tür auf. Mit wehendem Kaftan, den Rucksack über der Schulter, stapfte Afonka ins Vorzimmer hinauf. Zwei Türen weiter hörte er den Ingenieur in seinem Zimmer hin und her laufen, hüsteln, ausspucken, Streichhölzchen anzünden, bis dieser schließlich, mit verschlafenem Gesicht, im Schlafrock, die Pfeife im Munde, herauskam und unzufrieden brummte:

»Was wollen Sie? Wer sind Sie?«

»Kaljabin ist mein Name, ich bin Geschäftsführer bei Klimow – ich war im vorigen Jahr zugegen, als Fjokla Timofejewna den Wechsel unterzeichnete. Ich möchte in einer vertraulichen Angelegenheit das Fräulein oder Sie sprechen – unter vier Augen.«

Kirill Kirillowitsch stieß eine Rauchwolke hervor und sagte ebenso brummig und verschlafen:

»Sprechen Sie hier. Um was handelt es sich?«

»Es ist eine umständliche Sache, in zwei Worten läßt sich das nicht sagen.«

Kirill Kirillowitsch wandte sich zum Gehen, Afonka flüsterte ihm zu:

»Es handelt sich um eine Brandstiftung …«

Die verschlafenen Augen des Ingenieurs öffneten sich plötzlich groß und weit.

»Eine Brandstiftung? Bei wem?«

Er führte ihn in sein Arbeitszimmer.

Afonka berichtete wahrheitsgetreu, wie Klimow durch ihn Leute hatte dingen lassen, um vor dem Zahlungstermin die Taufabrik und die Hanflager in Brand stecken zu lassen – daß der neue Nachtwächter eben jener gedungene Brandstifter sei – von den übrigen Beteiligten, von Lossew, dem Kuppler, von Manja Dohlchen, die mit Wanja Kain gebummelt und ihn betrunken gemacht hatte, von den beiden anderen Burschen aus der Vorstadt.

»Die Hauptsache aber kann ich nur in Gegenwart des Fräuleins sagen, weil die Angelegenheit ja vor allem sie angeht; Sie tragen nur die Verantwortung vor ihr … Man wird das Fräulein wecken müssen …«

»Fjokla Timofejewna ist müde, sie hat Besuche gemacht und gepackt, übermorgen reist sie nach Petersburg … Sagen Sie es mir.«

»Und wenn auch, geweckt muß sie werden. Ich gehe nicht eher fort.«

Wütend über den aufdringlichen Störenfried, dem er Dank schuldete, und von Neugier geplagt, entschloß sich Kirill Kirillowitsch, seine Nichte zu wecken.

Als er mit ihr zurückkehrte, hörte man ihn im Gang unwillig brummen:

»Weiß der Teufel, was er will – scheint halb verrückt zu sein … Die Hauptsache, wie er sich ausdrückt, will er nur in deiner Gegenwart sagen …«

Die kleine Fenja hielt beim Eintreten den Kimono über der Brust zusammen, unter dem sie nur Hemd und Strümpfe anhatte. Den Rücken hinab hingen zwei pralle Zöpfe, unter dem Häubchen hervor guckten, kleinen Hörnern ähnlich, Papierpapilloten. Auch ihre Augen waren verschlafen und blickten, im Träumen unterbrochen, traumverloren. Ihre Hände fühlten sich noch bettwarm an.

»Also hier ist Fräulein Grakina, sprechen Sie.«

»Sie haben mich wohl ganz vergessen, Fjokla Timofejewna? Erkennen mich nicht mehr?«

»Doch …« sagte Fenja ein wenig unsicher.

»Na, es wird Ihnen schon einfallen … Ich habe Ihnen da einen Fetzen Papier gebracht, den lesen Sie durch und behalten ihn – Sie werden mich dann nie mehr vergessen … Ich weiß, was ich sage. Gleich …«

Die kleine Fenja und Kirill Kirillowitsch sahen ihn verwundert an; der Ingenieur dachte bei sich, der Mann sei verrückt oder ein abgefeimter Spitzbube, und biß ungeduldig auf seine Pfeife, die auf und ab zuckte.

Afonka schlug den Kaftan auseinander, zog aus der Westentasche ein doppelt zusammengefaltetes Stück Papier hervor und reichte es ihr. Kirill Kirillowitsch warf über Fenjas Schulter einen Blick darauf und nahm ihr das Schriftstück aus der Hand.

»Wie kommen Sie zu Fjokla Timofejewnas Wechsel?«

»Ich gebe ihn also Fjokla Timofejewna zurück, damit sie mich nie mehr vergesse.«

Er schnappte den Wechsel aus Drakins Fingern, riß ihn mitten durch und reichte die eine Hälfte der kleinen Fenja.

»Es ist nun aus und zu Ende mit ihm; hier, bitte schön, Fräulein. Das war denn also die Hauptsache, und nun muß ich gehen. Vielleicht werde ich schon gesucht, muß auch fortreisen …«

Fenja sah ihn verständnislos an, drehte sich um und verließ wortlos das Zimmer. Afonka fühlte sich verletzt – er hatte ihr Vermögen gerettet, und nicht einmal danke hatte sie ihm gesagt! …

Kirill Kirillowitsch sagte im Geschäftston:

»Setzen Sie sich, Kaljabin. Der Wechsel ist vernichtet und hat seine Gültigkeit verloren. Dadurch allein aber wäre meine moralische Verpflichtung, das aufgenommene Geld zurückzuzahlen, nicht erloschen. Jedoch fühle ich mich in keiner Weise einem Manne gegenüber gebunden, der sich durch ein Verbrechen auf meine Kosten bereichern wollte. Der Schaden, der mir dadurch entstanden wäre, läßt sich nicht überschauen, jedenfalls hätte das meine Lebensarbeit vernichtet, und was ich noch übrig behalten hätte, wäre drauf gegangen, meiner Nichte den Verlust ihrer Häuser zu ersetzen, die das Mehrfache dessen wert sind, wofür Klimow sie an sich bringen wollte. Falls Klimow sich zu Unrecht geschädigt fühlen sollte, kann er mich verklagen; er wird sich aber wohl hüten, das zu tun, und einsehen, daß er den Denkzettel reichlich verdient hat .. Nun komme ich zu Ihnen. Wieviel verlangen Sie für Ihren Dienst?«

»Nichts.«

»Wie meinen Sie das? Es handelt sich um eine Summe von dreimalhunderttausend Rubeln.«

»Das weiß ich, ich kenne die Sache ja besser als Sie. Aber Geld nehme ich nicht. Nicht deshalb bin ich hergekommen.«

»Würden Ihnen zwanzigtausend genügen?«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, ich brauche nichts. Lassen Sie mich jetzt gehen. Auch für hunderttausend hätte ich es nicht getan, wenn ich nicht … Na, einerlei. Ich gehe jetzt …«

»Zum Teufel noch einmal, so reden Sie doch vernünftig! Also wieviel wollen Sie haben? Genügen Ihnen fünfzigtausend? Was soll das Theater?!«

»Schön denn, von dem Fräulein selbst würde ich schließlich tausend Rubel annehmen, als Notgroschen für die erste Zeit …«

»Wiederum nur von ihr selbst? Weiß der Kuckuck, was mit Ihnen los ist! Warten Sie hier, ich hole sie.«

Aufs neue kehrte Kirill Kirillowitsch mit der kleinen Fenja zurück. Sie hatte noch nicht Zeit zum Einschlafen gehabt, und das Blinkfeuer ihrer Träumereien, die um Petrowskij schwebten, war noch nicht erloschen, als sie wieder in ihren Kimono schlüpfen mußte.

»Was will er denn von mir?«

»Nur aus deinen Händen will er eine Dankesgabe annehmen. Ich werde dir fünftausend Rubel zustecken, überreiche sie ihm …«

Sie trat ärgerlich in das Zimmer; böse Fünkchen glommen in ihren verschlafenen Augen; sie sah Afonka gar nicht an.

Der Ingenieur öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, zählte mit geübter Hand fünftausend Rubel in Hunderterscheinen ab, steckte sie in einen Umschlag, den er zuklebte – das alles tat er verstohlen, indem er sich den Anschein gab, als zeige er Fenja bloß, wo das Geld lag –, drückte ihr das Päckchen in die Hand und flüsterte ihr zu, sie solle sich bedanken.

»Von Ihnen allein, Fjokla Timofejewna, kann ich das annehmen – von niemand anderem hätte ich es genommen …«

Er nahm das Päckchen mit der Linken in Empfang, ergriff mit der freien Rechten ihre Hand und küßte sie. Hilflos zuckte die geküßte Hand, und hilflos blickte die kleine Fenja ihren Onkel an, wie Schutz suchend, denn ihr war, als streifte sie der Hauch des Schicksals unter diesem Handkuß. Ihr Onkel stand neben ihr und sah ruhig zu, als vollziehe sich etwas Unvermeidliches, und dachte bei sich, der Mann müsse wohl nicht ganz normal sein. Nach seinem Kusse stieß Afonka ihre Hand mit einem Ausdruck der Verzweiflung zurück … An den Ingenieur gewandt, sagte er:

»Lassen Sie mich hinaus, ich gehe … verreise …«

Die kleine Fenja war nicht dazu gekommen, ihm zu danken; vor Schreck hatte sie es vergessen. Sie wartete auf die Rückkehr ihres Onkels, der selbst Kaljabin nach unten geleitete. Als er die Haustür öffnen wollte – draußen herrschte bereits fahler Dämmerschein – hielt Afonka ihn zurück und flüsterte:

»Haben Sie vor allem ein Auge auf Wanja Kain, und zweitens befolgen Sie meinen Rat, und lassen Sie durch einen Vertrauensmann dem Anwalt Lossew, sagen wir, dreitausend Rubel auszahlen; Sie schließen ihm damit den Mund und sind vor Klatschereien gesichert; der Alte hätte ihm für seine Dienste in der Angelegenheit sicher nicht einmal tausend Rubel gegeben. Vergessen Sie das nicht – außer ihm weiß niemand etwas von dem Wechsel.«

In der Morgendämmerung schritt Afonka zum Bahnhof.

Der Ingenieur Drakin setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen auf den Läufer; ihm war ganz wirr im Kopf. Er konnte sich die Geschichte nicht zusammenreimen … Als er in sein Arbeitszimmer trat, war er so in seine Gedanken vertieft, daß er die kleine Fenja nicht gleich bemerkte und vor sich hinmurmelte:

»Dreihunderttausend für fünftausend … Das ist mehr, als wenn ich das große Los gewonnen hätte … So ein Idiot!«

»Wer ist ein Idiot, Onkel?«

»Du bist noch hier, Fenja? … Dieser Klimowsche Geschäftsführer. Woher kennt er dich? Bist du denn noch vor der Unterzeichnung des Wechsels damals irgendwo mit ihm zusammengekommen?«

»Ich weiß nicht, Onkel Kirja. Mir war, als hätte ich ihn bereits früher gesehen, kann mich aber eben nicht entsinnen …«

Onkel Kirja legte den Arm gerührt um ihre Schultern und küßte die kleine Fenja kräftig auf die Lippen, die wie ihr ganzer Körper noch schlafwarm waren. Mit ein wenig nervöser Stimme sagte er, ihre Hand schüttelnd:

»Nun, Fenitschka, ich gratuliere dir! Dreimalhunderttausend Rubel hast du gewonnen … Häuser und einen hübschen Batzen Geld hast du jetzt, besitzt die reichste Mitgift von allen Mädeln der Stadt. Es scheint mir noch wie ein Weihnachtstraum … Ich schulde dir also bis auf ein Kleines dreimalhunderttausend Rubel. Soll ich dir einen Wechsel ausstellen?«

»Nichts Derartiges ist nötig.«

»Na, dann kriech ins Bett. Übermorgen früh geht's auf die Reise.«

Fenja legte sich hin, konnte aber nicht mehr einschlafen, wenn sie sich auch vor sich selbst den Anschein gab, als schliefe sie. Sie würde Petrowskij noch einmal daran erinnern, ihm schreiben, daß sie übermorgen abreiste, damit er zur Stelle sei. Er hatte versprochen, ihr beim Zimmersuchen behilflich zu sein, und wenn sie zusammen mit ihm in Petersburg ankam, würde sie sich in der großen Stadt nicht so einsam fühlen. Gerade die ersten Tage unter fremden Menschen, in der ungewohnten Umgebung, schreckten sie ein wenig, da war es denn gut, jemand zu haben, der ihr nah stand. Ihre Gedanken, halb mädchenhaft, halb fraulich, gehörten ihm. Nicht mehr phantastischen Schwärmereien hing sie im Halbschlummer nach, sondern suchte, sich das bevorstehende freie Leben auszumalen. Sie wollte Petrowskij an sich fesseln und sein werden, dabei aber ihre Freiheit bewahren. Der Gedanke schreckte sie, er könnte sie nach ihrer Vergangenheit fragen, wenn er merkte, daß sie kein Mädchen mehr war. Er hatte zwar immer von freier Liebe gesprochen und nannte die Forderung der Jungfräulichkeit ein atavistisches Vorurteil, vielleicht darum, weil er selbst keusch war oder noch nie ein Mädchen besessen hatte. Sie hätte gern an die Aufrichtigkeit seiner Behauptungen geglaubt, fürchtete aber, daß diese nicht standhalten würden, wenn er einmal selbst liebte. Vielleicht würde er auch nichts sagen, würde Schmerz und Enttäuschung darüber, daß sie vor ihm einem anderen gehört hatte, stumm in sich tragen und ihr dadurch entfremdet werden … Und sie wollte ihn nicht verlieren, ihn, der schon das Schulmädel Fenja zu ihren Freundinnen begleitet, ihr die Bücher getragen, in ihren Heften wie in ihrer Seele geblättert hatte. Nachher war er anders geworden, männlicher, kühl, vernünftig, betrachtete das Leben kalt und wägend, behauptete, das Gefühl sei auf dem Schachbrett des Lebens Königin, König aber müsse der Verstand sein, dem sich die Königin zu fügen, ja zu opfern habe. Daran konnte sie nicht glauben, daß Liebe nur eine Schachfigur in einem Verstandesspiele sei … In die Decke gekuschelt, hing sie ihrem Sinnen nach, und gegen ihren Wunsch und Willen tauchte immer wieder die Gestalt jenes rothaarigen Mannes vor ihr auf. Sie wollte nicht an ihn denken, suchte aber gleichzeitig, sich zu erinnern, wo sie ihn schon gesehen haben mochte. Wie eine Flechte spürte sie noch immer seine Lippen auf ihrer Hand. Kaum erklangen die ersten Schritte der Dienstboten im Hause, als sie aufsprang, den Kimono überwarf und an Petrowskij ein paar Zeilen schrieb und ihn bat, sich am nächsten Morgen zum Schnellzug auf dem Bahnhof einzufinden; den Brief sandte sie ihm mit einem Dienstmädchen in die Wohnung.

Den ganzen Tag über streifte sie nichtstuend im Hause umher. Die bevorstehende Reise, das neue, selbständige Leben in der Fremde nahmen ihre Gedanken in Anspruch und machten sie ruhelos; dazu kam noch die Erinnerung an den geheimnisvollen nächtlichen Besuch, von dem Kirill Kirillowitsch auch seiner Schwester auf seine Weise erzählt hatte. Als es Abend geworden und Ruhe im Hause eingetreten war, versammelte sich die Familie auf Wunsch von Fenjas Mutter um den Teetisch in der alten Hälfte des Hauses. Die drei saßen erst eine kleine Weile beisammen, als im Vorzimmer die Glocke ertönte. Frau Grakina ordnete an, niemand zu empfangen. Das Dienstmädchen kehrte zurück und meldete:

»Herr Doktor Bolotow wünscht den gnädigen Herrn zu sprechen, er läßt sich nicht abweisen.«

Ärgerlich gestattete Antonina Kirillowna, den ungelegenen Gast heraufzubitten.

Bolotow trat erregt ein, begrüßte die Damen und wandte sich an den Ingenieur:

»Komm in dein Arbeitszimmer, Kirill, ich habe mit dir zu sprechen – du wirst den Mund aufsperren!«

Als sie allein waren, berichtete Bolotow:

»Der alte Klimow hat seine Frau erdrosselt, aus Eifersucht auf seinen Geschäftsführer, und hat darauf einen Schlaganfall erlitten; er liegt gelähmt in seiner Betstube, lallt nur. Ein Kellner holte mich hin; sein Dienstmädchen hat mir die Sache in seiner Gegenwart erzählt. Ich habe ihn untersucht; er wird sich wohl wieder erholen, mehr oder weniger … Und da fand ich ein geheimnisvolles Päckchen – verstehst du?«

»Kein Wort – was für ein Päckchen?«

»Hier lies: »An den Chef Kaßjan Parmjonytsch, Abrechnung über die Brandstiftung bei Drakin, Afanaßij Kaljabin«. Und jetzt blick' mal hinein.«

Kirill Kirillowitsch sah die Dokumente durch und staunte auch, trotzdem er ja bereits unterrichtet war. Ausführlich erzählte er seinem Freunde von Kaljabins nächtlichem Besuch, von seinen anfänglichen Bedenken und seinem Entschluß, es dem alten Klimow zu überlassen, sich an das Gericht zu wenden, falls er sich zu Unrecht geschädigt fühlen sollte …

»Mein Lebenswerk wäre vernichtet gewesen, wenn dem Lumpen das Gaunerstück gelungen wäre,« schloß er seinen Bericht und ballte die Fäuste.

Bolotow, ebenso empört wie sein Freund, gab ihm recht.

»Übrigens habe ich diesen sauberen Lossew bei dem Alten gesehen, er hat sich mir als dessen Anwalt vorgestellt. Ein Galgengesicht, sage ich dir – nicht umsonst liegt da auch eine Rechnung von ihm vor über einen vergnügten Abend mit einem Mädel … Meiner Ansicht nach hast du nichts zu fürchten, der Alte wird sich schwer hüten, etwas zu unternehmen, aber Lossew, dem sein Judaslohn entgangen ist, könnte allerlei Klatschgeschichten aufbringen. Was meinst du?«

Kirill Kirillowitsch dachte an Kaljabins Rat; sein Freund, der ja bereits mit der Sache verknüpft war, mußte ihm beistehen.

»Man könnte dem Mann den Mund schließen …«

»Wie?«

»Da du mir so weit geholfen hast, so bring' die Sache nun auch zu Ende, wenn du mir einen Freundschaftsdienst erweisen willst.«

»Gott – sonst hätte ich ja nicht dir das Paket gebracht, sondern es einfach dem Untersuchungsrichter übergeben.«

»Ich kann das nicht irgend jemand überlassen und kann auch nicht gut selbst zu Lossew gehen.«

»Und da willst du, daß ich es tue?«

»Ja, wenn es dir nicht unangenehm ist.«

»Na, angenehm ist es ja nicht, aber ich will es tun.«

Kirill Kirillowitsch übergab seinem Freunde dreitausend Rubel und lud ihn zum Tee ein. Bolotow lehnte ab. Der Ingenieur begleitete ihn zur Tür; sie schieden mit einem stummen Händedruck.

Kirill Kirillowitsch kehrte ins Speisezimmer zurück und sagte, gleichsam als wollte er den Freund entschuldigen:

»Bolotow hatte geschäftlich mit mir zu sprechen … Es handelte sich wieder um diesen Rothaarigen.«

Der kleinen Fenja wurde unheimlich zu Mute. Antonina Kirillowna fragte:

»Und was weiter?«

»Der alte Klimow hat aus Eifersucht auf seinen Geschäftsführer seine Frau erwürgt und ist darauf selbst zusammengebrochen – Schlaganfall.«

Als Kirill Kirillowitsch den Bericht des Arztes wiederholte, spürte er plötzlich, daß bei dem traurigen Vorfall auch die beabsichtigte Brandstiftung eine Rolle gespielt haben mußte, ja das Verschwinden des Wechsels den Schlaganfall vielleicht herbeigeführt hatte … Antonina Kirillowna aber dachte an Nikolkas Freund, den rothaarigen Mönch … Also der steckte dahinter …

»Wie entsetzlich, Kirill, die arme Maschenka …«

Die kleine Fenja blickte ganz verstört drein.

»Geh schlafen, Kind. Morgen mußt du früh aufstehen.«

Fenja begann plötzlich, Mutter und Onkel inständig zu bitten, sie morgen unbedingt auf den Bahnhof zu begleiten.

Kirill Kirillowitsch ging in sein Arbeitszimmer, schritt auf und ab, die Pfeife im Munde; seine Lippen zuckten. Er würde sich morgen früh bei Bolotow erkundigen müssen, wie die Sache mit Lossew abgelaufen war. Wenn die Angelegenheit ruchbar und sein Name in den Kriminalfall mit hineingezogen wurde, könnte das seinem Ansehen Abbruch tun und seinen Kredit im Crédit Lyonnais erschüttern … Gleich morgen früh mußte er Bolotow aufsuchen. Er trat an den Schreibtisch, öffnete ihn, bemerkte ein Häufchen Fünfhundertrubelscheine, die die zum Zahlungstermin vorbereitete Summe hatten auffüllen sollen, und dachte: Vom Himmel gefallenes Geld … Davon mußte er der kleinen Fenja etwas abgeben, dann würde sie Geld haben, von dem ihre Mutter nichts wußte, und konnte sich einen vergnügten Tag machen.

Er klopfte an ihre Tür.

»Schläfst du schon, Fenitschka?«

»Ich ziehe mich aus, Onkel Kirja.«

»Ich wollte mich von dir verabschieden … Hatte vergessen, daß ich morgen früh in einer dringenden Angelegenheit in die Stadt muß.«

»Gleich …«

Er hörte das Rascheln ihres seidenen Kimonos.

»Also jetzt darf ich hinein?«

Wie in der vorigen Nacht küßte er sie herzhaft auf die Lippen.

»Wie fest Sie einen küssen, Onkel Kirja …«

»Hier hast du Geld, Mädel, kannst es ausgeben, wofür du willst, es ist ja wie vom Himmel herabgefallen! Wenn es zur Neige geht, schreibe, aber so, daß Mutter nichts merkt; schreibe, du hättest kein Geld fürs Theater. Ich schicke dir dann mehr …«

Viel zu früh erwachte die kleine Fenja und konnte nicht wieder einschlafen. Sie dachte an Petrowskij, und aufs neue kam ihr der Rothaarige in den Sinn – auf ihrer Hand saß sein Kuß noch immer wie eine Flechte. Auch auf dem Bahnhof konnte sie sich nicht beruhigen, zerbrach sich den Kopf darüber, wo sie ihn gesehen haben mochte. Als sie auf dem Bahnsteig von ihrer Mutter Abschied nahm, fragte sie unruhig:

»Mama, wer ist dieser Rothaarige? Ich quäle mich ab, komme aber nicht darauf, wo ich ihn gesehen habe …«

Die Mutter antwortete, auch ein wenig beunruhigt, während sie ihre Tochter auf die Wangen küßte:

»Er ist doch der Freund … jenes … Der rothaarige Mönch, Vater Afanaßij …«

Gleichsam erfreut darüber, daß sie endlich Bescheid wußte und nun den rothaarigen Mönch deutlich vor sich sah, der an der Mühle nach ihren Händen gehascht und nun ihre Hand auch geküßt hatte, rief sie aus:

»Ah, ich erinnere mich!«

 


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