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5

Gleichzeitig mit Afonka rollten Geheimboten mit und ohne Gepäck in die Städte, die dürftigen Blockhäuschen, auf die qualmenden Fabriken und nach dem Kriegsschauplatz und streuten oder teilten Flugblätter aus. Zusammen mit den Heiligenbildern, die in ganzen Wagenladungen an das allerchristlichste Heer geschickt wurden, zusammen mit Gebet- und Gesangbüchern rollte die Woge des Aufstandes durch das Land. In Kneipen und Schenken, in den Zügen und auf den Straßen steckten die Menschen, die immer auf alles lüstern sind, was nur im Flüsterton gesagt werden darf, tuschelnd die Köpfe zusammen, teilten das Vernommene vertraulich ihren Freunden mit, die ehrenwörtlich Schweigen geloben mußten, und die Einzelzellen und Sammelzellen der Gefängnisse füllten sich mit Sträflingen und zum Tode Verurteilten.

Afonka ging nach seiner Ankunft geradeswegs nach der Vorstadt Penji, mietete sich auf acht Tage ein Zimmer, suchte die Leute auf, an die er Aufträge hatte, ging auch in Drakins Fabrik, wo der Zufall ihm den Ingenieur selbst in den Weg führte. So mußte denn Afonka grüßen, Drakin aber trat auf ihn zu und lud ihn zu sich ein.

Afonka wurde zu Tisch gebeten, in gastfreundschaftlicher Weise bewirtet und mußte Fenjas kurzen brieflichen Bericht über die Vorfälle am 9. Januar ausführlich ergänzen und tausend Fragen ihrer Mutter beantworten: Wo er sie getroffen habe, wie die Ereignisse sich abgespielt hatten, ob seine Schulter nicht noch schmerze; gern würde man ihm helfen, sich einer ordentlichen Kur zu unterziehen. Marja Karpowna und der alte Klimow wurden hingegen gar nicht erwähnt – als hätte es ›das‹ gar nicht gegeben, dachte Afonka bei sich. Als er sich verabschiedete, bat Antonina Kirillowna, er möge doch vor seiner Abreise noch einmal vorsprechen und ein Paket an ihre Tochter mitnehmen. Der Ingenieur seinerseits bat Afonka in sein Arbeitszimmer und wollte ihm ein Päckchen Hunderter in die Hand drücken. Afonka aber dachte bei sich: Warten wir bis zum Herbst, wenn deine Arbeiter losschlagen; wieviel wirst du mir wohl dann geben? und lehnte ab.

Als er die Briefe an die Zentrale zusammengebracht und auch die übrigen Parteiaufträge erledigt hatte, litt es ihn nicht länger in der Stadt: er wollte die kleine Fenja wiedersehen, wollte in ihrem Zimmer unter vier Augen mit ihr sprechen! So holte er denn das Paket mit allerlei Leckerbissen von Antonina Kirillowna ab und nahm sich, um schneller nach Petersburg zu kommen, eine Platzkarte im Eilzug. Den ganzen Weg über lag er auf der oberen Pritsche und starrte das Paket an.

In Ljuban, kurz vor Petersburg, stieg ein Herr in steifem Hut ein und setzte sich auf den Eckplatz am Fenster; er hatte keine Fahrkarte und der Schaffner geriet mit ihm in eine Auseinandersetzung. Afonka erwachte. Der Kellner aus dem Speisewagen bot Tee und Kaffee an; Kaljabin hatte Durst, kletterte herunter und ließ sich ein Glas Tee geben. Der Mann im steifen Hut warf ihm einen flüchtigen Blick zu, lächelte ohne sichtlichen Grund und begann, ohne sich an jemand im besonderen zu wenden, als richte er seine Worte an alle Mitreisenden in dem Abteil, über die Verhältnisse im Lande zu wettern …

»Stellen Sie sich vor, ich habe es eilig, muß pünktlich im Büro erscheinen, wenn ich meine Stelle nicht verlieren will, und da heißt es plötzlich, der Zug sei besetzt, es würden keine Fahrkarten mehr ausgegeben. Ich mußte also hier einem und da einem was in die Hand drücken, und so bin ich denn mitgekommen. Wäre so etwas im Auslande überhaupt denkbar! … Ach diese Zustände! … Das war natürlich nur eine Kleinigkeit, aber so ist's ja in allem. Da halte ich mir eine Zeitung, mein Chef aber erkundigt sich, weshalb ich mich mit Politik befasse? Ja, aber erlauben Sie, meine Herrschaften, wie soll man sich nicht mit Politik befassen, wenn es an der Front weiß der Teufel wie zugeht! Wozu, frage ich, wozu war dieser Krieg mit Japan nötig, können Sie mir das sagen, meine Herrschaften?!«

Er sah Afonka wieder an, lächelte und fragte, diesmal an Kaljabin gewandt:

»Stimmt das, Genosse?«

»Feste …«

Das Wörtchen genügte; der steife Hut griff es auf und setzte sich zu Afonka, als freue er sich, einen Gesinnungsgenossen getroffen zu haben. Im weiteren sprach er halblaut, ja flüsterte Afonka seine Worte zuweilen ins Ohr.

»Ich möchte Ihnen da einen Fall erzählen, Genosse, nichts von Belang, aber immerhin … Ich habe einen Vetter, er ist als Freiwilliger in den Krieg gezogen, dem sandte ich ein Päckchen: Strümpfe und warme Leibwäsche …« Er flüsterte Afonka ins Ohr: »Sie leiden ja dort an allem Mangel; alles, was die Heeresleitung von hier aus hinschickt, kommt unterwegs abhanden, in Alexandrowsk können Sie's zu halben Preisen aufkaufen.« Halblaut fuhr er fort: »Also ein Päckchen sandte ich ihm, und dafür bin ich fast aus dem Amt geflogen, bei Gott! …«

»Wieso? …«

Der steife Hut blinzelte Afonka zu und sah sich scheu um, ob niemand gemerkt habe, daß er einem Arbeiter zugeblinzelt hatte; vertrauensvoll, als könne er sich nunmehr auf Afonka verlassen, fuhr er fort:

»Ich hatte nämlich ein paar Zeitungen dazwischengesteckt, nicht viele, vielleicht zehn Blätter, von jenen, die im Auslande erscheinen, Sie wissen ja, in Genf … Na sehen Sie, ich hatte mir gleich gedacht, daß Sie da bewandert sind! Und darum, stellen Sie sich vor, wäre es fast aus mit mir gewesen … Zum Glück hat unser Chef ein gutes Herz, er liest diese Blättchen nämlich auch gern, sonst wäre es mir schlimm ergangen …«

Nach einer kleinen Pause fragte er, als wäre ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, im Flüsterton:

»Sagen Sie, Genosse, haben Sie nicht zufällig ein neues Blättchen bei sich?«

Afonka blickte ihn mit gefurchten Brauen mißtrauisch an, lauschte jedoch gespannt auf sein vertrauliches Geflüster. Jedes Mißtrauen aber schwand, als der Mann nun sagte:

»Haben Sie denn alles abgeliefert und nichts zur eigenen Erbauung zurückgelassen? Es ist ja wohl bald schon vierzehn Tage her, daß Sie mit Ihrem Auftrag abreisten. Der ›Schuster‹ hatte Sie begleitet, das tut er immer. Aber lassen Sie doch Ihre Zweifel, Sie sehen ja, daß ich mit dazugehöre.«

Afonka antwortete treuherzig:

»Ich habe alles verteilt.«

»Und nun kehren Sie zurück, um Bericht zu erstatten?«

Die beiden plauderten freundschaftlich, bis der Mann im steifen Hut kurz vor Petersburg verschwand. Kaum hatte er den Wagen verlassen, als jemand von den Mitreisenden sagte:

»Das war ein Spitzel. Worüber haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ach, über nichts von Belang.«

»Seien Sie auf der Hut … Er schnüffelt immer zwischen Ljuban und Petersburg. Ist als Spitzel bekannt.«

Afonka griff sich an den Kopf, aber es war zu spät.

 

Afonka ging in seine alte Wohnung; in einiger Entfernung folgte ihm der steife Hut und fragte den Hausknecht nach Namen und Beschäftigung des Rothaarigen und der Fabrik, in der er arbeitete.

Afonka war indessen zu der kleinen Fenja gegangen; weil der Spitzel gerade mit dem Hausknecht sprach, hatte er Kaljabin nicht fortgehen sehen. Dieser dachte gar nicht mehr an ihn, war nur ärgerlich über die eigene Unvorsichtigkeit. Unterwegs hatte er immer an die kleine Fenja denken müssen, an seine bevorstehende Begegnung mit ihr unter vier Augen, und sich besorgt gesagt, daß Petrowskij ihn gewiß wieder fortschicken würde; zweifellos war der Auftrag auch dieses Mal nicht ohne Petrowskijs Einmischung zustandegekommen.

Er klingelte. Fenja selbst öffnete; sie prallte bei seinem Anblick zurück.

»Was wünschen Sie, Kaljabin?«

»Ich bringe Ihnen ein Paket von Ihrem Mütterchen, Fjokla Timofejewna.«

»Schon zurück?«

»Jawohl, Fjokla Timofejewna.«

In ihrer Verwirrung ließ sie ihn in ihr Zimmer eintreten. Er zog den Mantel aus, hängte seine Mütze an den Haken und setzte sich auf den Diwan, auf denselben, auf dem Nikodim sie umarmt hatte. Afonka saß klobig da; der Kopf rauchte ihm. Er hatte beschlossen, ihr reinen Wein einzuschenken, ihr zum ersten Male alles zu gestehen, und wußte nicht, wie er beginnen sollte. Vielleicht würde sich niemals wieder eine so günstige Gelegenheit bieten; er mußte es wagen.

»Da bin ich also wieder. Sie haben wohl nicht erwartet, mich so bald wiederzusehen?«

»Nein, das habe ich nicht erwartet.«

»Sie hatten gemeint, ich sei auf lange Zeit fortgesandt, das hat Ihnen Genosse Petrowskij wohl gesagt?«

Die kleine Fenja noch immer verstört, antwortete wahrheitsgemäß:

»Ja«

Ihre durch die Überrumpelung erzielte Aufrichtigkeit steigerte noch Afonkas Wut auf Petrowskij. Langsam sagte er:

»Er wollte sich meiner entledigen; warum nur? Es lag doch gar kein Grund vor. Waren Sie es am Ende, die ihn darum gebeten hat, oder hat er sich das allein ausgedacht?«

Er hob rasch den Blick; sie war erblaßt und suchte sich zu fassen. Um nicht wieder eine Ungeschicklichkeit zu sagen, schwieg sie. Ob sie ihm nun in ihrer Verwirrung leid tat oder ob er fürchtete, sie könnte, so bald sie sich gesammelt hatte, ihn hinausweisen, ohne ihn angehört zu haben – jedenfalls machte er ein paar schnelle Atemzüge und begann hastig zu sprechen, mit jedem seiner Worte immer mehr vergessend, daß Petrowskij ihr nahstand und Nikolka nahgestanden hatte; vielleicht aber hatte er sich auch nur darum zum Sprechen entschlossen, weil er wußte, daß er Vorläufer gehabt hatte.

»Noch vom Kloster her muß ich immer an Sie denken, das ist's. Ich kann Sie nicht vergessen seit jenem Tage, da wir an den Balken bei der Mühle standen und ich Ihre Hände festhalten wollte. Erinnern Sie sich noch daran? Oder haben Sie es vergessen? …«

Aufs neue aus der Fassung gebracht, sah die kleine Fenja ihn erschrocken an und machte vor Angst sogar eine hilflose Bewegung mit den Händen, die sie stumm ausbreitete.

»Man hat Ihnen erzählt, ich sei nach einem Bienenschwarme auf eine Fichte gestiegen … Wissen Sie, wer mir die Nase zertrümmert hat? … Nikolai. Mit einer Flasche. Wir hatten um Sie gelost, das Los hatte Sie mir zugesprochen, da warf er mir eine Flasche ins Gesicht. Als er in die Stadt zog, um Sie zu heiraten, litt es mich nicht länger im Kloster … Schon damals, an der Mühle, hatten Sie mein Inneres durchdrungen, durch und durch. Da kam mir die Klimowa gelegen. Nicht sie hat sich an mich, ich habe mich an sie herangemacht, damit sie mich zu sich in die Stadt kommen ließe; so war ich doch in Ihrer Nähe, hörte zuweilen ein Wort über Sie! Dann kam die Sache mit dem Wechsel. Als ob ich es je zulassen würde, daß man Sie an den Bettelstab bringt! Nie! Den alten Klimow habe ich dafür so gründlich reingelegt, daß ihm Hören und Sehen vergangen ist. Und mit Marja Karpowna habe ich nur um Ihretwillen gelebt, Fenitschka …«

Die kleine Fenja starrte ihn stumm und entgeistert an. Ihr war, als stände ihr Herz still. Sie wagte nicht, den Blick von ihm zu wenden, wartete angstgewürgt, was er noch sagen, was tun würde.

»Auch nach Petersburg bin ich Ihnen nachgereist, als meinem Leitstern. Sie sind ja mein Stern von Bethlehem, Fenitschka: wohin Sie gehen, dahin gehe ich auch. Und mein Bethlehem, mein gelobtes Land, meine Kaiserstadt ist – gleichviel ob es ein armseliges Dorf, ein dürftiges Städtchen oder die Hauptstadt selbst sein mag – der Ort, an dem Sie weilen! Um Ihretwillen bin ich auch in die Partei eingetreten, hatte ich doch bemerkt, daß Sie mit Nikodim Alexandrowitsch befreundet waren. Darum suchte ich einen ganzen Monat lang nach ihm in Schenken und Wirtshäusern. Die ganze Wassilij-Insel habe ich durchstöbert, darauf machte ich mich an die Petersburger Vorstadt und fand ihn schließlich. Nachher zwar, als ich sah, daß diese Menschen für das Wohl des Volkes kämpfen, habe ich mich ihnen ehrlich angeschlossen, zuerst aber hatte ich dabei nur Sie im Auge. Durch den Genossen Petrowskij hoffte ich auch Ihnen näher zu kommen … Ich bin nicht Nikolka, Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich Sie durch Hinterlist zu gewinnen suche. Im Kloster hätte ich Sie vielleicht unter irgendeinem Vorwand in den Wald gelockt; jetzt aber bin ich ein anderer geworden, bin durch Feuer und Wasser gegangen und weiß sehr wohl, daß ich nichts davon hätte, wenn Sie keine Liebe zu mir empfinden. Aber wo Sie sind, da bin ich auch; es ist mein Schicksal, immer um Sie zu sein, Fenitschka … Sie sehen ganz verstört aus, Fenitschka, warum nur? Bin ich denn hergekommen, um Sie an die Kehle zu packen, bis Sie gefügig sind? … Nein, ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, was ich für Sie fühle; ich konnte es nicht länger stumm in mir tragen. Und da hat mir der Zufall geholfen – das Päckchen. Als Ihr Mütterchen mir sagte, sie wolle mir ein Päckchen an Sie mitgeben, habe ich mich gleich auf den Weg gemacht … Sagen Sie das aber nicht dem Genossen Petrowskij. Es ist Schicksal, Fenitschka, das weiß ich, was Sie auch dagegen einwenden mögen. Es ist Schicksal, daß ich wieder zurückkehren durfte und jetzt vor Ihnen stehe; es ist Schicksal, daß ich Ihnen Ihr Vermögen retten durfte; und es ist Schicksal und nochmals Schicksal, was am 9. Januar geschah. Ich bin für Sie nichts als ein rothaariger Unhold; Sie starren mich an wie einen Straßenräuber und denken: Wenn er in diesem Zimmer es ebenso mit mir macht wie Nikolka damals im Walde, so kann ich nicht einmal schreien … Stimmt's, Fenitschka? … Und Sie haben mir nichts zu sagen? … Nichts, gar nichts? … Ich habe es Ihnen jetzt gestanden, bin zu Ihnen gekommen, habe mich anbetend vor Ihnen verneigt, vor meinem Stern von Bethlehem, wie die Könige aus dem Morgenlande. Bis an den Tod werde ich Ihres Kusses gedenken, Fenitschka!«

So vieles hatte er ihr sagen wollen, als er aber dann sprach, waren all die schönen Worte entschwunden, spurlos entwichen. Zusammenhängend und gefällig hatte er reden wollen, es war aber alles abgerissen und kunterbunt herausgekommen. Er hatte geendet, starrte auf seine Nasenspitze und wartete; vielleicht würde sie ihm doch etwas sagen! Schweigend saßen sie eine Weile einander gegenüber. Doch es war umsonst; nicht das kleinste Wörtchen sagte ihm Fenja! Er stand auf.

»Also gar nichts haben Sie mir zu sagen?«

Sie saß noch immer reglos da; vielleicht überlegte sie, vielleicht wartete sie, was er unternehmen würde. Es geschah nichts. Afonka hatte sich erhoben, setzte schweigend die Mütze auf, zog den Mantel an, den er offen ließ, und sagte erst, als er schon in der Tür stand:

»Trotzdem – ich werde Ihnen überall hin folgen; wo Sie sind, da bin ich auch. Wir sind Schicksalsgenossen; denken Sie daran. Und falls Sie Nikodim Alexandrowitsch vor mir sehen sollten, sagen Sie ihm, daß ich ihn in einer dringenden Angelegenheit sprechen muß …«

Als Afonka nach Hause zurückkehrte, wartete der steife Hut auf ihn vor der Pforte.

»Ah, Afanaßij Timofejewitsch, da sind Sie ja! Darf ich zu Ihnen hinauf? Ich möchte gar zu gern ein paar ausländische Zeitungen lesen; habe darum sogar meinen Dienst geschwänzt. Zu Hause haben Sie doch gewiß welche?«

»Ich will mal nachsehen, kommen Sie.«

Er führte ihn die Hintertreppe hinauf und streckte auf dem Treppenabsatz dem Manne seine riesige Faust unter die Nase, so daß dessen kleine Äuglein verschwanden.

»Paß du mir auf, Lump! Wenn du mir noch einmal in den Weg trittst, so denke an dies …«

Damit packte er ihn am Kragen; der steife Hut flog, Purzelbäume schlagend, die Treppe hinab, und sein Besitzer folgte ihm ebenso eilig.

 

Am Abend saß Afonka ruhig in der Bierhalle, als wäre nichts vorgefallen, als wäre er weder bei der kleinen Fenja gewesen, noch mit dem Spitzel zusammengekommen.

Petrowskij trat ein, wütend.

»Warum sind Sie zurückgekommen? … Guten Tag.«

»Ich hatte da nichts weiter zu tun, Nikodim Alexandrowitsch; alle Ihre Aufträge habe ich erledigt. Bloß eine Stelle habe ich nicht gefunden, ehrlich gesagt, gar nicht gesucht. Sie werden fragen, warum nicht? Weil ich meine Gründe dazu hatte.«

»Haben Sie die Briefe mitgebracht?«

»Da sind sie. Ich habe alle Aufträge erfüllt, wie ich Ihnen bereits sagte.«

Zufällig wandte Afonka den Kopf und zuckte so heftig zusammen, daß Petrowskij es bemerkte. Verstohlen wies Kaljabin auf einen Mann in steifem Hut hinter dem Fenster und erzählte Petrowskij von ihm; er schloß:

»Von diesem Spitzel wollte ich Ihnen gerade berichten. Übrigens habe ich ihn in den dunklen Hausflur gelockt, als er mir vor meiner Wohnung auflauerte, und ihn kopfüber die Treppe hinuntergeworfen.«

»Tut nichts; deshalb kann er nichts unternehmen. Damit er uns hier aber nicht immer auflauert, müssen wir das Lokal wechseln. Trinken Sie Ihr Bier aus und gehen Sie nach Hause. Ich nehme ihn auf mich; er wird mir folgen, und ich werde ihn in die Irre führen.«

Petrowskij sprach barsch. Er war bei der kleinen Fenja gewesen, und sie hatte sich, Tränen in den Augen, verstört an ihn gewandt:

»Er ist wieder da, war hier, hier bei mir, der Rothaarige! …«

»Was für ein Rothaariger? … Kaljabin?«

»Er ist zurückgekehrt und hat mir ein Paket von Hause gebracht.«

Von Kaljabins Eröffnungen hatte sie Petrowskij kein Wort erzählt, sondern ihm die Hände auf die Brust gelegt und mit matter Stimme geäußert:

»Wieder ist er da … Wenn ich mich vor ihm nur irgendwo verbergen könnte! Ich weiß selbst nicht warum, aber ich habe Angst vor ihm, er verfolgt mich. Ich würde nach Hause fahren, aber ich fürchte, er folgt mir auch dahin.«

Aus ihren versteckten Anspielungen sprach immer wieder ihre ungeheure Angst vor Kaljabin. Petrowskij hatte ihr verständnislos zugehört und sich wieder gesagt, daß etwas Beunruhigendes zwischen ihr und Kaljabin vorgefallen sein müsse. Und als sie ihm mitgeteilt hatte, daß Kaljabin ihn in einer dringenden Angelegenheit sprechen wolle, hatte sich Petrowskij noch mehr über Afonka geärgert, der sich über seinen Befehl hinweggesetzt hatte und nun auch eine Zusammenkunft mit ihm gleichsam forderte. Er hatte darum beschlossen, Kaljabin gründlich die Wahrheit zu sagen, als der Spitzel dazwischentrat, der zuerst erledigt werden mußte.

Petrowskij verließ die Bierhalle, gefolgt von dem Manne im steifen Hut, und führte ihn durch abgelegene Gassen und Höfe mit zwei Ausgängen, bis der Spitzel schließlich seine Spur verlor. Um sicherzugehen, kehrte Petrowskij wieder in die Bierstube zurück, setzte sich ans Fenster und lugte auf die gegenüberliegende Straßenseite, ob der Spitzel wohl wieder auftauchen würde. Nach einer Stunde vergeblichen Wartens stand Petrowskij auf und ging zu Fenja.

Sie fragte unruhig hinter der geschlossenen Tür:

»Wer ist da?«

»Mach' auf, Fenja, ich bin es.«

»Ich bin so unruhig; ich fürchte immer, er könnte wiederkommen. Er wäre imstande dazu.«

»Das glaube ich auch, daß er dazu imstande wäre. Er ist auf der Reise einem Spitzel in die Hände gefallen. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt mit Kaljabin machen soll. Ich werde ihn irgendwohin senden müssen.«

»Er wird sich nicht fortschicken lassen.«

»Wieso? Hat er dir das gesagt?«

»Ich weiß nichts Genaues, denke aber, daß er aus Petersburg nicht fort will.«

Den ganzen Abend über herrschte zwischen den beiden eine nervöse Stimmung, was in ihrer stoßweisen Unterhaltung zum Ausdruck kam. Allmählich jedoch wich die Spannung; sie saßen eine Weile schweigend da.

»Komm her zu mir, Nikodim. Setz' dich neben mich.«

Er setzte sich zu ihr auf den Diwan, sie liebkoste ihn mit mütterlicher Zärtlichkeit, wurde still und ruhig. Sie streichelte ihm stumm das Haar und antwortete leise auf seine Küsse. Schließlich fragte sie:

»Hast du heute etwas gegessen?«

Bei ihrer Frage wurde ihm vor Hunger übel; er schluckte mehrere Male den Speichel hinunter. Während des letzten Monats hatte er weder Nachhilfestunden noch Korrekturarbeit finden können, ja oft das Kolleg versäumt, weil es ihm an Fahrgeld mangelte. So manchen Tag hatte er sich allein von Tee genährt, dabei alle seine Kräfte der Parteiarbeit gewidmet: zum Herbst mußte alles vorbereitet sein. Selbst bei der kleinen Fenja ließ er sich jetzt nur selten blicken. Heute hatte ihn die Sache mit Kaljabin ihr wieder nähergebracht, und wenn er sie nicht aufs neue nach ihrer Vergangenheit gefragt hätte, hätte sich ihr Schicksal an diesem Abend wohl entschieden. Sie fühlte sich anlehnungsbedürftig, schmiegte sich an ihn und war zärtlich besorgt um ihn.

»Nein, ich habe nichts gegessen.«

»Warte, gleich … Daß er das Paket gebracht hat, macht doch nichts aus, nicht wahr? Ich will auch von den guten Dingen essen, die Mutter mir wohl geschickt hat … Mach' mal auf und laß uns nachsehen, was darin steckt.«

Bisher hatte sie ihn nie danach gefragt, woher er die Mittel zum Leben nahm. Jetzt, da er ihr immer teurer und vertrauter wurde, machte sie sich plötzlich Gedanken darüber, wie wir denn überhaupt geneigt sind, uns um das leibliche Wohl und Wehe uns Nahestehender Sorgen zu machen.

»Wovon lebst du eigentlich? Allein von Nachhilfestunden?«

»Ich will darüber nicht sprechen. Du siehst, ich lebe.«

Sie nahm sich die schroffe Antwort nicht zu Herzen. Nachdem sie gegessen hatten, trat sie auf ihn zu und sagte zärtlich:

»Tu mir nicht weh, antworte auf meine Frage vorhin.«

»Sagst du mir denn etwas über dein Leben? Weshalb sollte ich über mein Leben sprechen?«

»Frage ich dich denn danach, wonach du mich fragst …«

»Das ist einerlei, Fenja.«

»Nein, das ist nicht einerlei, das weißt du selbst sehr wohl. Also sprich, sage mir die Wahrheit. Einmal werde auch ich alles sagen, was zu sagen ist; es muß aber von selbst kommen. Es war schon einmal so, daß ich es hätte sagen können, und auch ein zweites Mal war ich nahe daran; du hast es aber nicht gespürt.«

»Sage mir, wann war das?«

»Ich weiß es eben nicht, aber es war so. Siehst du, ich sage dir alles, du aber sperrst dich.«

So gestand er ihr denn, daß er ein Hungerleben führe, sich zuweilen mit fünf Kopeken am Tage begnügen und den Gürtel enger schnallen müsse, um das schwindelerregende Hungergefühl weniger zu spüren. Die kleine Fenja hatte ihm schweigend zugehört; plötzlich belebten sich ihre Züge, als wäre ihr ein rettender Gedanke gekommen. Als Petrowskij einen Augenblick ins Vorzimmer ging, um aus der Manteltasche die Tabakreste zusammenzukratzen, die aus trockenen Zigaretten gefallen waren, holte sie schnell das Geldpäckchen hervor, das Onkel Kirja ihr für Vergnügungen mitgegeben hatte, und entnahm ihm mehrere Scheine, die sie in die Tasche seines Studentenkittels steckte, den er, wie unter Kameraden üblich, abgelegt hatte, da er sich in seinem Blusenhemd freier fühlte. Mit schuldbewußter Miene setzte sie sich wieder auf den Diwan und sah verschmitzt zu, wie er, ins Zimmer zurückgekehrt, sich aus den Tabakskrümeln eine Zigarette drehte …

Am nächsten Morgen kam er in aller Frühe zu ihr geeilt.

»Nimm das Geld zurück! Ich kann das nicht annehmen, auf keinen Fall.«

»Liebst du mich?«

»Ja, ich liebe dich, aber Geld kann ich von dir nicht annehmen, was du auch sagen magst.«

»Ich nehme es aber nicht zurück. Zerreiß es, wenn du willst!«

Wie ein kleines Mädchen lief sie auf ihn zu, schnappte ihm die Scheine aus der Hand, zerriß sie aber nicht, sondern ließ sie unter Lachen und Küssen hinter den Kragen seines Blusenhemdes gleiten.

Ihr kindliches Gebaren entwaffnete ihn; er ließ es dabei. Seitdem steckte sie ihm von Zeit zu Zeit heimlich Geld bald in den Mantel, bald in den Rock. Vor Verlegenheit errötend, machte er ihr Vorstellungen:

»Schon wieder, Fenja? Warum tust du das?! …«

Das brachte sie einander wieder näher, ließ zwischen ihnen eine kameradschaftliche Herzlichkeit aufkommen, die vor unliebsamen Fragen zurückschreckte. Die kleine Fenja war in dieser Zeit beständig in großer Aufregung um ihn, da er sich ganz der Parteiarbeit hingab und zuweilen vier, fünf Tage lang keine Zeit hatte, zu ihr zu kommen. Dann eilte sie wohl selbst am Abend zu ihm, sich scheu nach den Schatten der Leute auf der Straße umblickend – ob er, der Rothaarige, sie nicht verfolge … Auch in die Hochschule eilte sie im Sturmschritt, und statt des vergnügten Lebens, von dem sie bei ihrer Abreise nach Petersburg geträumt hatte, führte sie ein gehetztes Dasein zwischen Hoffnung und Furcht. Doch einmal mußte ja der Augenblick kommen, da ihre gegenseitige Liebe alle Hemmungen überwand; dann würde alles eitel Sonnenschein sein und ihr Leben ganz und für immer dem Geliebten gehören. Petrowskij sprach indessen mit immer größerem Ungestüm von der bevorstehenden Revolution, vom Kriege, von der Partei. Ihm blieb kein Augenblick für sich selbst; sein Gefühl zu ihr drängte er zurück.

Zu den Sommerferien fuhr die kleine Fenja allein nach Hause; Petrowskij konnte nicht abkommen, ja am Tage ihrer Abreise sie nicht einmal an die Bahn begleiten. Obwohl sie sich dadurch verletzt fühlte, eilte Fenja beim Vorüberfahren doch zu ihm hinauf, traf ihn aber nicht zu Hause an und steckte den Rest des Geldes von Onkel Kirja in seinen Korb. Auf den Umschlag hatte sie in aller Eile mit Bleistift geschrieben: »Du dummer Junge!« – vielleicht darum, weil ihr diese Worte von jenem Abend her im Gedächtnis haften geblieben waren. Als sie die Aufschrift betrachtete, rührten sie diese Worte irgendwie, sie lächelte zärtlich und träumerisch, und die Hoffnung auf die Zukunft malte alles in rosigem Licht; ganz froh wurde ihr ums Herz. Als sie im Zuge den Träger entlohnte, sagte sie laut vor sich hin: »Du dummer Junge, du dummer Junge!« Der Mann starrte sie wortlos an. Da erst erwachte sie aus ihrer Verträumtheit und lachte fröhlich auf, als hätte das Glück sie im Hauch dieser Worte gestreift.

 


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