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3

Jeden Tag traf jemand ein. Zuerst erschien die Geistlichkeit von der Kathedrale mit ihren Familien. Der Archidiakonus Smolenskij half dem Herbergsvater sie unterbringen, und Vater Iona suchte das Wohlwollen des Archidiakonus zu erwerben. Smolenskijs junge Frau aber war mit allem unzufrieden und schickte den bedienenden Novizen täglich nach Gemüse, nach Milch und Butter auf den Viehhof.

»Sie wissen ja, Vater, wie schwer es mein Pjotr Iwanowitsch hat; den ganzen Tag ist er auf den Beinen, und wenn er müde und hungrig heimkommt, ist nichts zu essen da. Also bitten Sie schon die Mütter auf dem Viehhof …«

Zu jedem Zuge wurden drei große Wagen gesandt, die immer vollbesetzt zurückkehrten. Vater Iona dienerte, suchte herauszubringen, wen er vor sich habe; berief sich der Gast auf den Gouverneur, so führte er ihn selbst in das obere Stockwerk der neuen Herberge.

Als die meisten Zimmer belegt waren, aber immer noch Gäste aus der Stadt eintrafen, erstanden Schwierigkeiten und Mißverständnisse.

Eine junge Dame von zurückhaltendem Wesen, in blauem Straßenanzug, mit glatter, die Ohren halb verhüllender Frisur, einem blauen englischen Hut mit breiten Rändern und Bändern, und ein junges Mädchen in durchsichtigem Sommerkleid, mit dunklen, aufglimmenden Augen, dunkelbraunem Haar, auf dessen breiten Ringeln ein Goldschimmer lag, stiegen mit anderen Ankömmlingen eines Tages aus dem Wagen und warteten darauf, daß der Herbergsvater ihnen ein Zimmer anwiese. Vater Iona brachte alle unter, doch die beiden abseits stehenden jungen Damen würdigte er keines Blicks. Sie setzten sich wartend auf die Bank neben dem Säuleneingang der alten Herberge.

»Warum weist man denn uns kein Zimmer an, Sinotschka? …«

Ein Novize trat vor die Tür, um sich ein bißchen zu verschnaufen.

»Vater, wann erhalten wir ein Zimmer?«

»Ich will es dem Herbergsvater gleich sagen. Kommen Sie aus der Stadt?«

»Nein, vom Lande.«

Der Novize eilte zu Vater Iona und meldete, zwei Damen vom Lande seien eingetroffen. Da sie vom Lande kamen, nahm Iona an, daß es gewöhnliche Pilgerinnen seien, und sagte dem Novizen, er möge ihnen in der alten Herberge das letzte Zimmer zuweisen, das gegenüber der bewußten knarrenden Tür mit dem baumelnden Ziegelstein lag; die Fenster blickten auf die Klostermauer, und dem Gang gegenüber stand der säuerlich riechende Waschtisch. Man führte die beiden Damen hin und vergaß ihre Anwesenheit.

 

Sinotschka, es ist ja grauenhaft hier … Dieser Geruch … Dieser Schmutz … Und Barmanskij hat uns doch gesagt, es sei hier wunderschön! Von neu instand gesetzten, sauberen Zimmern hat er gesprochen …«

Bis zum Abend saßen sie in ihrem Zimmer, drückten wiederholt auf die Klingel, aber niemand kam; in der alten Herberge war die elektrische Leitung niemals in Ordnung. Schließlich ging die junge Dame, Wera Alexejewna Kostizina, selbst in die Küche und bat um den Samowar. Ein Novize erklärte mürrisch, er habe keine Zeit, hoher Besuch sei da … Trotzdem brachte er nach einer Weile den Samowar.

Durch das Fenster, das sie geöffnet hatten, kauften die Damen von einer Bäuerin aus Polpenki Walderdbeeren. Mücken schwirrten summend herein, eine nach der anderen. Sie schlossen das Fenster, zündeten eine Kerze an, zogen sich aus und legten sich auf die harten Filzmatratzen.

Die Mücken ließen sie nicht schlafen, stachen sie in die entblößten Arme und Schultern. Lange warfen sie sich unruhig hin und her, und als die Müdigkeit sie schließlich überwältigte, zogen aus allen Spalten, aus allen Winkeln ausgehungerte, platte Wanzen heran und machten sich an die Arbeit, wobei sie nicht von den Füßen, sondern vom Kopf ihrer Opfer begannen. Sie krochen an die Zimmerdecke und plumpsten herab, auf die nackten Arme, die Brust, das Gesicht der Schlafenden und saugten sich fest, langsam anschwellend.

Die jungen Damen machten im Halbschlaf abwehrende Bewegungen, warfen sich von einer Seite auf die andere. Es war stickig heiß im Zimmer, sie streiften im Schlafe die Decke zurück, den Wanzen neue Angriffspunkte bietend. Schließlich wurde es zu arg, und sie erwachten. Wera Alexejewna fing etwas, und als sie, in der Meinung, es wäre eine Mücke, die Finger zusammendrückte, verspürte sie einen ekelerregenden Geruch …

Die ganze Nacht durch plagten sie sich ab. Wenn sie die Kerze anzündeten, verschwanden die Wanzen, sobald sie sich aber wieder hinlegten und das Licht auslöschten, setzte ein neuer Überfall ein. Sie machten Jagd auf die Angreifer, bis sie beide ganz erschöpft waren. Es wurde zur Mitternachtsmesse geläutet, und ein Novize lief glockenschwingend durch den Gang, rief an der Tür: »Zur Nachtmesse, zur Nachtmesse!«, eilte weiter, kehrte zurück: »Zur Nachtmesse, zur Nachtmesse! …«

Nach einigen Stunden erklang das Glöckchen wieder, und dieselbe Stimme rief: »Zur Frühmesse, zur Frühmesse!«

Die beiden jungen Damen schliefen noch immer nicht; sie wühlten in ihren Betten und weinten vor Verzweiflung.

Als es anfing hell zu werden, zogen sich die übriggebliebenen Wanzen gesättigt in ihre Schlupfwinkel zurück; Frau Kostizina und Sina sanken in todähnlichen Schlaf. Sie hörten nicht mehr das Glöckchen im Gang, noch die große Glocke, die zur zweiten Morgenmesse läutete. Ohne sich auch nur einmal umzudrehen, schliefen sie bis zur Mittagsmesse durch. Als sie schließlich erwachten, schmerzten ihnen alle Glieder, jede Bewegung tat weh. Sie zogen sich an. Ihre entzündeten Lider waren geschwollen.

»Ich fahre fort, Sina! Eine zweite ähnliche Nacht halte ich nicht aus.«

In der Küche schlug man ihre Bitte um einen Samowar unfreundlich ab; die Novizen warfen ihnen mürrische Blicke zu, einer sagte:

»Sie sind ja zu keiner Messe gegangen, darum erhalten Sie auch keinen Samowar.«

Empört, fast weinend vor Ärger, vor Schmerz, vor Hunger sagte Frau Kostizina:

»Kommen Sie, Sina, kaufen wir uns Weihbrot, Erdbeeren, um wenigstens etwas zu essen. Vielleicht geben sie uns auch nichts zu Mittag …«

Die Weihbrotbäckerei war bereits geschlossen, und die Bäuerinnen hatten alle Beeren verkauft. Als die beiden langsam zur Herberge zurückschritten, eilte der Archidiakonus Smolenskij an ihnen vorüber. Sie stürzten ihm nach, froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen.

»Vater Diakonus, was ist das mit den Mönchen hier, was stellen sie mit uns an?! Verzeihung, aber vor den vielen Wanzen haben wir die ganze Nacht nicht schlafen können. Und von dem Liegen auf den Brettern, über die nur eine Filzunterlage gedeckt ist, schmerzen uns alle Glieder. Nicht einmal Tee haben wir bekommen, weil wir nicht zu den Messen gegangen sind; nicht einmal ein Stück Brot konnten wir uns kaufen! Das alles ist doch unerhört! Beim Fürsten wurde uns gesagt, daß es hier wunderschön sei … Was sollen wir tun? Helfen Sie uns …«

Smolenskij lächelte betrübt und zugleich ermunternd.

»Unerhört! … Ich bringe gleich alles in Ordnung, offenbar liegt ein Mißverständnis vor. Verlieren Sie nicht den Mut, es ist hier wirklich wunderschön, allein schon der Wald, die herrliche Luft! Warten Sie einen Augenblick, ich renke sofort alles ein, es ist ein Mißverständnis, ein Mißverständnis …«

Fast laufend stürzte er zur Abtei; auf den Stufen traf er den Abt.

»Wissen Sie, daß Ihr Herbergsvater Frau Kostizina, die Gattin des Vorstehers der Gouverneurskanzlei, eine Freundin Seiner Eminenz, und ihre Begleiterin, Fräulein Belopolskaja, die Tochter des reichsten Gutsbesitzers unseres Gouvernements, in der alten Herberge, in diesem Wanzennest untergebracht hat! Die Damen haben die ganze Nacht nicht schlafen können, und da sie nicht zu den Messen gegangen sind, hat man ihnen weder zu essen noch zu trinken gegeben. Wissen Sie, was das für Folgen haben kann, nicht nur für Sie, sondern auch für mich, wenn sich die Damen bei Seiner Eminenz und Seiner Durchlaucht beschweren? Sehen Sie selbst zu, wie Sie die Sache wieder gutmachen, ich wasche meine Hände in Unschuld, ich habe Sie gewarnt.«

Nikolka zwinkerte verstört mit den Augen und eilte zu den Damen.

»Ein Mißverständnis, meine Damen, ein Versehen! Der Herbergsvater ist an allem schuld. Ich selbst will gleich nach dem Rechten sehen, Sie sollen keinen Grund zur Klage mehr haben.«

Finster trat Abt Gerwaßij in die Herberge und befahl einem Novizen, Vater Iona zu holen. Mit weicher, singender Stimme, in samtenem Bariton machte er dem Herbergsvater Vorstellungen:

»Wie kommst du nur dazu, Vater Iona, unsere vornehmsten Gäste in der alten Herberge unterzubringen und ihnen am Morgen nicht einmal Tee zu geben? Wie hat das nur geschehen können? Sorge sofort dafür, daß die Herrschaften ein schönes Zimmer in der neuen Herberge erhalten, sofort, Vater. Und nach dem Mittagsmahle kommst du zu mir in die Abtei; vergiß es nicht.«

Entschuldigend sagte er zu Frau Kostizina:

»Vater Iona ist ein großer Beter vor dem Herrn. Er hat Sie für Wallfahrer gehalten, und die Wallfahrer werden bei uns dazu angehalten, unsere Andachten zu besuchen. Seien Sie ihm nicht bös ob seines frommen Eifers!« Das vornehme Äußere der Damen veranlaßte ihn, an Vater Iona gewandt, hinzuzufügen: »Zur Bedienung schicke den Herrschaften den Novizen Boris, Vater.«

Während Nikolka ins Kloster zurückkehrte, um zum Mittagessen zu gehen, fiel ihm ein, daß er noch immer nicht Zeit gefunden hatte, Boris zu fragen, weshalb er Mönch werden wollte und was zwischen ihm und der kleinen Fenja vorgefallen sei.

Als Vater Iona nach dem Mittagessen zu ihm kam, fuhr Nikolka ihn wütend an:

»Du meinst wohl, du seist dazu Herbergsvater, um über mich und das Kloster Schmach und Schande zu bringen! …«

Wohl zwei Stunden lang redete er auf den alten Vater Iona ein, dessen Stirne schließlich über und über mit kleinen Schweißtröpfchen bedeckt war.

 

Je näher der Tag der Ankunft des Kirchenfürsten rückte, desto erregter wurde Vater Gerwaßij. Würde er auch den richtigen Ton treffen, würden die Empfangsfeierlichkeiten nicht mißlingen? so fragte er sich unruhig. Und als der Archidiakonus ihm riet, den Bischof mit einer Rede zu empfangen, blickte der Abt ganz verstört drein.

»Das läßt sich nicht umgehen, Vater Gerwaßij. Seine Eminenz liebt feierliche Empfänge. Morgen trifft der Bewahrer der Kirchengeräte mit seiner Gattin ein; sprechen Sie mal mit ihm.«

Am nächsten Tage ließ Gerwaßij einen kleinen Wagen anspannen und fuhr selbst zum Bahnhof, um den Bewahrer der Kirchengeräte, Vater Wassilij Obolenskij, zu empfangen. Obolenskij, in dunkelblauem Seidentalar, wandte sich in samtenem Tenor an den Abt:

»Ist alles zum Empfang des Bischofs bereit, Vater Abt?«

»Ja, Vater Wassilij.«

Als Gerwaßij ihn und seine herausgeputzte junge Frau – sie trug ein helles Spitzenkleid – aufforderte, in den Wagen zu steigen, sagte Obolenskij mit verliebter Stimme:

»Katenka, fahre du im Wagen des Abts, wir beide gehen lieber durch den Wald, um ein bißchen zu plaudern.«

Gerwaßij flüsterte dem Novizen auf dem Bock zu:

»Sage dem Herbergsvater, daß dies die Gattin des Bewahrers der Kirchengeräte ist. Paß auf, vergiß es nicht!«

Unterwegs redete Obolenskij ununterbrochen; er liebte, daß man ihm aufmerksam zuhörte. Er sprach in sanftem Tenor und lauschte bewundernd seiner eigenen Stimme. Er gab sich schlicht, doch in dieser Schlichtheit lag Machtbewußtsein. Während er auf Gerwaßijs Fragen antwortete, rückte er würdevoll an dem Abzeichen der Akademie an seiner Brust und an seiner goldenen Brille, durch deren Gläser leise lächelnde Augen voll Güte blickten. Es war aber eine eigenartige Güte, die sich mit Verschlagenheit paarte. Seine Augen lächelten freundlich, doch zugleich sprach das Bewußtsein seiner Überlegenheit aus ihnen.

 


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