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46. Die Robinson-Insel.

Hoch über dem Kap Hoorn schwebt auf regungslosen Flügeln der Albatros. Sein scharfes Auge entdeckt soeben im Westen den Rauch eines Dampfers, und schon nach zwei Minuten umkreist er das Schiff, um es auf seiner Fahrt nach Norden zu begleiten. Die Reise geht an der Küste Chiles entlang, über deren unzähligen Meerbusen, Schären und Inseln sich die Schneekämme der Anden erheben. Wenn Abfälle über Bord geworfen werden, schießt der Albatros pfeilschnell herab; eine Sekunde ehe er die Wasserfläche berührt, hebt er die Flügel, legt den Kopf hintenüber, streckt die großen Füße mit gespreizten Zehen nach vorn aus und schlägt dann klatschend auf das Wasser auf, auf dem er leicht wie ein Kork daherschwebt. Hastig verschlingt er alles, was auf dem Wasser treibt, öffnet dann seine Flügel wieder gegen den Wind und steigt aufs neue zu schwindelerregenden Höhen empor.

Der Dampfer, den er begleitet, bringt Frachtgüter für Santiago, die Hauptstadt Chiles, und macht in ihrer Hafenstadt Valparaiso halt. Über ihr ragt in der Ferne der höchste Berg Südamerikas, der Aconcagua, in die Luft.

Unser Albatros fliegt wieder meereinwärts, um anderswo sein Glück zu versuchen, und sechshundert Kilometer von der Küste Südamerikas entfernt sieht er das kleine Eiland Juan-Fernandez, die denkwürdige Insel Robinsons, unter sich liegen. In großen Kreisen segelt er um ihre vulkanischen Klippen herum, er überschaut ihre 900 Meter hohen, abschüssigen Felswände und hört die rollende Brandung, die den Fuß der Felsen umtost, ein Bild unbeschreiblicher Wildheit und Verlassenheit, das sich nur dem darüber schwebenden Albatros erschließt. Denn der Seefahrer kann nur mit größten Schwierigkeiten sich in einem kleinen Boot den Felsen dieses Eilandes nahen.

Vergeblich wird er jetzt hier nach Papageien, Affen und Schildkröten suchen und auch von den Stammverwandten Freitags, des Schützlings Robinsons, nichts mehr erblicken. Aber wenn er Naturforscher ist, wird er bald feststellen, daß die Hälfte von allen Pflanzen, die sich hier finden, dieser Insel eigentümlich ist und an keinem andern Ort der Welt vorkommt! Zu diesen Pflanzen gehört die Palme mit dem mattgrünen, glänzenden Stamm, die von den Menschen gedankenlos ausgerottet wird, um Spazierstöcke aus ihr zu fertigen! Zu ihnen gehören ferner Farnbäume und kleine, feinspitzige Kletterfarne, ein wunderbarer Zierat der Baumstämme und Zweige. Und schließlich gehört dazu das letzte Exemplar eines Sandelholzbaumes, der sich, so seltsam es auch klingen mag, aus seiner asiatischen Heimat hierher verirrt hat. Noch vor zweihundert Jahren wuchs er in großen Massen auf dieser Insel. Jetzt hat ihn die Geldgier der Menschen ausgerottet; sein rotes, stark duftendes Holz erschien gar zu geeignet zu feinen Drechslerarbeiten und anderem Kram. Nur noch ein einziger kleiner Zweig grünt jetzt an diesem letzten Sandelholzbaum, und mit diesem letzten Exemplar stirbt seine Art auf Erden aus.

In einer Höhle am Fuß des Berges wohnte der Sage nach Robinson Crusoe, und von einem sattelförmigen Paß des Bergkammes oberhalb seiner Wohnung schaute er mit sehnsuchtsvollen Blicken über den Großen Ozean. Eine im Gestein angebrachte Erinnerungstafel berichtet, daß der wirkliche Robinson ein schottischer Matrose namens Alexander Selkirk war, der vier Jahre und vier Monate, von 1704-1709, einsam auf dieser Insel gelebt hat. Freiwillig begab er sich in diese Einsamkeit, weil er sich mit den Befehlshabern des Seeräuberschiffes, zu dessen Mannschaft er gehörte, entzweit hatte. Das Klima der Insel war mild, alljährlich fiel die nötige Menge Regen, und sie beherbergte wilde Ziegen, die ihm neben mancherlei eßbaren Früchten zur Nahrung dienten. Im Februar 1709 wurde er von einem englischen Schiff aus seiner Gefangenschaft im Weltmeer befreit.

So war es in Wirklichkeit. Aber wer verweilt nicht weit lieber bei jenem Robinson, dessen romantisches Schicksal die dichtende Sage so wunderbar ausgeschmückt hat? Das Schiff, so berichtet sie, mit dem Robinson fuhr, scheiterte, und er war der einzige von der Bemannung, den die Sturzwellen auf den Strand der Insel warfen. Völlig auf sich und auf das kleine Eiland Juan-Fernandez angewiesen, richtete er sich hier häuslich ein, streifte am Ufer umher und durch den Wald und füllte seine aus Bisamblättern geflochtene Jagdtasche mit Austern, Schildkröteneiern und wilden Früchten. Mit einem einfachen Pfeilbogen erlegte er wilde Ziegen und andere Tiere, um sich aus ihrem Fell seine Kleidung anzufertigen; auch fing er einige der Ziegen, die er zähmte und die ihm nun Milch lieferten, so daß er sich Butter und Käse bereiten konnte. Nach und nach mußte er, der Not gehorchend, ein Handwerk nach dem andern lernen, er wurde Zimmermann, Töpfer, Kürschner usw. Die Höhe oberhalb seiner Höhle war seine Kirche, wo er den Sonntag feierte. Wildwachsender Mais lieferte ihm Mehl, und er wußte sich daraus sein Brot zu backen. Mit den Jahren kam er sogar zu einigem Wohlstand; sein Schicksal ist gleichsam ein Abbild des ganzen Menschengeschlechts, wie es sich aus der rohen Einfalt des Wilden im Lauf der Jahrtausende entwickelt und veredelt hat. Seine Sehnsucht nach Feuer befriedigte ein Blitz, der in einen Baum einschlug und zündete, und wer denkt nicht noch gern an seinen Eifer, mit dem er das Feuer lange Zeit unterhielt, damit es ja nicht wieder verlösche. Wie traurig war er, als schließlich doch die Flamme erstorben war! Da kam ihm der Ausbruch eines Vulkans auf der Insel zu Hilfe, und an der glühenden Lava zündete er sich ein neues Herdfeuer an. Er baute sich sogar einen Backofen aus Ziegelsteinen, besaß eine wohleingerichtete Hütte und machte auf einem selbstgezimmerten Boot mancherlei Ausflüge am Strand seines Gefängnisses entlang.

siehe Bildunterschrift

Die Südsee.

Als er sich einmal auf einem Streifzug fern von seiner Wohnung zum Schlafen niedergelegt hatte, fuhr er plötzlich erschrocken in die Höhe: Jemand hatte ihn bei seinem Namen gerufen! Aber es war niemand anders als sein Papagei, den er selbst gezähmt und sprechen gelehrt hatte; der Vogel war ihm nachgeflogen und rief ihm nun von einem Ast herab zu: »Armer, armer Robinson!«

Und wer erinnerte sich nicht noch des aufregenden Moments, als Robinson auf einer einsamen Wanderung plötzlich die Spur eines menschlichen Fußes im Sande vor sich erblickte! Vor Entsetzen fast versteinert, blieb er stehen. Acht Jahre war er mutterseelenallein gewesen – jetzt gab es hier noch andere Menschen in der Nähe! Was konnten das anderes als Menschenfresser sein! Er spähte umher und lauschte, dann eilte er nach Hause und bereitete sich gegen einen möglichen Überfall zur Verteidigung vor. Doch nichts rührte sich. Nach einiger Zeit aber sah er eines Tages am Strande auf der andern Seite der Insel ein Feuer brennen. Wieder eilte er nach Hause, zog die Leiter über die Verschanzung seiner Wohnung hinüber und legte seine Waffen bereit. Zuletzt erklomm er einen Aussichtsberg und sah nun zehn nackte Wilde, die sich Fleisch am Feuer brieten. Zum Schluß ihrer Mahlzeit veranstalteten sie einen wilden Tanz, schoben dann ihre Kähne wieder ins Wasser und verschwanden. Neben dem erloschenen Feuer lagen abgenagte Menschenknochen und Schädel, ein Anblick, der unsern Robinson fast wahnsinnig machte.

Schon nahte das vierzehnte Jahr seinem Ende, da erweckte ihn in einer dunkeln Sturmesnacht ein Schuß. Sein Herz klopfte in heftigen Schlägen – die Stunde der Befreiung schien gekommen! Nochmals donnerte ein Schuß durch das nächtliche Dunkel. Zweifellos war es das Notsignal eines Schiffes. Er zündete daher ein gewaltiges Feuer an, um der Besatzung den Weg zur Insel zu zeigen. Als aber der Morgen graute, sah er, daß das Fahrzeug auf eine Unterwasserklippe aufgerannt und wrack geworden war. Keine Spur von der Besatzung! Doch – vorn am Strande lag ein Matrose ausgestreckt, und neben ihm stand ein Hund, der laut heulte. Robinson eilte hin – doch wenigstens ein Unglücksgefährte in seiner Einsamkeit! Aber der Gestrandete war tot, und alle Wiederbelebungsversuche waren vergeblich! Tiefbetrübt grub Robinson dem Fremden ein Grab. Aber der Hund wurde jetzt sein Gefährte.

Abermals verging ein Jahr, dessen Tage einander glichen wie ein Ei dem andern. Seine einzige Gesellschaft waren der Hund, der Papagei und eine Ziege, und wenn er an seinem Tisch saß, sein selbstgebackenes Brot brach und von Obst, Fischen und Austern seine Mahlzeit hielt, bekamen auch diese drei ihren Teil davon.

Da sah er eines Tages von seiner Warte aus fünf Kähne auf die Insel zurudern! Sie legten am Strande an, dreißig Wilde sprangen ans Land und entzündeten ein Feuer. Dann holten sie aus einem Kahn zwei Gefangene. Ein Keulenschlag tötete den einen. Der andere aber benutzte einen unbewachten Moment und floh, gerade in der Richtung auf Robinsons Wohnung hin. Nur zwei von den Wilden verfolgten ihn. Robinson stürmte deshalb hinunter, um dem Flüchtling beizustehen. Auf ein Zeichen seines Herrn stürzte sich der Hund auf den einen Verfolger und hielt ihn fest, bis Robinson ihn niedergeschlagen hatte; dem zweiten erging es ebenso. Dann gab Robinson dem Gefangenen, der über diese unerwartete Erscheinung aufs höchste entsetzt war, durch freundliche Zeichen und durch Lächeln zu verstehen, daß er einen Beschützer und Freund gefunden habe. Der arme Mensch stammelte unverständliche Worte. Aber welch eine Freude für Robinson, endlich wieder einmal den Laut einer Menschenstimme zu hören, den er seit fünfzehn Jahren entbehrt hatte! Die übrigen Wilden hatten Hals über Kopf die Flucht ergriffen.

Robinsons schwarzer Gefährte erhielt den Namen Freitag, denn an einem Freitag war er nach der Insel gekommen. Er lernte nunmehr die Sprache seines Herrn, wurde mit der Zeit ein ordentlicher Christenmensch und dem Einsiedler ein aufs herzlichste ergebener Freund. Eines Tages strandete dann wiederum ein Schiff auf der Unterwasserklippe, und in den Vorräten des Wracks fanden Robinson und Freitag Schußwaffen und Pulver, Lebensmittel, Werkzeuge und viele andre nützliche Dinge, die ihnen während der nächsten Jahre ihr Leben sehr erleichterten. Als dann achtzehn lange Jahre vorüber waren, wurde der Held unserer Kindheit mit seinem schwarzen Freund durch ein englisches Schiff gerettet.

Diese Erinnerungen aus unser aller Jugendzeit würden vor uns aufsteigen, wenn wir den Albatros auf seinem Flug über die Robinson-Insel Juan-Fernandez begleiten könnten. Der Albatros selbst weiß davon nichts, denn seine Vorfahren haben vor vielen, vielen Generationen nur den Matrosen Selkirk, das Urbild des Robinson, gesehen.


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