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10. Im Zwischendeck.

Wenige Tage nach dieser Unterredung hat unser Auswanderer Fritz alle Bande zerschnitten, die ihn seit dem Tage seiner Geburt an den Heimatboden fesselten. Auf dem kürzesten Wege begibt er sich nach Bremen, meldet sich an Bord eines Auswandererschiffes und findet zunächst, daß die Versprechungen des Agenten, der ihm die Überfahrt als bequem und wohlfeil geschildert hat, unwahr gewesen sind! Aber die Reise übers Meer dauert ja nur eine Woche, und so findet er sich in sein Schicksal. Schließlich braucht man ja nicht wie ein Hering in der Tonne unter Deck zu liegen; man kann frei umhergehen und oben das prächtige Wetter genießen, das während der Fahrt des Schiffes durch den Kanal zwischen England und Frankreich den Auswanderern den Abschied erleichtert.

Und langweilig ist es auf Deck durchaus nicht. Gelegenheit zu neuen Bekanntschaften findet sich allenthalben. Eine sehr gemischte Gesellschaft, die diesmal den Staub der Heimat von den Füßen geschüttelt und sich an Bord des Bremer Dampfers nach Amerika eingeschifft hat! Da sind zwei Brüder aus Ostpreußen. Der ältere hat schon zehn Jahre in Pennsylvanien gelebt und täglich seine vierzehn Mark verdient. Dann ist er nach Hause gefahren, um den elterlichen Bauernhof zu übernehmen. Aber der war ihm zu klein geworden, er brauchte größeren Spielraum für seinen Unternehmungssinn. Er verkaufte deshalb den Hof um einen Spottpreis und nimmt jetzt seinen Bruder mit ins gelobte Land. Hier ist ein Steinhauer aus Westfalen, der nach Chicago reist, wo er einen Jugendfreund hat, der ihn überredete, hinüberzukommen, weil er da ohne Mühe viel Geld verdienen könne. Dort auf der Bank sitzt ein alter Bayer, der mit Frau und Tochter zu seinem Sohn reist. Der Sohn ist seit mehreren Jahren Baumeister in Philadelphia und hat es jetzt endlich so weit gebracht, daß er Eltern und Schwester nachkommen lassen kann.

Alle diese Passagiere sitzen während der langen Stunden der Überfahrt auf Deck zusammen, und es schwirrt von lebhafter Unterhaltung, von Fragen und Antworten, von Scherzreden und Lachen. Ehe noch der letzte Leuchtturm an der Küste Europas hinter dem Horizont verschwunden ist, glaubt Fritz schon in ganz Amerika gründlich Bescheid zu wissen. Unaufhörlich summen ihm dieselben Namen in den Ohren: Neuyork, Philadelphia, Chicago und San Francisco, und wieder San Francisco, Chicago, Philadelphia und Neuyork! Einfacher kann ja nichts sein! Zwischen diese vier Punkte braucht man nur noch einige andere kleine Städte und etliche Flüsse, Gebirge und Seen einzufügen, jene vier Städte durch Eisenbahnlinien zu verbinden, sich im Norden das unermeßliche Kanada und im Süden das gebirgige Mexiko zu denken, den Ecken dieses ganzen Viereckes die Halbinseln Alaska, Kalifornien und Florida anzuhängen und die vierte Ecke mit der großen Insel Neufundland zu bedenken, längs der Westküste einige mächtige Bergketten zu ziehen und in die östliche Hälfte des Weltteils die großen Seen und die Hudsonbai hineinzumalen – dann ist, wie Fritz meint, die Karte Nordamerikas fertig. Ein Kind kann sie an einem Tag auswendig lernen!

Während Fritz so seine Illusionen auf Deck spazieren führt, hört er eine Frau sagen:

»Ich versichere Ihnen, mein Sohn verdient täglich seine 6 Dollar und wohnt wie ein feiner Herr!«

»6 Dollar sind 24 Mark!« denkt Fritz und möchte gern mehr von diesem tüchtigen Sohn hören. Da tritt plötzlich der ältere Ostpreuße, der schon in Pennsylvanien war, an ihn heran und fragt ihn, was er denn drüben anfangen wolle? Er solle nur ja nicht denken, daß ihm die gebratenen Tauben ins Maul fliegen würden, auch wenn er es noch so weit aufreiße.

Fritz antwortet etwas gekränkt: »Ich habe meinem Vater bei der Bewirtschaftung seines Hofes geholfen, ich kann pflügen, säen und Erntearbeiten verrichten, ich kann Weizen und Roggen ausdreschen, habe auch schon in einer Schmiede gearbeitet und bin Kutscher auf einem herrschaftlichen Gute gewesen.«

»Und damit willst du dich drüben durchschlagen?« fragt der andere und bricht in ein höhnisches Lachen aus.

Fritzens Stimmung ist verdorben, er dreht sich um und geht langsam beiseite. Er sieht sich die übrigen Reisegenossen an. Sie sitzen in behaglichen Gruppen, haben abgenutzte Decken über die Beine gelegt und reden von ihren Freunden, die sie daheim zurückgelassen haben und die sie drüben anzutreffen gedenken. Sie tauschen ihre Hoffnungen und Pläne miteinander aus und sind guten Muts, als ob es sich nur um eine Erholungsreise oder um ein Erntefest handelte, das sie in Amerika feiern wollen, und als ob sie ein Billett zur Rückfahrt schon in der Tasche hätten. Daheim im Hause der Eltern und Geschwister mag es jetzt leer und einsam aussehen und im Nachbargehöft manche Braut um ihren Liebsten weinen. Das wird vorübergehen! Jetzt heißt es arbeiten und Geld verdienen, und dann feiern wir bald ein freudiges Wiedersehen! So scheinen die meisten zu denken und keiner zu glauben, daß er bis an sein Lebensende drüben bleiben wird. Nein, im Schutz des alten efeubewachsenen Turmes seiner Dorfkirche will er dereinst in der Erde seiner Väter begraben sein. Ein Glück für die Armen, daß sie die Wahrheit nicht ahnen, die Wahrheit nämlich, daß sie ihre Heimat nie wieder sehen werden!

Im Westen versinkt die Sonne und streut ihr Gold über das Land der Träume, in das die Auswanderer vorwärts schauen, die Nacht breitet ihren dunkeln Schleier über Europa; der Schein des letzten Leuchtturms am Gestade der alten Welt erreicht das Auswandererschiff nicht mehr. Vielleicht ahnen nur wenige von diesen Reisenden, daß sie einen Scheideweg in ihrem Leben beschritten haben, auf dem es kein Zurück mehr gibt. Die alte Welt, die ihnen keine Befriedigung zu bieten vermochte, versinkt unter dem dunklen Horizont; die neue, die das Sonnenlicht noch überflutet, soll ihnen alle Wünsche gewähren. –

Die meisten unserer Auswanderer und unter ihnen auch Fritz haben das große Meer noch nie gesehen, und sein Anblick erfüllt sie mit beklommener Angst. Ringsum Wasser und dazu noch die unheimliche Dunkelheit, die sich auf die Wellen herabsenkt! Das war daheim, auf den Seen und Flüssen im Binnenlande, wo doch wenigstens immer ein Uferrand am Horizont sichtbar ist, weitaus behaglicher.

Zahlreiche elektrische Lampen werfen ihr Licht auf die Scharen, die ein noch nicht erschütterter Glaube an die Zukunft über die Tiefen des Atlantischen Ozeans hinwegführt. In einer Ecke nahe dem Maschinenraum sitzt eine Schar polnischer Juden, alte und junge, Männer und Frauen; die ersteren mit ihren krummen Nasen und den im Winde wehenden Korkzieherlocken unter tausenden leicht erkennbar. Sie streiten eifrig hin und her, mit lebhaften Handbewegungen, und man sieht ihnen an, daß sie von nichts anderem als Geschäften und Gewinn reden; das Wort »Dollar« ist unaufhörlich auf ihren Lippen. Nicht weit von ihnen sitzen auf einer Bank einige ihrer Glaubensbrüder aus Rußland, die die Verfolgung der Kinder Israels aus der Heimat vertrieben hat. –

In den Gängen des Zwischendecks herrscht fast Gedränge. Nach der Aufregung der ersten Tage lagert sich Müdigkeit über die Reisegesellschaft, und allenthalben sitzen Frauen und Männer schlafend auf den Bänken, andere öffnen ihre Bündel und essen Brot oder Süßigkeiten, während ihre Nachbarn Zeitungen und Briefe lesen. Der erste Reiz des Neuen ist bereits erschöpft, und die quälende Langeweile der Erwartung macht sich vielfach bemerkbar. Manche warten schon sehnsüchtig auf den Mann mit der Klingel, der am Abend auf Deck die Runde macht, um die Auswanderer zum Essen zu rufen. Dann sucht alles die Kojen auf, und jeder macht sich seinen einfachen Schlafplatz auf den Bänken zurecht. –

So vergehen die Tage an Bord, der nächste immer langsamer als der vorhergehende. Man beobachtet das wechselnde Aussehen des Meeres und die beständige Bewegung der Wellen, und ein vorüberfahrendes Schiff ist eine willkommene Abwechslung. Segelschiffe und Dampfer zeigen sich am Horizont, und jetzt kommt sogar ein dampfender Koloß immer näher, wird langsam größer und gleitet in geringer Entfernung an dem Schiff der Auswanderer vorbei, die sich in langer Reihe auf Deck versammelt haben. Dicker Rauch steigt aus den vier gewaltigen Schornsteinen empor, und auf beiden Seiten hängen auf dem obersten Deck zehn große Rettungsboote.

»Wie heißt das Schiff?« fragt Fritz einen Landsmann, der in Bremen auf einer Werft gearbeitet hat.

»Das ist einer der Schnelldampfer des Bremer Lloyd, er heißt ›Kaiser Wilhelm II.‹ Er ist 215 Meter lang, hat 9 Meter Tiefgang und macht 23½ Knoten in der Stunde. Er ist in Längen- und Querschotten abgeteilt und besteht daher aus 17 wasserdichten Räumen. Seine beiden Bronzeschrauben haben 7 Meter Durchmesser, und unter dem Dampfkessel brennen 112 Feuer. Du siehst doch die vier Schornsteine? Jeder hat vier Meter im Durchmesser.«

»Solch ein Schiff zu bauen, muß eine Unmasse Geld kosten«, meint Fritz zaghaft.

»So ziemlich! 17½ Millionen Mark. Aber dafür faßt der Dampfer auch beinahe 2500 Menschen; 600 davon bilden seine Besatzung. Er enthält vollständig eingerichtete Prachtwohnungen, in denen die amerikanischen Millionäre nach Europa herüberschwimmen, ganz so wie die ›Titanic‹, mit der kürzlich so viele reiche Amerikaner zugrunde gingen! In solch einem Schiff ist ein Leben wie in einem schwimmenden Hotel; Musik spielt zur Tafel mittags und abends, und an Bord erscheint sogar eine Zeitung, die ihre Nachrichten durch drahtlose Telegraphie erhält. Und die Schnelligkeit dieses Schiffes ist so groß, daß es die Reise nach Amerika in fünf Tagen und einigen Stunden ausführt.«

»Das ist dann wohl die schnellste Verbindung, die man zwischen Deutschland und Amerika haben kann?«

»Das war es wenigstens bisher. Natürlich wetteifern die Aktiengesellschaften der verschiedenen Staaten darin, einander an Schnelligkeit den Rang abzulaufen, und ein so furchtbares Unglück, wie das der ›Titanic‹, ist ja auch diesem Ehrgeiz zuzuschreiben. Deutschland, – das bisher die erste Stelle in dieser Beziehung einnahm, ist einstweilen durch die englischen Turbinendampfer ›Lusitania‹ und ›Mauretania‹ besiegt worden. Aber wie lange wird dieser Vorrang sich behaupten! Man baut jetzt wieder einen neuen Dampfer, der ›Olympia‹ heißen und 260 Meter lang werden soll. Denke dir nur: wenn man ihn in Paris aufrecht auf seinen Vordersteven stellte, würde sein Steuer fast die Spitze des Eiffelturms erreichen. Der alte Kolumbus hätte sich wohl nicht träumen lassen, daß man einmal mit solchen Ungetümen im Kielwasser seiner ›Santa Maria‹ fahren würde!«


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