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39. Durch die Urwälder des Amazonenstroms.

Nach zehn Tagen erreichten die Schiffe das von den Indianern gemeinte »große Wasser«; der Napo mündete in den Amazonenstrom, und dieser war gerade in starkem Steigen begriffen. Wenn er seinen höchsten Wasserstand erreicht hat, also im Juni und Juli, liegt sein Spiegel zwölf Meter über der Tiefstandsmarke! Weiter abwärts gleicht sich der Unterschied mehr und mehr aus, denn die nördlichen Nebenflüsse des Amazonenstroms kommen vom Äquator, wo es zu jeder Jahreszeit regnet, und die südlichen steigen zu verschiedenen Zeiten, je nach den Gegenden, in denen sie ihre Quellen haben. Um vom Fuß der Kordilleren zur Mündung zu gelangen, braucht die Hochwasserflut des Hauptflusses gegen zwei Monate.

Die Spanier glaubten nicht anders, als auf einem unendlich großen See zu treiben. Wo das Ufer flach war, zeigte sich der Wald meilenweit überschwemmt, und die Bäume standen mitten im Wasser. Die wilden Tiere hatten sich landeinwärts in sichere Gegenden geflüchtet, und nur Schwimm- und Waldvögel und die Vierfüßler, die ihr ganzes Leben auf den Bäumen verbringen, waren zurückgeblieben. Auf einigen Uferstrecken, die das Hochwasser nicht erreichte, hatten die Indianer ihre Hütten. An diesen vor dem Wasser geschützten Stellen finden sich auch heute noch die Niederlassungen der Gummisammler.

Als das Hochwasser dann zu sinken begann, konnten Orellanas Leute beobachten, wie sich von dem gelockerten Uferrand gewaltige Erdschollen ablösten und unter dem Gewicht der Riesenbäume, die sie trugen, in den Fluß stürzten. Ganze Inseln von Wurzeln, Erde, Holz und Lianen riß die Strömung mit fort. Einige strandeten auf Schlammbänken mitten im Flusse, andere blieben an Ufervorsprüngen hängen, und an ihnen sammelte sich dann wieder neues mitgeschwemmtes Gestrüpp, bis die Gewalt des Wassers alles wieder auseinanderriß und flußabwärts zum Meer hin entführte. Jeden Augenblick konnte man also gegen einen auf Grund geratenen Baumstamm stoßen und kentern. Die Stromgeschwindigkeit betrug dreiviertel Meter in der Sekunde, und wenn der Wind günstig war, kamen die beiden Schiffe schnell vorwärts.

Aus dem wechselnden Aussehen des Waldes lernte die Mannschaft bald beurteilen, wo man landen konnte und wo nicht. Da, wo die mächtigen Kronen der Laubbäume wellenförmige Gewölbe über den Palmen bildeten, war der Boden trocken. Wenn aber die Wedel der Palmen mit ihrem üppigen Grün den niedrigeren Laubwald überragten, war das ein Zeichen, daß hier der Fluß das Ufer zu überschwemmen pflegte.

Abgesehen von diesen Gefahren der Schiffahrt wurden die Spanier noch mehr durch die Indianer bedroht, die in ihren flinken Kanus scharenweise heranruderten und die Fremden mit einem Regen vergifteter Pfeile überschütteten.

Ende Mai wurde die Mündung des Rio Negro erreicht, durch den der Amazonenstrom mächtig anwächst. Denn dem Rio Negro strömen die Wasser aus Columbia, Venezuela, Guayana und den wasserreichen Llanos auf der Nordseite des Amazonenstroms zu, und da, wo ihn Inseln in mehrere Arme teilen, erreicht er eine Breite bis zu fünfzig Kilometer.

Hier blieb Orellana mehrere Wochen bei freundlich gesinnten Indianern, deren anmutige Hütten unter den Zweigen der Bananenbäume lagen. Die Schiffe wurden gründlich ausgebessert und neuer Proviant, Mais, Hühner, Fische und Schildkröten, an Bord geschafft. Es wimmelte hier von eßbaren Schildkröten, und auch die Indianer pflegten sie zu fangen und ihre Eier zu sammeln. Der Fischfang war ebenso ergiebig wie abwechslungsreich, denn im Gebiet des Amazonenstroms leben nicht weniger als zweitausend Fischarten.

Mit neuen Kräften wurde die Fahrt fortgesetzt, und bald glitten Orellanas Schiffe an der 2½ Kilometer breiten Mündung des Madeira vorüber. Durch diesen Nebenfluß erhält der Amazonenstrom einen Zuschuß, der seiner eigenen Wassermenge wenig nachgibt; denn der Madeira hat seine Quellen weit im Süden und kommt teils aus den Kordilleren Perus und Bolivias, teils aus dem brasilianischen Hochland.

Endlose Wasserflächen und Wälder, wohin man blickte, einen Monat nach dem andern! Dazu eine Wärme, die das ganze Jahr hindurch gleich bleibt, zwar selten die Höhe von vierzig Grad erreicht, aber infolge der feuchten Luft dennoch drückend und erschlaffend wirkt. Aber voller Abwechslung war jeder Tag der Fahrt. Gegen den Mast oder die Reling gelehnt oder nachlässig die Ruder eintauchend, konnte die Bemannung der Schiffe die Sprünge der Delphine beobachten, die flinken Wendungen des Alligators, wenn er hinter einem großen Fische herschoß, oder die plumpen Bewegungen des Lamantin, eines der Sirenentiere, das am Uferrand auf die aalähnlichen Lungenfische lauert, die zufällig aufs Land hinausgehen. Vielleicht sahen die Männer auch gelegentlich Indianer in ihren leichten Kanus den Lamantin und den Alligator mit Harpunen jagen, um in Besitz ihres Fleisches zu gelangen, und beim Anblick der riesengroßen Wasserschlangen des Amazonenstroms mochte ihnen recht schauerlich zumute werden.

So durchquerten sie den unendlich großen Urwald, der sich vom Fuß der Anden und von den Quellen des Madeira bis zu den Mündungen des Orinoco und des Amazonenstroms erstreckt, diesen dichten, üppigen Urwaldkomplex, der Selvas genannt wird, die ganze Tiefebene Brasiliens mit seinem überquellenden Leben bedeckt und so kunstvoll durch tropische Regengüsse und übertretende Flüsse bewässert wird. Aller Regen, der in den Selvas und auf den Llanos fällt, gelangt durch die unzähligen Nebenflüsse in den Amazonenstrom und durch seine trompetenförmige Mündung ins Meer. Mit den ungeheuren Wäldern seiner Ufer gleicht dieser Fluß einem Füllhorn der großen, wilden, unbezwinglichen Natur. Hier brodelt und rieselt, gärt und quillt es von keimenden Lebenskräften in dem saftigen Erdreich, hier wimmelt es von Wild und Käfern, und Schmetterlinge sind zahlreicher als irgendwo auf der Erde und kleiden sich in die üppige Farbenpracht der Tropen. Uralte Bäume an den Ufern werden von den Wellen unterwaschen und fortgespült, während andere in den dumpfen Irrgängen des Urwalds vermodern. Durch den Guano, die Kadaver der Tiere und die verwesenden Pflanzen wird der Boden beständig gedüngt, und aus Gräbern zaubert der unerschöpfliche Reichtum der Natur beständig neues Wachstum hervor.

Zu Streifzügen in das Innere des Landes hatten die kühnen Spanier keine Gelegenheit, und es wäre ihnen auch schwer gefallen, sich durch die unentwirrbaren Schlingpflanzennetze zwischen den Stämmen und durch das Dickicht des Buschwerks hindurchzuarbeiten. Abseits von den Wasserläufen, besonders in den Gebieten zwischen einigen der großen südlichen Nebenflüsse, liegt der Urwald seit unvordenklichen Zeiten unzugänglich in seinem grünen Dämmerlicht. Vielleicht birgt sein Inneres Indianerstämme, die noch nichts davon gehört haben, daß Amerika von den Weißen entdeckt wurde, und die sich glücklich preisen können, daß die fremden Eroberer noch nicht Herren ihres Waldes zu werden vermögen. Hier herrschen noch die Palmen in paradiesischer Ruhe, und zu ihren Füßen wuchern Farne mit holzartigen Stämmen. Unter den hohen Lorbeerbäumen, deren Stämme sich unter dem Laubgewölbe der Kronen wie die Säulen eines Kirchenschiffs erheben, um die Mimosen, Fikusarten und Kletterpalmen herrscht dunkelgrüne Dämmerung. Nur die Lianen, die Schmarotzer der Pflanzenwelt, klettern aus der dunkeln Tiefe die Stämme aufwärts, um ihre Blütenkelche der Sonne zu öffnen. Auf geschützten, der Sonne ausgesetzten Uferseen prangt die stolzeste aller Blumen, die Victoria regia aus der Familie der Wasserrosen. Ihre Blätter werden zwei Meter groß und die Blumen mehr als ein drittel Meter. Nur zwei Abende öffnet sich die Blüte; sie ist am ersten Abend weiß, am zweiten purpurrot. Auf sechzig Meter hohen Bäumen reifen runde, holzharte Früchte so groß wie ein Kindskopf. Wenn sie reif sind, fallen sie herab, die Schale platzt und aus dem Innern rollt ein ganzer Schoß voll dreieckiger Paranüsse. Durch seinen hellen Stamm und seine hellgrünen Blätter zeichnet sich der Gummibaum ab, dessen weißer Milchsaft in erstarrtem Zustand den besten Gummi der Welt liefert. Die Indianer aber hassen diesen Baum, denn die Europäer treiben Raubbau damit, um reich zu werden. Die Indianer arbeiten für die weißen Eindringlinge in harter Sklaverei, um den Kautschuk abzuzapfen, damit die Herrschaften in den Städten Europas bequem im Automobil fahren können.

Noch ein Baum, der jedem Kinde bekannt ist, gedeiht in diesem Urwald. Er wird bis zu fünfzehn Meter hoch und trägt große blanke, lederartige Blätter. Seine Blüten aber wachsen aus dem Stamm heraus, nicht in den Blattscheiden, und seine gurkenähnlichen gelbroten Früchte reifen zu jeder Jahreszeit in dem ewigen Sommer Amazoniens. Der Baum wächst wild im Walde, wurde aber bereits vor der Ankunft der Weißen von den Indianern angepflanzt, die, ebenso wie die Mexikaner, aus den zerstoßenen Kernen seiner Frucht Kakao und Schokolade bereiteten.

Nicht weniger berühmt und beliebt ist ein anderes Getränk, der Kaffee. Der Kaffeebaum aber ist nicht im Urwald zu Hause, sondern auf den Plantagen, und auch dort nur ein Gast. Denn seine Heimat ist die Provinz Kaffa in Abessinien, und aus Arabien gelangte der Kaffee zuerst über Konstantinopel nach Europa. Jetzt liefern die Pflanzungen Brasiliens drei Viertel des Kaffees für die ganze Welt, und diese verbraucht alljährlich nicht weniger als eintausend Millionen Kilogramm. Denkt nur, wieviel Kaffeegesellschaften und Kaffeeschwestern das gibt – und wieviel Klatschgeschichten!

Auch die Vanillepflanze, deren Heimat die Bergwälder von Mexiko und Peru sind, gehört zu den wunderbaren Gästen des Urwaldes. Damit das wilde Gewächs Frucht ansetzt, muß der Blütenstaub durch Insekten übertragen werden. Vor vielen Jahren brachte man die Pflanze nach der Insel Réunion, wo sie vortrefflich gedieh, aber ohne Frucht zu tragen. Dort fehlten eben die hilfreichen Insekten ihrer Heimat. Man versuchte es daher mit künstlicher Übertragung des befruchtenden Blütenstaubs, und dieses Experiment gelang ausgezeichnet. Heute liefert Réunion den Hauptteil der auf den ganzen Weltmarkt kommenden Vanille.

Und diese Mannigfaltigkeit der Tiere, die im Urwald und an seinen die Savannen begrenzenden Rändern leben! In den Bambusrohrdickichten spielt das Jaguarweibchen mit seinen Jungen, und am Rand des Sumpfes springt der Pekari, das kleine niedliche Nabelschwein, mit seinen hohen, gelenkigen Beinen. Hier findet sich die eigenartige Beutelratte und das schwerfällig gepanzerte Gürteltier, das die abscheulichen Termiten liebt, die weißen Ameisen, deren scharfe Kiefer Papier, Zeug, Holz, ja sogar ganze Häuser zernagen. Hier lebt auch das kletternde Faultier mit seinem runden Affenkopf und seinen großen Krallen. Ganze Tage lang hängt es schläfrig unter einem Ast und wacht erst auf, wenn es dunkel wird. Es hält sich nur in den Kronen der Bäume auf und nährt sich von Blättern. In der Urzeit gab es Faultiere, die so groß waren wie Nashörner und Elefanten. In den hohlen Bäumen schläft bei Tage der Waschbär mit seinem gelbbraunen Pelz; bei Nacht stellt er kleinen Säugetieren und Vögeln nach oder sucht er Eier und Früchte; aber er verzehrt seine Beute nicht eher, als bis er sie gründlich mit Wasser gescheuert hat Am Rande des Urwalds, aus der Grenze zwischen dem Reich der Sonne und dem der Schatten, schreien muntere Papageien, flattern unzählige Schmetterlinge in prunkenden Farben und huschen geschäftige Tauben auf sausenden Flügeln zwischen den Bäumen hin. Pfeilschnell durchschießen Kolibris die Luft, die kleinen niedlichen Vögel, deren Kopf, Hals und Brust in grellen, bunten Farben metallisch glänzen. Ihre Nester bauen sie sorgfältig aus Pflanzendaunen und Moos, und ihr Schnabel ist so lang und fein wie ein Pfriemen. Einen Kolibri gibts, der nicht länger wird als 3½ Zentimeter und der wenig mehr als 1 Gramm wiegt. –

Durch dieses Paradies der Natur fuhr nun Orellana mit seinen beiden Brigantinen dahin. Unterhalb der Mündung des Madeira landete er einmal am Nordufer in einer Gegend, wo angeblich lauter hochgewachsene Schildjungfrauen, »Amazonen«, lebten, und nach ihnen gab er dem Fluß den Namen »Amazonenstrom«. In Wirklichkeit war die Sage von den Amazonen nichts weiter als Schifferlatein!

Weiter und weiter ging die Fahrt. Der Fluß schien kein Ende zu nehmen. Zwischen den Mündungen der mächtigen Nebenflüsse Schingu und Tapajoz traten die großen Grasebenen an den Fluß heran, und mit genauer Not entkamen die Reisenden den Menschenfressern des Nordufers.

Da endlich kündigte sich die Nähe des Weltmeeres an. Freundliche Indianer warnten die Weißen vor der Proroca, einer geheimnisvollen Sturzwelle, die mit Ebbe und Flut in Verbindung steht und zweimal monatlich aus dem Ozean in den Fluß hineinstürmt, wo sie alles, was sich ihr entgegenstellt, vernichtet. Jetzt erreichte Orellana endlich den nördlichen Mündungsarm des Amazonenstroms.

Hier versah er seine Schiffe mit einem Deck und segelte nun in das offene Meer hinaus. Aber der gewaltige Strom folgte ihm bis weit in den Atlantischen Ozean hinein, und als schon die Küste ihm längst aus dem Gesicht entschwunden war, segelten die Schiffe noch immer in lehmgelbem Süßwasser. Noch fünfhundert Kilometer vor der Mündung liegt das süße Wasser des Amazonenstroms über dem salzigen des Ozeans. Erst weiter nordwärts gelangte man endlich in die blaugrüne Meeresflut hinaus.

Fünf Monate hatte Orellana gebraucht, um 4000 Kilometer auf dem im ganzen 5000 Kilometer langen Fluß zurückzulegen. Nun wandte er sich nordwärts, um längs der Küsten Guayanas und Venezuelas nach Westindien zu gelangen, und um die Weihnachtszeit warf er an der Küste von Santo Domingo Anker.


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