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22. Die Cañons des Coloradoflusses.

Der Zug setzt seine geräuschvolle Fahrt durch das Gebirge fort. Dunkle, wilde Täler öffnen sich auf beiden Seiten seines Weges. Das eintönige Rasseln der Räder auf den Schienen wirkt einschläfernd, und die beiden Deutschen sind dem Beispiel der anderen Reisenden gefolgt und in ihren Ecken eingeschlummert.

Doch als die unermüdliche Lokomotive ihre schwere Wagenreihe über eine Schwindel erregende Brücke zieht und die Schallwellen in andern, freieren Tonarten singen als eben noch in dem engen Tal, wird es im Abteil wieder lebendig. Man guckt aus den Fenstern und sieht den gähnenden Abgrund tief unter sich, als ob der Zug in die Luft hinausrolle und auf dem Wege zum Himmel sei.

Der Naturforscher zündet sich eine Zigarre an und beginnt seinem dankbaren Reisegefährten eine neue Vorlesung zu halten.

»Hier fahren wir über einen der Quellbäche des Coloradoflusses. Die scheinen allerdings zu meiner Behauptung, daß alles in Amerika so großartig sei, nicht recht zu passen. Trotzdem können Sie überzeugt sein, daß sich auf der ganzen Erde nichts mit dem großen Cañon des Coloradoflusses vergleichen läßt. Sie mögen von feuerspeienden Bergen und Korallenriffen, vom Gipfel des Mount Everest und von großen Meerestiefen, von unsern hellblauen Alpen in Europa und den dunkeln Urwäldern Afrikas reden, ja, Sie mögen mich auf Erden hinführen, wohin Sie wollen, so werde ich doch immer behaupten, daß die Welt nichts aufzuweisen hat, was dem Cañon des Coloradoflusses an großartiger, überwältigender Schönheit auch nur ähnlich ist.

»Hören Sie zu! Dieser Fluß, dessen Wasser sich in den Kalifornischen Meerbusen ergießt, wird durch zahlreiche Bäche gespeist, die aus den regnerischen, hochgelegenen Gegenden des Felsengebirges kommen. Wenn nun der vereinigte Fluß Utah verläßt und in Arizona eintritt, durchquert er ein dürres, regenarmes Plateauland, und hier haben sich seine Wassermassen fast zwei Kilometer tief in das Kalkgestein eingeschnitten. Die Gesteinlager sind wagerecht geschichtet, und die ewig nagende, durch Schutt und rollende Blöcke unterstützte Kraft des Wassers hat mit der Zeit die ganze Schichtreihe bloßgelegt. Seit Beginn der Periode der Erdgeschichte – man nennt diese früheste Stufe wissenschaftlich Pliozän – ist diese Arbeit unaufhaltsam vor sich gegangen; man schätzt die seitdem verflossene Zeit auf Millionen Jahre. Und dennoch ist die seit dem Pliozän bis auf unsere Tage verflossene Zeit geologisch betrachtet das reine Nichts, wenn man sie mit der Länge der vorhergegangenen größeren geologischen Perioden vergleicht. Dann müssen wir zugeben, daß die sechstausend Jahre, die wir als geschichtliche Zeit betrachten, nicht mehr sind als das letzte Sekundenticken der Uhr der Ewigkeit.«

»Entschuldigen Sie, aber ich kann Ihrem Gedankengange nicht so leicht folgen.«

»Also passen Sie auf: da, wo der Geschichtsforscher aus Mangel an Urkunden alle Haltpunkte in der grauesten Vorzeit verliert, beginnt der Geologe. Was aber der Geschichtsforscher schon Urzeit nennt, ist das Neueste und Jüngste der letzten aller Perioden der Geologie. Denn wenn der Geschichtsforscher sich in armseligen Sonnenrunden zu 365 Tagen bewegt, gibt sich der Geologe nur mit Jahrtausenden und Millionen Jahren zufrieden. Sie müssen doch zugeben, daß es für fließendes Wasser keine Kleinigkeit ist, sich bis zu zweitausend Meter Tiefe durch festes Gestein hindurchzuarbeiten. Und dieser Cañon ist über dreihundert Kilometer lang und sieben bis achtzehn Kilometer breit! –

»Durch seine Arbeit hat der Fluß in dem Antlitz der Erde Landschaften ausgeschnitten, die den Beschauer geradezu kleinmütig machen und zu tiefstem Nachdenken herausfordern. Was sind dagegen die Bilder, die er bisher erblickt hat! Als er am Fuß der Alpen stand, sah er zu schneebedeckten Höhen und mächtigen Gesteinmassen empor. Wenn er am Rand des Coloradocañons steht, blickt er abwärts und sieht gähnende Leere unter sich. Aber an der entgegengesetzten Seite dieses Schwindel erregenden Tales steigen die Felswände bald lotrecht, bald in sanften Abhängen wieder empor. Man glaubt vor den künstlerisch verzierten Fassaden ungeheurer Häuser und Schlösser in einer Riesenstadt zu stehen. Die Talwand zeigt Nischen und Höhlen, die an ein Zirkushalbrund mit aufsteigenden Bankreihen erinnern. An den Seiten dieser Höhlen treten Felsengiebel und Vorsprünge gleich Turmgebäuden und Altanen hervor. Unter mächtigen Friesen erheben sich in die Wand eingelassene oder freistehende Säulen, alles in dem gleichen ungeheuern Maßstab. Die senkrechten Felswände sind am dunkelsten gefärbt, im übrigen schillert das ganze Land in rosa, gelben, hellroten und warmen braunen Farbentönen, und die Sonne überflutet mit ihrem Golde die majestätische Öde. Kein Rasen, keine Vegetation verleiht den wage- und senkrechten Flächen einen grünen Schimmer. Nur hier und dort reckt eine Tanne ihre Krone über den Rand des Abgrundes hinaus, und wenn ihre Zapfen fallen, stranden sie drunten in der Tiefe des Tales.

»Am frühen Morgen, wenn die Luft nach der nächtlichen Abkühlung klar und rein und die Sonne erst aufgegangen ist, liegt der Cañon in tiefster Finsternis da, und hinter den grell beleuchteten Säulenkapitälen liegen die Schatten schwarz wie Kohlenruß. Dann tritt langsam die kühne Skulptur in ihrem ganzen Glanze hervor. In stiller Nacht, wenn der Vollmond seine Lichtbrücke über die Erde spannt, herrscht über dem Cañon vernichtendes Schweigen; man hört nicht einmal den Fluß rauschen, die Entfernung ist zu groß. Märchenstimmung ergreift den Besucher. Er glaubt sich in eine verzauberte Welt hineinversetzt, und ihm ist, als müßte er, einen Schritt über den Rand des Abgrundes hinaus, aus unsichtbaren Flügeln nach hellen, strahlenden Märchenschlössern hinschweben.«

»Das muß ja herrlich sein! Aber in einer Viertelstunde sind wir in der Salzseestadt, und dort wollten Sie ja aussteigen. Nach dem Coloradocañon komme ich doch nie. Aber jedenfalls danke ich Ihnen, und nun adieu!«

Der in die Schönheit seiner Phantasiebilder ganz versenkte Gelehrte rafft seine Siebensachen zusammen und steigt aus; der große Salzsee und die Hauptstadt der Mormonen sollen die ersten Stationen seiner Forschungsreise sein. Fritz fährt weiter, durch die Gebirgsgegenden Nevadas und Kaliforniens, und als der Zug endlich in San Francisco hält, hat er das Ziel seiner Wünsche erreicht. Hier sieht er eine der schönsten Städte der Welt auf einer Halbinsel an einem tiefen, weichen, von Bergen umrahmten Meerbusen. Die Spuren des furchtbaren Erdbebens, das vor wenigen Jahren die Stadt bis in den Grund zerstört hat, sind fast ganz verwischt, und neue Prachtgebände aus Eisen und Stein haben sich aus den Trümmerhaufen erhoben. Er begreift bald, daß San Francisco als Welthandelsstadt für die endlosen Wasserstraßen des Stillen Ozeans ebenso wichtig ist, wie Neuyork für die des Atlantischen Meeres. –

Gegenwärtig ist unser Auswanderer noch immer in der Hauptstadt des äußersten Westens. Wir aber überlassen ihn jetzt seinem selbstgewollten Schicksal, wünschen ihm all den Erfolg, den er erstrebt hat, und hoffen, daß er einer der wenigen ist, die dereinst das Land ihrer Väter wiedersehen.


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