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15. Chicago.

Der Zug, in dem unsere beiden Reisenden sitzen, hat die Grenze Pennsylvaniens überschritten und fährt nun westwärts durch die Staaten Ohio und Indiana. Nach Norden und nach Süden hin strecken sich endlose Ebenen zum Horizont, die mit Mais und Weizen, Hafer und Tabak bebaut sind. Am häufigsten sind jedoch die Maisfelder, ein unübersehbares Meer reifen Getreides. Man hat gerade mit der Ernte begonnen; riesige Maschinen, zu deren Bewegung ganze Pferdeherden nötig sind, mähen die Stauden und häufen sie in Diemen auf, während andere Maschinen die Diemen auf die Erntewagen werfen. Die Arbeiter haben eigentlich nichts weiter zu tun, als die Pferde richtig zu lenken; alles andere besorgen die Maschinen. Bei solchen Unmassen von Getreide, denkt Fritz ganz richtig, würden ja auch Menschenhände nie fertig werden; Armeen von Arbeitern würden wie Wühlmäuse unter den Maiskolben verschwinden.

Jetzt eilt der Zug am Ufer des Michigansees entlang, dessen blaue Fläche sich nach Norden erstreckt, und bald darauf hält er in Chicago, der Königin der kanadischen Seen. Hier trennt sich Fritz mit einem kräftigen Händedruck von seinem Begleiter, um nun auf eigene Faust sein Glück zu versuchen.

Er begibt sich zunächst zu einem Büro der Deutschen Gesellschaft, die die Aufgabe hat, sich der einwandernden Landsleute anzunehmen und ihnen Arbeit nachzuweisen.

Von allen Städten Nordamerikas zählt Chicago die meisten Deutschen unter seinen mehr als zwei Millionen Einwohnern; jeder vierte Mensch ist hier ein Deutscher, und in zweihundertundfünfzig Schulen der Stadt wird Deutsch gelehrt. Schiller, Alexander von Humboldt und Fritz Reuter haben hier ihre Denkmäler, und der ganze Charakter der Stadt mit ihren prächtigen öffentlichen Gebäuden und ihren großen Parks ist zum nicht geringen Teil durch den Fleiß und Kunstsinn ihrer deutschen Bewohner im glücklichsten Sinne beeinflußt.

Aber die Nachfrage nach Arbeit ist auch auf dem Stellenbüro der Deutschen Gesellschaft weit größer als das Angebot, und für unsern Fritz beginnt nun ein endloses Hin- und Herlaufen und -fahren, ein Anmelden und Nachfragen, ein Kampf mit den Entfernungen und Fahrverbindungen, die er erst kennen lernen muß und die ihn in der ersten Zeit überall zu spät kommen lassen. Denn Chicago, die jüngste Weltstadt, ist der Bodenfläche nach achtmal so groß wie Berlin! Die Fabriken sind nicht in bestimmten Stadtteilen konzentriert, sondern allenthalben verstreut, und weite, unbebaute Strecken zerteilen das Weichbild der Stadt. Noch vor hundert Jahren war diese Gegend Wald- und Sumpfland; im Jahre 1818 wohnten hier vier weiße Ansiedler, und erst 1829 kam es zur Anlage eines Dorfes. Seitdem aber durch den Bau von Kanälen die Verbindung zum Chicagofluß erleichtert wurde, nahm der Ort einen ungeheuer schnellen Aufschwung; im Jahre 1848 hatte er 20 000, 1870 aber schon 300 000 Einwohner. Da zerstörte im Jahre 1871 eine ungeheure Feuersbrunst fast die ganze Stadt. Aber als wenn dieses Unglück die Arbeitskraft und Unternehmungslust der Einwohner verzehnfacht hätte, wuchs innerhalb Jahresfrist Chicago aufs neue empor, und an Stelle der Holzgebäude erstanden nun steinerne Paläste. Und als im Jahre 1893 eine Weltausstellung in Chicago eröffnet wurde, wußten die Millionen Besucher aus aller Herren Länder nicht genug von den Wundern Chicagos zu erzählen.

Heute ist Chicago die fünftgrößte Stadt der Welt, und sein Warenumsatz pro Jahr wird auf 11 Milliarden Mark geschätzt. Aber auch diese Medaille hat ihre Kehrseite. Chicago hat mehr als siebentausend Schenken und gibt jährlich 500 Millionen Mark für Bier und Branntwein aus! Infolgedessen herrscht in manchen Stadtteilen ein Leben wie in einer Räuberhöhle. Die Polizei ist machtlos, und man ist auf den Straßen seines Lebens keineswegs immer sicher. Dabei wird hier für Volksbildung eifrigst gesorgt, und neben den Volksparks und Spielplätzen gibt es eine Menge Bibliotheken, ja sogar Kinderbibliotheken, in deren Räumen es stets von studierenden Knirpsen wimmelt.

Bei seiner Suche nach Arbeit sieht aber Fritz bald ein, daß die glänzenden Aussichten, die zur Zeit jener Weltausstellung so viele Deutsche nach Chicago gelockt haben, längst nicht mehr bestehen, und daß das stolze Wort eines Präsidenten der Vereinigten Staaten: in Amerika suche die Arbeit den Mann, nicht der Mann die Arbeit, längst keine Gültigkeit mehr hat. Nach wochenlangem Warten ist ihm aber doch das Glück hold. Zu einer Beschäftigung in einem der großen Schlachthöfe Chicagos, in denen täglich bis zu 60 000 Stück Vieh geschlachtet und für den Verkauf und Versand zurecht gemacht werden, hatte Fritz sich nicht entschließen können, obgleich er mit seinen Ersparnissen schon bald zu Ende war; denn er hatte schon in Deutschland zu viel Abschreckendes und Widerwärtiges über den Betrieb der amerikanischen Schlachthäuser gehört. In zahlreichen Fabriken, die Waggons und Mäh- und Dreschmaschinen zu tausenden alljährlich liefern, hatte er vergebens angefragt. Da gelingt es ihm schließlich, bei einer der großen Flößereien anzukommen, die aus den unerschöpflichen Wäldern am Rande der großen kanadischen Seen unermeßliche Lasten von Bauholz herbeischaffen. Denn auch im Holzhandel ist Chicago die bedeutendste Stadt der Erde. Diese Beschäftigung gefällt unserm Fritz um so besser, als sie doch wenigstens den Vorteil bietet, den ganzen Tag in frischer Luft zu arbeiten und Land und Leute kennen zu lernen.


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