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43. Unter den Indianern des Gran Chaco.

Im Jahre 1908 begab sich ein junger Schwede namens Erland von Nordenskiöld, der Sohn des Entdeckers der Nordostpassage, nach Buenos Aires, der Hauptstadt der Bundesrepublik Argentinien und der größten Stadt Südamerikas, die am Südufer des Rio de la Plata liegt und 1½ Millionen Einwohner zählt. Von hier reiste er, so weit die Eisenbahn führte, nach Nordwesten und traf bereits an ihrem Endpunkt mit Indianern von der großen Ebene des Gran Chaco im Osten der Andenketten zusammen. Die ehemals freien Söhne der Wildnis sah er hier als Sklaven der Weißen schwere Arbeit in deren Zuckerfabriken verrichten, ein trauriges Los, das sie körperlich und geistig ruiniert.

Dann bahnte sich der schwedische Forscher durch den Urwald einen Weg zu den freien Räumen hinauf, wo der mit Schnee bedeckte Scheitel des Calilequaberges hoch über den düstern Schlupfwinkeln der Wälder, über den Zuckerfabriken und Sägewerken und dem ganzen Leben und Treiben der Menschen drunten in der Tiefe emporragt. In diesen Regionen herrscht noch die Erdgöttin Pachamama, der die Indianer dieses Gebirgsstockes, die nur dem Namen nach Christen sind, Opfer darbringen. Wenn sie längs der Abhänge hinwandern und die Pässe überschreiten, versäumen sie nicht, einen am Wege aufgelesenen Stein als Opfergabe auf die Steinpyramide zu legen, die sich auf der Paßschwelle erhebt, damit sie auf der Wanderung nicht ermüden.

siehe Bildunterschrift

Ferd. Keller, Humboldt auf dem Orinoco.

siehe Bildunterschrift

lndianerhütte am Mamoré.

Die Indianer dieser Gegend hausen in kleinen viereckigen Hütten, die aus Stein oder an der Sonne getrockneten Ziegeln erbaut und mit Gras gedeckt sind. Zum Schutz gegen den Blitz krönt ein Kreuz den Dachfirst. Gegen andre Gefahren und Leiden aber weiß der Medizinmann den besten Rat. Beinschmerzen heilt er mit dem Fett des Tapirs, des Bären oder des Jaguars, der ein verwandelter Mensch sein soll. Bei Erdbeben pilgert man nach den Begräbnisplätzen, um dort zu beten, und bei Hagelschlag verbrennt man Palmblätter, die in Kreuzform hingelegt werden. –

Dann ritt Nordenskiöld nordwärts nach dem Pilcomayo, einem großen Fluß, der aus dem östlichen Teil der Anden austritt und seine Schlammassen durch die Ebenen des Gran Chaco wälzt. Während der trocknen Jahreszeit wirbelt der Sturm diesen Schlamm in undurchdringlichen Wolken umher, und wenn die Indianer das Präriegras in Brand stecken, um den leckeren Feldmäusen beizukommen, verursacht die weiterfressende Flamme oft vernichtende Brände in den Dickichten, Palmenhainen und üppigen Wäldern. Die Regenzeit beginnt im November oder Dezember und dauert bis zum April oder Mai. Während eines großen Teils des Jahres leben die Indianer fast ausschließlich von Fischen, die der Fluß in reicher Menge bietet.

Selten in ein weißer Mann so tief in das Leben und innerste Wesen eines Naturvolkes eingedrungen, wie Erland von Nordenskiöld. Er behandelte die Indianer nicht als tieferstehende Geschöpfe, sondern als gleichgestellte, und verkehrte mit ihnen wie mit seinesgleichen. Dadurch erwarb er sich bei diesen wilden Stämmen ein unbegrenztes Vertrauen und war stets ein gern gesehener Gast. Wenn das junge Volk an den Ufern des Flusses um die Lagerfeuer tanzte, nahm er an ihren Belustigungen teil, und wie der Indianer schmückte er seine Stirnbinde mit bunten Federn, trug er einen grobgewebten Schurz um die Hüften, bemalte sich sein Gesicht, ließ sich seinen Arm von einer in dieser Kunst bewanderten alten Indianerin tätowieren und lauschte den Sagen und Kriegsliedern der Eingeborenen, wenn sie vor ihren Hütten friedlich beisammen saßen und die Bierkalebassen die Runde machten. Er sprach ihre Sprache, aß ihre Speise und trank aus ihren Bechern. Er war gleichsam ein weißer Indianer geworden. Wenn die Rothäute am Fluß die Fische in ihre Netze lockten und scheuchten, ging er mit. Wenn sie im Waldesdickicht Wildschweine mit Hunden und Keulen jagten oder wenn sie die Vögel des Waldes mit abgestumpften Pfeilen flügellahm schossen, war er dabei, und wenn nach beendeter Tagesarbeit die Tabakspfeife von Mund zu Munde ging, saß er mit in der Reihe und wartete, bis die gemeinsame Pfeife auch an ihn kam, um einige Züge daraus zu tun.

Nur auf dem Kriegspfad folgte er ihnen nicht. Wenn einer der Indianerstämme zum Kriegszug gegen Nachbarn aufbrach und ihn zu überreden suchte, sich anzuschließen, erklärte er ihnen, daß der weiße Mann nicht das Recht habe, die Indianer mit seinen überlegenen Feuerwaffen wie Vögel niederzuknallen. Man versprach ihm Pferde, Gefangene und Skalpe bei Verteilung der Beute und konnte nicht begreifen, daß ihn das gar nicht lockte! Und oft versuchte er, sie von ihren kriegerischen Plänen zurückzuhalten, denn ihn dauerte die zwecklose Aufopferung. Auf dem Kriegspfad verbindet die Indianer kein starkes Zusammenhalten, und kein großer, mächtiger Häuptling vermag es, die Führung eines ganzen Stammes zu übernehmen und zu behaupten. Jedes Dorf zieht für sich in den Krieg, und von Ordnung ist keine Rede.

Manche Bräuche und Sitten der Indianer sind nach unsern Begriffen barbarisch, nach ihrer Anschauung aber durchaus natürlich. Wenn der Mutter ihr neugeborenes Kind zur Last wird, tötet sie es ohne weiteres. Der Sohn tötet seinen alten Vater oder seine blinde Mutter, wenn sie sich nicht länger selbst ernähren können, und niemand sieht darin etwas Unrechtes. Ja, er geht selbst so weit, sie lebendig zu verbrennen, wenn er glaubt, daß sie mit Hexen und bösen Geistern in Verbindung stehen! Die Toten werden in große Urnen gelegt und unter den Hütten der Lebenden eingegraben.

Einmal ritt Nordenskiöld mit einigen seiner Leute und einem Führer in den nördlichen Chaco und tief in die Wildnis hinaus. Da stieß er auf einen kriegerischen Stamm mit einem bösartigen Häuptling, und in dem Dickicht des Waldes lagen dessen Krieger mit Bogen und Keulen auf der Lauer. Nordenskiöld ritt dennoch geradenwegs in das Dorf des Häuptlings hinein. Erzürnt trat ihm dieser mit dem Streitkolben in der Hand entgegen. Als ihm Nordenskiöld aber ein Messer schenkte, schien er besänftigt zu sein und legte seine Waffen nieder. Durch die Drohungen des Häuptlings eingeschüchtert, führte der Dolmetscher aber die Schar in verkehrter Richtung aus dem Dorf hinaus, und als es Abend wurde, mußte man wieder in einem Indianerlager Rast machen.

Während der Nacht erwachte der Dolmetscher durch ein schrilles Signal vom Walde her und bemerkte, wie sich einer der Indianer leise erhob, fortschlich und bald darauf mit einer Schar Bewaffneter zurückkehrte, die sich flüsternd unterhielten. Einer der Angekommenen fragte, warum die Indianer des Lagers nicht die Reisenden getötet hätten, um in den Besitz der Feuerwaffen des Fremden zu kommen und blonde Skalpe zum Schmuck ihrer Hütten bei Festen und Schmausereien zu gewinnen. Als nun der Dolmetscher Lärm machte, verschwanden die Aufhetzer wieder im Walde.

Bis in das Herz Bolivias hinein dehnte Nordenskiöld seine Reisen aus und besuchte die letzten Überreste der einst so volkreichen Stämme, die auf den Anden in den Nebenflüssen des Madeira Fischfang treiben. Aus Fikusrinde klopfen sie sich ihre Kleiderstoffe zurecht und schnitzen sich ihre Pfeile aus dem schönen, saubern Pfeilgras. An den Ufern des Sara wohnen sie in viereckigen Hütten, deren Wände aus Bambusrohr und Lehm bestehen und deren Dächer Palmblätter bilden. Der Feuerherd steht in einem besondern Küchenschuppen. Kreuze und Heiligenbilder verraten, daß sie wenigstens dem Namen nach Christen sind. Aber in der Tiefe ihrer Seele sind sie noch völlig Heiden, und noch heute tanzen sie, in seltsame Larven und Straußfedergewänder gehüllt, heidnische Tänze um ihre Lagerfeuer. Nachts schlafen sie auf Palmblättermatten; als Kopfkissen dient ein Holzklotz. Auch sie sind Sklaven der Weißen geworden; der Branntwein ist ihr Unglück und hat sie in Schulden gestürzt, und ihre herzlosen Gebieter zwingen sie, auf den Plantagen und in den Gummiwäldern ihre Trinkschulden abzuarbeiten.

Mit Indianern als Führer und mit Paddelruderern befuhr Nordenskiöld zu Boot den Rio Grande, einen Nebenfluß des Rio Mamoré, der wieder ein Nebenfluß des Madeira, eines Nebenflusses des Amazonenstroms ist. Während sein Kanu am Saum des Urwalds entlang glitt, saßen die Eingeborenen mit rotbemalten Gesichtern und in Hemden aus geklopftem Bast regungslos am Ufer, aufmerksam auf jeden Laut achtend. Sie merken es, wenn der kleinste Fisch im Wasser plätschert, sie erkennen jeden aus dem Wald dringenden Ton und ahmen das Geschrei und das schnarrende Lachen der Affen täuschend nach. Oft landete Nordenskiöld mit seinen Begleitern und ging in eines der in den Urwald eingebetteten Dörfer hinauf, die von Bananenpflanzungen, Ananasbeeten und Gemüsefeldern umgeben sind. Hier spielen die Kinder mit gefangenen Affen, Beutelratten und Vögeln. Auf Wandbrettern in den Hütten liegen Pfeile, Boote und Ruder; Wertsachen verwahrt man in geflochtenen Körben. Stirbt ein Mitglied der Familie, so ziehen die Überlebenden fort, um dem übelwollenden Geist des Toten zu entfliehen. Eine Fülle prächtiger Vögel lebt im Walde und auf den morastigen Ebenen jener Gegend, schwarze Störche, Wildenten, Ibisse, Flamingos und Watvögel.

Auf der Suche nach Chacobo-Indianern gelangte Nordenskiöld einst mit seinen Ochsenwagen an einen hochangeschwollenen Fluß, der mit den Wagen nicht zu passieren war. Man brachte also das notwendigste Gepäck in einem Boot unter und schwamm hinüber. Als Nordenskiöld mit seinen Begleitern mitten im Fluß war, tauchte plötzlich ein Alligator unter ihnen auf. Lautes Geschrei vertrieb ihn. Dann ging es vom andern Ufer aus zu Fuß weiter. Oft war der Wald überschwemmt, und man mußte von Baum zu Baum klettern oder durch den überschwemmten Wald rudern und sich mit Waldmesser und Beil einen Weg bahnen. Endlich erreichte man wieder trocknen Boden. Frische Fährten verrieten die Nähe von Indianern, und bald saß Nordenskiöld in einem Chacobo-Dorfe.

Erstaunt und verdrießlich über den plötzlichen Besuch, begannen die Indianer den Fremdling mit ihren Pfeilen zu ängstigen, damit er sich aus dem Staube mache. Als er sich aber dadurch nicht aus seiner Ruhe bringen ließ, wies man ihm und seinen Begleitern eine Wohnstätte in dem geräumigen Trinkhause an. In der Mitte dieses Hauses steht ein gewaltiges Tongefäß; es enthält eine Art Bier, das aus den Wurzelknollen der Maniokstaude gebraut wird. Um dieses Gefäß herum tanzen die Indianer zu den Tönen der Flöte, und draußen sitzen die Weiber auf der Erde und schauen zu, wie sich die Männer unterhalten. Nachbarn mit Bogen und Pfeilen in der Hand kommen auf Besuch, sie trinken von dem ihnen vorgesetzten Maniokbier bis zu widerwärtiger Unmäßigkeit. Auch sie bleiben die Nacht über da und binden ihre Hängematten im Trinkhause an. Unter den Matten lassen sie kleine Feuer brennen, um die Mücken und die Nachtkälte der Tropen fernzuhalten.

Wunderbar und geheimnisvoll ist so eine Nacht in einem Indianerhaus. In dem flackernden, matten Schein der Feuer heben sich Bogen, Pfeile und Verzierungen tief schwarz gegen das Dach ab. Alles ringsum ist fein und sauber und gut gehalten. Einige der kupferbraunen Gäste führen im Flüsterton noch eine Unterhaltung über Kriegstaten und Jagdabenteuer, und von draußen, aus der nächtlichen Wildnis, dringen rätselhafte Laute herein.

Die großen Anpflanzungen um die Hütten herum sind die hauptsächlichsten Einnahmequellen der Chacobo-Indianer. Sie bauen Maniok, Bananen und Reis und bewahren die Ernte in Scheuern auf, die auf Pfählen ruhen. Die fremden Reisenden wurden mit Maiskolben, gerösteten Maniokknollen, Maniokmehl und gekochten Fischen bewirtet.

Die Männer sind stärker auf Putz erpicht als die Weiber. Sie bemalen sich das Gesicht rot und die Arme lila. Durch die Nasenscheidewand bohren sie ein Loch und stecken rote Tukanfedern als Zierat hindurch. In den Ohrläppchen tragen sie die Vorderzähne des Wasserschweins und um den Oberarm eine Boa aus Daunen und Papageienfedern. Das ungeflochtene Haar hängt bei Weibern und Männern lang herab, und den Leib reiben sie mit Vanille ein, um angenehm zu duften. Bei festlichen Gelegenheiten behängen sie sich mit allen ihren Schmucksachen, stecken sich rote, blaue und brandgelbe Papageien- und Tukanfedern ins Haar und binden sich eine hübsche, aus anderthalb Tausend Affenzähnen bestehende Kette um den Hals. Da man hierzu nur Vorderzähne benutzt, muß der Indianer mit seinen kunstlosen Pfeilen gegen zweihundert Affen erlegen, ehe sein Halsschmuck fertig ist.


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