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37. Der Kondor.

Der Kondor ist der König unter den Vögeln Südamerikas und der mächtigste aller Geier der Erde. Seltsam sieht er aus mit seinem grauen Kamm auf dem Scheitel, den herabhängenden Fleischlappen neben dem Schnabel und dem nackten Hals, den ein Ring weicher Daunen umgibt. Lautlos schwebt er über den Ketten der Anden, und in der Dämmerung läßt er sich auf einen vorspringenden Felsen nieder, seinen Leib in den schwarzen Mantel seiner gewaltigen Flügel hüllend. Wie er so sitzt, sieht er koboldartig und hexenhaft aus, besonders, wenn er mit dem Schnabel in den Eingeweiden verfaulender Tiere wühlt und an ihnen herumzerrt. Aber ehrfurchtgebietend und majestätisch ist er, wenn er sich zur Sonne emporschwingt. Auf schwindelerregenden Höhen, wo menschliches Leben in der dünnen Luft erlöschen würde, fühlt sich der Kondor noch behaglich. Er breitet seine Flügel aus, deren Spannweite von einer Spitze zur andern sechs Meter beträgt, und steigt noch mehrere tausend Meter höher über die Erde empor. Den Gipfel des Aconcagua sieht er wie einen glänzenden Fleck unter sich in der Tiefe. Das Rauschen der Schmelzbäche der Soratagletscher dröhnt zu ihm empor, wird schwächer und verstummt, je höher er steigt. Wenn aus dem Cotopaxikrater glühendheiße Dampfwolken herauswirbeln, glaubt er wohl, daß auf der runzeligen Stirn der Erde ein Geschwür geplatzt sei.

Wie gut kennt er die Kordilleren der Anden! Sein ganzes Leben hat er ja über ihnen zugebracht, und mit seinen Vettern ist er zwischen der Magalhães-Straße im Süden und der Hochebene von Quito im Norden unzählige Male hin und her geflogen. Gleich einer vielfachen Mauer liegen die grauen Berge tief unter seinen luftigen Wegen. Er kennt die nackte, gelbe Wüstenküste nach dem Stillen Ozean zu und die abschüssigen Gründe der feuerroten Porphyrfelsen am Westfuß der Anden. Er weiß, daß nur da, wo Flüsse den Küstengürtel durchqueren, Ernten von Reis und Mais, Zuckerrohr, Oliven und Weintrauben aus dem Boden hervorgezaubert werden, und daß in den Talmündungen im Schutz der Felsen eine üppige Vegetation wuchert von Mimosen und Akazien, Weiden und Walnußbäumen, Tamarinden und Eukalyptus. In einigen Tälern hat er sogar den Baumwollstrauch wild wachsen sehen. Während der heißen Jahreszeit, vom Dezember bis zum März, sieht er die Stadt Lima wie eine Bratpfanne im Sonnenbrande liegen. Nur vom Juni bis zum September ist es dort unten erträglich. »Da lobe ich mir die kalten Winde der Anden«, denkt der Kondor und schwebt weiter über die Silbergruben am Titicacasee.

Die Vorfahren des Kondors sahen das freie Leben der Indianer im grauesten Altertum. Sie sahen die Inka als Kinder heranwachsen, ihre Stirn mit bunten Federn, den vergänglichen Symbolen ihrer Würde, schmücken, sahen sie in der Blütezeit ihrer Macht, und dann altern und sterben, um schließlich in ihre stillen Gräber im Sonnentempel geführt zu werden. Dreihundert Jahre lang haben die Vorfahren des Kondors beobachtet, wie die spanischen Eindringlinge das einst so glückliche Peru knechteten und auspreßten – endlich war die Zeit reif, wo die letzten Tyrannen vertrieben wurden. Jetzt weiß der Kondor, daß nur noch die Hälfte der Bevölkerung Perus aus Indianern besteht, und es dauert ihn, wenn er sieht, wie die Weißen und die Schwarzen und die Gemischtfarbigen sich nach allen Seiten hin immer mehr auf Kosten der reinen amerikanischen Rasse vermehren.

Voll Staunen und Schrecken stieg der Kondor zu größerer Höhe als je empor, als die ersten Eisenbahnzüge sich auf die Pässe der Anden hinaufarbeiteten, 4500 Meter über dem Meeresspiegel! Was trieb nur die weißen Männer dazu, auf Höhen, die den Gipfel des Montblanc überragen, Tunnel in die Berge zu sprengen!

Wenn nun der Kondor so hoch emporgestiegen ist, daß kein Laut dieser Erde mehr an sein Ohr dringt, dann ruht er auf seinen ausgespannten breiten Flügeln und schaut sich um. Kein Fernglas der Erde ist stark genug, um ihn von da unten aus zu erkennen. Ein gestürztes Lama ist eben erst seine Mahlzeit gewesen, und sein Körper selbst wiegt schon ohnehin schwer genug, Das Gewicht seiner Muskeln, Knochen und gewaltigen Krallen will ihn abwärts ziehen, und so leicht, wie seine Federn auch sind, leichter als er ist, können sie ihn doch nicht machen, denn sie selbst sind ja schwerer als die Luft. Und dennoch schwebt er droben so regungslos wie eine Seifenblase! Er kennt keinen Schwindel und keine Furcht. Er weiß nichts davon, daß ein plötzlicher Muskelkrampf ihn wie einen Stein auf die Felsen hinunterschmettern würde. Er ist ganz allein da oben, denn kein anderes lebendiges Wesen vermag, ihm auf diesen luftigen Wegen zu folgen. Rings umgibt ihn die Stille des grenzenlosen Raumes, und er hört nichts, als das Sausen des Sturmes in den Federn seiner Flügel.

Weit hinten im Westen schimmert der Ozean. Senkrecht in der Tiefe ziehen sich die höckrigen Ketten der Anden mit Eis- und Schneestreifen hin. Nach Osten hin verschwimmen die grauen Farbentöne der Felsen in Grün, das sich immer mehr verdichtet. Das sind die Urwälder Brasiliens. Hier und dort blitzt es zwischen den Bäumen, wenn das Morgenlicht sich in dem Wasserspiegel eines der riesigen Nebenflüsse des Amazonenstroms bricht.

Höher noch aber als der Kondor steigt die Sonne. Die Hitze des Tages lockt Dünste und Nebel aus den Wasserläufen und Sümpfen des Amazonenstroms, und aus dem undurchdringlichen Dickicht des Urwaldes brodelt ein Dampf von Feuchtigkeit empor. Graue Schleier breiten sich über die Erde und bedecken Brasilien. Da neigt der Kondor leicht seine Schwingen, und durch sein eigenes Gewicht abwärts gezogen, saust er mit ungeheurer Geschwindigkeit im Gleitfluge meilenweit durch die dichter werdenden Luftschichten hinab. Auf einem steilen Felsen in den Anden Bolivias wartet sein Weibchen, dort ist sein Heim.


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