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42. Auf dem Orinoco.

Von dem Flußsystem des Orinoco hatte man vor Humboldts Entdeckungsfahrt nur eine höchst ungewisse Vorstellung. Daß der Orinoco einen breiten Wasserarm abzweige und dem Rio Negro, einem stattlichen Nebenfluß des Amazonenstroms, zusende, daß also diese beiden großen Wasseradern Südamerikas in einer natürlichen Verbindung miteinander ständen, dieses merkwürdige Naturphänomen galt noch bei vielen Gelehrten als eine aller tatsächlichen Begründung entbehrende Sage. Alexander von Humboldt war es vorbehalten, diese eigentümliche Gabelung des Orinoco und den Lauf des Casiquiare, des Verbindungsgliedes zwischen den beiden Flußsystemen, einwandfrei festzustellen.

Am 30. März 1800 schiffte er sich mit seinem Gefährten in San Fernando auf dem Rio Apure, einem damals so gut wie unbekannten Nebenfluß des Orinoco, ein. Auf dem Hinterteil eines breiten Bootes, einer sogenannten Piroge, hatte man eine Hütte mit Tisch und Bänken errichtet und reichlich Proviant für vier Wochen, vor allem Bananen für den Steuermann und die vier eingeborenen Ruderer, und auch Branntwein zum Tauschhandel mit den Indianern eingenommen. Mit der kräftigen Strömung ging es schnell flußabwärts, und bald nahm der Urwald die Reisenden auf.

Schon am sechsten Tag lief die Expedition in den Orinoco ein. Nun ging die Fahrt stromaufwärts. Soweit das Auge reichte, dehnte sich eine ungeheure Wasserfläche vor den Augen der Forscher aus. Der Urwald auf beiden Seiten trat bis zum Horizont zurück, und die Uferlandschaft zeigte sich von einer erhabenen Einsamkeit. Bei Encaramada drängten sich Berge an den Strom heran, malerische Felswände waren von üppigstem Pflanzenwuchs wie mit Teppiche behangen, nur ihre Gipfel waren kahl und glichen verfallenen mächtigen Gebäuden.

Ein frischer Segelwind führte die Piroge an großen Inseln vorüber. Einmal wäre sie beinahe umgeschlagen, Papiere und Bücher Humboldts schwammen bereits auf dem Wasser. Da riß zum Glück das Segeltuch und die Gefahr war vorüber. Als der indianische Steuermann Vorwürfe über sein ungeschicktes Manöver erhielt, meinte er ruhig, es werde den weißen Männern gewiß nicht an Sonne fehlen, ihre Papiere wieder zu trocknen! Und daran fehlte es in der Tat nicht, wohl aber oft genug an Trinkwasser, um den quälenden Durst zu löschen. Wenn die Reisenden der gefährlichen Jaguare wegen im Boot selbst oder auf einer kahlen Flußinsel übernachteten, mußten sie sich oft mit dem trüben, lauwarmen Orinocowasser begnügen. Hier und da zeigten sich an den Ufern abstoßend aussehende Indianer, deren einzige Kleidung in einer roten Bemalung bestand, eine primitive Toilette, in der gleichwohl ein großer Luxus entfaltet wurde. Denn dieser rote Farbstoff, Onoto genannt, war so teuer, daß der Verdienst von zwei Arbeitswochen auf einer Missionsanstalt oder bei einem Ansiedler kaum zu einer den ganzen Körper bedeckenden Farbmasse ausreichte. So wie wir etwa einen Menschen bemitleiden, der in Lumpen einhergehen muß, pflegten die Indianer den als einen armen Teufel zu bezeichnen, bei dem die Farbe nur für einen Teil des Körpers ausgereicht hatte.

Oberhalb der breiten Mündung des Rio Meta wurde der Orinoco gegen fünf Kilometer breit, und bald machten die gewaltigen Stromschnellen von Atures und Maypures die Weiterfahrt unmöglich. Hier durchbricht der Orinoco das Parimegebirge und stürzt über zwei granitne Stufen abwärts. Für die Überwindung dieser Katarakte war die Piroge viel zu groß. Der Vorsteher der Missionsanstalt bei diesen Katarakten, Pater Bernardo Zea, verschaffte daher den Reisenden einen Einbaum, wie ihn die Indianer zu ihren Flußfahrten gebrauchen; er war dreizehn Meter lang, aber nur einen Meter breit, und unter der schmalen Hütte auf seinem Hinterteil konnten die Europäer nur eben den Oberkörper gegen die sengenden Sonnenstrahlen bergen. Neben ihren Büchern, Papieren, Herbarien und Sammlungen führten sie aber auch eine sich stets vergrößernde Menagerie von Affen und Vögeln mit, und zwischen deren Käfigen und den Proviantvorräten hockte nun die Besatzung so eng eingeklemmt, daß die Ankunft am abendlichen Rastort jedesmal eine Erlösung wie aus einem Gefängnis bedeutete. Seit jener Fahrt nahm Humboldt die Gewohnheit an, auf den Knien zu schreiben, was er auch später, selbst in seinem Berliner Studierzimmer, zu tun pflegte.

Pater Zea hatte sich der Expedition angeschlossen. Ein großer Gewinn für die Forscher, denn seiner Vermittlung verdankten sie die Hilfe, die sie allenthalben bei den Indianern fanden. Bei den »Raudales« von Atures und Maypures war der Fluß bedeutend enger, und zwischen gewaltigen Granitklippen stürzte das Wasser in schäumenden Fällen herab. Oft war die einigermaßen ruhige Wasserstraße so schmal, daß das Fahrzeug zwischen den Felsen stecken blieb, an Seilen vorwärts gezogen oder am Ufer stromaufwärts getragen werden mußte. Vierzehn Tage lang sahen die Europäer kein Dach über ihrem Kopf, und es kostete unsägliche Mühe, bis schließlich wieder ruhiges, fahrbares Wasser erreicht wurde.

Nach einem kurzen Erholungsaufenthalt steuerten die Reisenden in einen Nebenfluß des Orinoco, den Atabapo, hinein und dann wieder in dessen Nebenfluß, den Rio Temi, dessen Lauf sie aufwärts verfolgten. Da der Fluß übergetreten war, fuhren sie oft in schmalen Kanälen durch den dichtesten Urwald bis zum sogenannten Trageplatz am Pimichin, wo schon die Indianer gewöhnt waren, ihre Fahrzeuge aus dem noch zum Flußgebiet des Orinoco gehörenden Rio Temi über Land an den nahen Bach Pimichin zu schaffen. Auf hölzernen Walzen wurde Humboldts Kanu fünf Tage lang vorwärts geschoben, und dann ging die Fahrt auf dem Pimichin weiter. Schon nach fünf Stunden lief man in den Rio Negro ein, der einer der bedeutendsten Nebenflüsse des Amazonenstroms ist.

Am 10. Mai erreichte dann Humboldt mit seinen Begleitern die Stelle, wo der Casiquiare aus dem Orinoco von Norden her dem Rio Negro zuströmt, und nachdem sie zehn Tage lang gegen dessen starke Strömung aufwärts gerudert waren, gelangten sie richtig wieder in den Orinoco! Damit hatte Humboldt die Verbindung der beiden Flußgebiete, des Amazonenstroms und des Orinoco, festgestellt und bald auch die einfache Lösung des Problems gefunden. Der siebenhundert Meter breite Orinoco wird durch eine sich plötzlich entgegenwerfende Felsschwelle gespalten; während der Hauptstrom seinen Lauf nach Nordwest fortsetzt, weicht etwa ein Drittel der Wassermasse nach links aus, und da sich hier das Terrain nach dem Rio Negro zu abdacht, findet sie ihren Weg zum Hauptstrom nicht mehr zurück, sondern eilt dem ihr begegnenden Rio Negro zu.

Gar zu gern wäre nun Humboldt zu der noch unerforschten Quelle des Orinoco vorgedrungen. Aber in diesen Gegenden wohnten kriegerische Indianer, die niemandem das Betreten ihres Gebietes erlaubten. Auf einer Brücke von Lianen, die sie in einem Engpaß über den Strom gespannt hatten, stand Tag und Nacht ein Wächter, um den Stromlauf zu beobachten und die Ankunft jedes Fremden zu melden. Sogar eine militärische Expedition hatte wenige Jahre vor Humboldts Reise an dieser Stelle umkehren müssen. Noch heute ist die Quelle des Orinoco nicht genau erforscht. Die Fieber erzeugende Atmosphäre, die undurchdringliche Urwaldwildnis und die mörderische Insektenplage sind bessere Wächter als jene heute längst verschwundenen Indianerposten.

Die Strömung des Orinoco trug nun die Expedition schnell flußabwärts; einen Monat später fuhren die Reisenden bereits wieder an der Mündung des Atabapo vorbei, und von den Ufern grüßten ihre alten Lagerplätze. Auf dieser Rückfahrt besuchte Humboldt auch die Höhle von Ataruipe, wo der ausgestorbene Indianerstamm der Atures seinen Begräbnisplatz hatte. In diesem vom tiefsten Wald umgebenen schaurigen Mausoleum zählte Humboldt nicht weniger als sechshundert wohlerhaltene Skelette von Männern, Weibern und Kindern. Jedes Skelett lag sorgfältig zusammengebogen in einem Korb aus Palmblattstielen, und die europäischen Forscher erregten bei den sie begleitenden Eingeborenen großes Ärgernis, als sie einige dieser Skelette ihren Sammlungen einverleibten und mit sich fortführten. Im August 1800 trafen sie wieder in Cumana ein.

Nach einem Abstecher nach Kuba setzte Humboldt mit seinem Begleiter seine Streifzüge durch Südamerika noch vier Jahre lang fort. Am 23. Juni 1802 erstieg er sogar den Chimborasso bis zur Höhe von 5810 Metern und stand hier auf dem höchsten Punkte, den je ein Mensch vor ihm erstiegen hatte! Nur eine tiefe Schlucht hinderte ihn, noch fünfhundert Meter höher bis zur Spitze vorzudringen. –

Ein kleiner Chimborasso ist auch das Werk, das Humboldt über diese seine Reise veröffentlichte, ohne es jedoch zu vollenden; es umfaßte dreißig mächtige Bände, zu deren Ausarbeitung der Gelehrte sich bis zum Jahre 1827 in Paris aufhielt. Von da ab ließ er sich in seiner Vaterstadt Berlin nieder, wo er als Berater des Königs Friedrich Wilhelm III. und seines Nachfolgers eine ungewöhnlich bevorzugte Stellung zum Besten der Wissenschaft und der Kunst mit großer, auch diplomatischer Gewandtheit zu benutzen verstand. Noch in seinem sechzigsten Jahre hatte er im Auftrag des russischen Kaisers Nikolaus eine Forschungsreise nach Russisch-Asien angetreten, und der Mann, an dessen Entwicklungsfähigkeit man in seiner Jugend zweifelte, erreichte, gestählt durch die Abhärtungen seiner Reisen und durch rastlose geistige Arbeit, ein Alter von neunzig Jahren!


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