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17. Der Niagara.

»Schade, daß wir nicht auf dem Eriesee herumschwimmen,« meint eines Tages der Engländer zu Fritz, als sie gemeinsam beim Frühstück sitzen, »denn an seiner Ostspitze liegt eines der Wunder der Welt und Nordamerikas berühmteste Sehenswürdigkeit.«

»Sie meinen wohl den Niagarafall? Von dem habe ich schon viel gehört.«

»Jawohl. Denken Sie sich, Sie säßen auf einem Dampfer, der aus dem Eriesee in den Fluß hineintreibt, der in den Ontariosee geht. Der Ontariosee liegt hundert Meter niedriger als der Eriesee, und ungefähr auf der Hälfte des Weges zwischen beiden Seen stürzt sich die Wassermasse über eine scharfe Schwelle in die Tiefe hinab. Die Schwelle selbst ist 900 Meter breit und wird durch eine mächtige Kalksteinschicht gebildet. Das Gestein darunter besteht aus loserem Schiefer. Die Zerstörung des Schiefers geht schneller vor sich als die des harten Kalksteins, der infolgedessen wie eine vorspringende Tischplatte überhängt, von deren Rand sich die gesammelte Wassermasse hinunterstürzt. Ist die Schiefermasse bis zu einem gewissen Grad verwittert und abgebröckelt, so kann der Kalksteinrand das Gewicht der Wassermasse nicht mehr tragen; dann brechen hin und wieder Stücke davon ab und stürzen mit betäubendem Gepolter in den Abgrund. So nagt der Fall im Laufe der Zeit an seiner Schwelle, und der Niagara wandert daher aufwärts in der Richtung nach dem Eriesee.«

»So schnell geht das doch wohl nicht?«

»Natürlich nicht, zu jedem Kilometer nach dem Eriesee hin braucht er etwa zwanzigtausend Jahre.«

»Nun, da wird er wohl noch an seiner alten Stelle sein, wenn ich später einmal hinkomme!«

»Ich denke, ja, und Sie finden sich leicht dorthin. Schon auf sechzig Kilometer Entfernung hören Sie das Tosen des ›Donnerwassers‹, und wenn Sie näher kommen, sehen Sie ungeheure Schaum- und Spritzwasserwolken fünfzig Meter unter der Schwelle des Falls aus dem Abgrund emporsteigen. Ja, der Niagara ist das großartigste, was ich je gesehen habe. Auf der ganzen Erde sollen ihn nur die Viktoriafälle des Sambesi übertreffen, die Livingstone entdeckt hat. Sie glauben nicht, wie winzig man sich vorkommt, wenn man sich auf eine der Brücken über oder unter dem Fall hinauswagt und die 8000 Kubikmeter Wasser in der Sekunde lautlos wie Öl über die Schwelle gleiten und im nächsten Augenblick mit Donnergetöse tief unten in Spritzwasser und Schaum zerstäuben sieht.«

»Es wäre wohl kein Vergnügen, von der saugenden Strömung über den Rand hinabgerissen zu werden!«

»Und doch hat ein Wagehals die Fahrt gemacht. Aber der Sicherheit halber kroch er in eine große feste Tonne, deren Innenwände mit Kissen ausgepolstert waren. So verstaut, ließ er die Tonne mit der Strömung schwimmen; sie glitt über die Schwelle hinüber und sauste dann senkrecht in das Wassergrab hinab. So lange er in der ruhigen Strömung plätscherte, ja auch noch dann, als er mit der Wassersäule abwärts fiel, war die Sache ganz harmlos. Aber dann, als er unten auf die Wasserfläche aufschlug, in den Wirbeln herumschnurrte, wie ein Ball gegen die Felsvorsprünge im Grunde geworfen wurde und mit rasender Geschwindigkeit in die mit Wasser gefüllten Höhlen und Tunnel hineingerissen wurde! Doch die Reise ging wenigstens schnell, und als die Tonne wieder in ruhiges Wasser gelangt war, wurde sie wieder herausgefischt.«

»Und wie war dem Wagehals zumute, als seine Freunde den Boden der Tonne einschlugen? Er hatte sich wohl mittlerweile in ein weich geklopftes Beefsteak verwandelt?«

»Nein, er war nur betäubt und hatte, wie es hieß, das Gedächtnis verloren. Jedenfalls versicherte er, als er herauskroch, daß er diese Fahrt nicht zum zweitenmal machen werde.«

»Führen denn über den Niagarafluß auch Brücken, wie über alle anderen Flüsse hierzulande?«

»Ei freilich! Unterhalb des Falles ist eine Bogenbrücke aus Stahl, die mit einer einzigen Wölbung einen viertel Kilometer überspannt. Eine großartigere Brücke gibt es auf der ganzen Erde nicht. Einmal machte sich jemand dadurch berühmt, daß er auf einem Seil über den Niagara tanzte. Er spannte ein Drahtseil von einem Ufer zum andern und ging mit einer Balancierstange in den Händen hinüber.«

»Ich möchte wohl wissen, wie ihm zumute war, als die letzten schwarzen Felsvorsprünge hinter ihm zurückblieben und er die ersten Schritte über die weißen, kochenden Wassermassen zurücklegte! Ruhig Blut und sicheres Auge, sonst bist du verloren! Und wenn nun das Seil riß und der Tollkühne in dem starken Gefälle mitgerissen wurde? Kam er denn glücklich hinüber?«

»Ja, und er war in dem Augenblick ein berühmter Mann. Die Tausende von Zuschauern hatten sich eine Weile trefflich amüsiert, und man redete einen Tag lang von nichts anderem.«

»Nun sagen Sie mir bitte noch, wo bleibt all dies Wasser unterhalb des Niagarafalls?«

»Es strömt in den Ontariosee hinein, gerade gegenüber Toronto, der zweitgrößten Stadt Kanadas. Dann läuft es aus der Nordwestecke dieses Sees wieder hinaus und bildet schlängelnde Wasserwege um eine Menge Inseln, die die ›Tausend Inseln‹ heißen. Nachher ist der Fluß bald schmal mit zahlreichen Stromschnellen, bald seenartig erweitert. Er heißt dann Sankt Lorenzstrom und beginnt bei der großen Stadt Montreal ruhig einherzufließen. Unterhalb der Stadt Quebec erweitert er sich dann gleich einem Jägerhorn. Sein Strom ist so wenig stark, daß er im Winter alljährlich zufriert; das Eis wird stellenweise so dick, daß man es mit Schienen belegt und schwere Güterzüge hinüberfahren läßt. Wenn aber im Vorfrühling der Eisgang beginnt, ist seine Nähe gefährlich, und manchmal heben die Fluten ganze Eisberge in die unteren Stadtteile Montreals hinauf.«

»Ist es denn in Montreal so kalt?«

»Ja, bis zu 35 Grad, und in Nordkanada wird die Kälte noch ärger. Die Sommer sind überhaupt im ganzen Lande recht kurz. Im Sommer ist die Arbeit hier auf den Seen nicht übel, aber wenn der Winter herankommt, tun Sie gut, anderswo warm unterzukriechen!«


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