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11. Neuyork.

Die Reise über den Atlantischen Ozean nähert sich ihrem Ende. Eines Morgens macht sich eine steigende Unruhe und Spannung an Bord bemerkbar, und die Reisenden werfen fragende Blicke gen Westen. In einer Stunde soll die amerikanische Küste sichtbar werden! Und richtig: dort an der Steuerbordseite zeigt sich eine ungleichmäßige Linie am Horizont, es ist Long Island, die »lange Insel«. Noch zwei Stunden, und das Schiff fährt in die Mündung des Hudsonflusses ein und landet an der Ellisinsel im Hafen von Neuyork. Unabsehbare Reihen anderer großer Dampfer liegen vor den Kais; auch sie haben Auswanderer aus Europa nach Amerika gebracht und werden bald wieder umkehren, um neue Scharen zu holen. Sie haben keine Zeit zu verlieren und müssen jahraus und jahrein hin und her fahren, um den Vereinigten Staaten täglich 3000 Menschen zuführen zu können.

Unser Auswanderer hat seine Sachen rechtzeitig zusammengepackt und sich vorn einen guten Platz gesichert, von dem aus er nun seine Reisegefährten beobachten kann. Solch ein Menschengewühl ist ihm noch nie vorgekommen, und solch eine Eilfertigkeit hat er noch nie gesehen. In den Gängen drängen die Reisenden hin und her, rufen einander in allen möglichen Sprachen, schleppen ihre verblichenen bunten Reisetaschen heran und keuchen unter ihren mit festen Stricken umschnürten Bündeln. Deutsche und Schweden, Kroaten und Galizier, polnische und russische Juden, alles in buntem Durcheinander, einige gut gekleidet und mit Überziehern versehen, andere in zerrissenen Kleidern und mit groben Halstüchern statt eines Kragens.

Über dem Neuyorker Hafen erhebt sich die riesenhafte Statue der Freiheit, eine Frauengestalt, die in ihrer Rechten eine Fackel hält. Wenn auf der Erde Dunkelheit herrscht, wirft sie ein blendendes Strahlenbündel elektrischen Lichtes auf die Wasserflächen, die Hafenkais, die Häuser und die Schiffe.

siehe Bildunterschrift

Wolkenkratzer in Neuyork

siehe Bildunterschrift

Eisenbahnviadukt in Nordamerika.

Sobald aber Fritz zum erstenmal seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzt, sieht er gleich, daß es mit der vielgepriesenen Freiheit auch hier nicht allzuweit her ist. Er und alle seine Reisegefährten werden, genau so wie daheim die Militärpferde, mit Nummern versehen und in großen Scharen in einen gewaltigen Saal hineingetrieben. Dann wird einer nach dem anderen, wie bei der Musterung, aufgerufen, nach der Art seiner Beschäftigung und dem Ziel seiner Reise gefragt und schließlich von einem Arzt untersucht. Wer an Schwindsucht oder andern Krankheiten leidet oder infolge zu hohen Alters und großer Gebrechlichkeit voraussichtlich nicht mehr lange arbeitsfähig sein wird, erhält ohne Gnade den Befehl, sich mit dem nächsten Dampfer wieder in seine Heimat zurückzuverfügen!

Die übrigen, die die Prüfung glücklich bestehen, fahren in kleinen Dampfern vom Hafen nach Neuyork hinein, wo sie unter den fast fünf Millionen Einwohnern wie Spreu im Winde verschwinden. Aber aus welchem Lande sie auch stammen mögen, immer finden sie in Neuyork reichlich Landsleute, denn diese Stadt ist ein Musterbuch aller Nationen der Welt. Man spricht hier nicht weniger als siebzig verschiedene Sprachen, und ein Drittel der ganzen Einwohnerschaft ist im Ausland geboren. Es gibt ganze Straßen, die fast nur von Deutschen bewohnt sind, wie z. B. die Avenue A; in Brooklyn, dem Stadtteil, der auf Long Island liegt, haben sich die Schweden angesiedelt, das Stadtviertel »Klein-Italien« zählt fast mehr Italiener als Neapel, in der Chinesenstadt leben 5000 Chinesen, und ebenso haben die Juden aus Polen und Rußland ihre besonderen Quartiere. Und alles ist von so ungeheurer Ausdehnung, daß man sich, wie Fritz bald merkt, trotz der einförmigen und einfachen Anlage des ganzen Straßengewirrs in Neuyork doch keineswegs so leicht zurechtfindet, als er glaubte, während er noch draußen auf den Wellen des Atlantischen Ozeans schaukelte.

Vorerst beschließt er, sich die Sache ruhig mit anzusehen, denn er ist zum Glück nicht mittellos nach Amerika gekommen. Erst will er sich eingewöhnen, vor allen Dingen die Sprache so weit lernen, um sich verständlich machen zu können, und dann erst sich in den Kampf ums Dasein stürzen. In seiner Herberge hat er zahlreiche Landsleute gefunden, und ein Bahnarbeiter aus Breslau, der gerade stellenlos ist und einige Tage feiern möchte, macht sich ein Vergnügen daraus, ihn herumzuführen und das neu angekommene »Grünhorn« mit seiner amerikanischen Weisheit zu »knicken«.

»Neuyork ist wohl sehr alt,« meint Fritz, »sonst hätte es nicht so groß werden können.«

»Keineswegs! Mit europäischen Städten verglichen, ist es das reine Kind. Vor 300 Jahren zählte es noch nicht 1000 Einwohner. Aber jetzt wird es an Größe nur von London übertroffen.«

»Das ist doch sonderbar. Wie kommt es nur, daß diese Stadt so groß geworden ist? Bremen ist ja dagegen das reine Spielzeug. Solch ein Leben und Treiben habe ich noch nie gesehen. Überall sieht man ja ganze Wälder von Schiffsmasten und Dampferschornsteinen, und auf allen Kais wird mit entsetzlicher Eile Fracht eingenommen und gelöscht.«

»Ja, das kommt daher, daß die ganze Bevölkerung der Vereinigten Staaten mit ungeheurer Schnelligkeit zugenommen hat. Während des vorigen Jahrhunderts hat sie sich alle zwanzig Jahre verdoppelt. Und nun geht fast die Hälfte des ganzen Auslandshandels der Union über Neuyork. Von hier verschifft man Getreide und Fleisch, Tabak und Baumwolle, Petroleum und Manufakturwaren, und noch unzähliges andere. Da ist es wohl kein Wunder, daß hier 60 Kilometer Kais mit Hallen und Lagerschuppen, Aufzügen und Hebekranen nötig sind, und daß mehr als siebzig Dampferlinien in Neuyork zusammenlaufen. Dabei ist Neuyork auch selbst eine großartige Industriestadt. Was hier für ein Reichtum aufgehäuft ist, läßt sich gar nicht ausdenken. Die Stadt hat allein zweihundert Banken. Und dabei die Lage und dieser Hafen! Im Osten der Atlantische Ozean mit den Wegen nach Europa, nach Westen hin unzählige Eisenbahnlinien, von denen fünf durch ganz Nordamerika hindurch bis an die Küste des Stillen Ozeans gehen.«

»Sage mir doch etwas von den Eisenbahnen«, bittet Fritz, der die Absicht hat, sich bei der ersten passenden Gelegenheit nach dem Westen durchzuschlagen.

»Gern, darüber weiß ich Bescheid, denn ich habe an mehreren Linien gearbeitet. Schon im Jahre 1840 hatten die Vereinigten Staaten 4500 Kilometer Eisenbahnen, aber zwanzig Jahre später waren es bereits 50 000 Kilometer geworden. Jetzt ziehen sich die Bahngleise 400 000 Kilometer weit hin; in einer Linie hintereinander aufgerollt, würde dieses Eisenband bis an den Mond reichen oder zehnmal den Äquator umspannen. Ganz Europa hat nicht so viele Eisenbahnen wie die Vereinigten Staaten, obgleich der Flächeninhalt ungefähr derselbe ist und obgleich die Bevölkerung Europas fünfmal so groß ist.«

»Wie erklärt sich dieser Aufschwung des Eisenbahnbetriebs?«

»Das kam so: Ursprünglich hatte man es bloß darauf abgesehen, die Lücken zwischen den Wasserwegen durch Schienenwege auszufüllen. Man benutzte die Flüsse so weit wie es möglich war, und da, wo es keine Wasserstraßen gab, baute man die ersten Bahnen. Dann wurden im Lauf der Jahre die verschiedenen Linien miteinander verbunden, und man legte nach allen Richtungen hin neue Bahnen an, so daß jetzt ein ungeheures Schienennetz die neunundvierzig Staaten bedeckt. Übrigens sind die Landstraßen hier auch so erbärmlich, daß die Eisenbahnen sie ersetzen müssen.«

»Zur Überschreitung all der großen Flüsse Nordamerikas müssen wohl eine Menge Brücken nötig sein?«

»Jawohl, und die Amerikaner sind Meister im Brückenbau! Die Eisenbahnbrücken über den Mississippi, den Missouri und andere gewaltige Ströme sind Kunstwerke von unerhörter Kühnheit. Da, wo die Bahnen tief eingeschnittene Schluchten überschreiten, baute man früher hölzerne Brücken gleich himmelhohen Maurergerüsten, auf deren oberster Stufe die Schienen lagen. Aber solche Brücken verschwinden jetzt mehr und mehr und werden durch eiserne ersetzt, die aus der Ferne wie Fäden oder Spinngewebe aussehen, und über die die Züge doch mit voller Fahrt hinwegsausen. Sieh einmal dort drüben nach links! Da hast du eine der großartigsten Brücken der Welt, die Hängebrücke zwischen Neuyork und Brooklyn. Sie ist ungeheuer groß und sieht doch so fein und zierlich aus, als ob sie zwischen ihren beiden Pfeilern in der Luft schwebte. Schiffe mit den höchsten Masten segeln ungehindert unter ihr durch; sie liegt 41 Meter über der Flutmarke. Dabei ist sie zwei Kilometer lang, und es ist geradezu fabelhaft, daß Menschen solch einen eisernen Balken haben über das Wasser legen können. Nun aber werde ich dir einmal die merkwürdigste von allen Eisenbahnen zeigen.«

Mit diesen Worten führt der neue Freund unsern Fritz zu einem Bahnhof und steigt mit ihm in einen Wagen der Hochbahn, die Neuyork durchquert. Das Erstaunen des Fremden kennt keine Grenzen, als er nun auf einen aus zahllosen eisernen Säulen bestehenden Gestell über Straßen und freie Plätze hinsaust und das summende Straßenleben tief unter sich erblickt.

»Diese Eisenbahn wird elektrisch betrieben«, erklärt ihm der Landsmann. »Wir haben hierzulande eine ganze Menge solcher Bahnen.« Er sagt »wir«, denn er setzt seinen Stolz darein, als waschechter Amerikaner angesehen zu werden.

»Das ist das merkwürdigste, was mir je vorgekommen ist«, ruft Fritz aus, der Berlin mit seiner Hochbahn noch nicht gesehen hat. Bei der schnellen Fahrt und dem Gewimmel da unten ist ihm ganz schwindlig im Kopf geworden.

»Auf den Bahnen nach dem Westen hin fährt man wohl noch viel schneller?« fragt er etwas beklommen, mit Rücksicht auf seine weiteren Reisepläne.

»Nein, das ist nicht so arg«, beruhigt ihn der Eisenbahner. »Man fährt gewöhnlich mit mäßiger Geschwindigkeit; nur selten bringt man es auf 85 Kilometer in der Stunde; allerdings gibt es eine kurze Strecke, auf der man in dreiviertel Stunde gegen 90 Kilometer zurücklegt. Sonst aber fährt man ziemlich vorsichtig, und die Reise nach den großen Städten im Westen ist sehr bequem. Einige Züge nach San Francisco gleichen rollenden Hotels, und man fährt darin wirklich großartig, wenn – man das nötige Kleingeld dazu hat. Man sitzt nicht wie bei euch daheim in Deutschland in enge Abteilungen eingepfercht, sondern kann sich frei bewegen und umhergehen und sich an breiten Fenstern in bequemen Lehnstühlen niedersetzen, um den Blick über die endlosen Prärien rechts und links hinschweifen zu lassen. Ist man des Sehens überdrüssig, dann setzt man sich an einen Mahagonitisch, um Briefe und Karten an Freunde zu schreiben. So ist die Reise nach San Francisco zwar lang, aber gar nicht angreifend. Man hat im Zug alles, was man sich nur wünschen kann. Man liest, schläft, ißt, badet, macht Bekanntschaften und lebt in jeder Beziehung gut. Und kommt man erst an die Felsengebirge im Westen, dann gibt es der Abwechslung mehr als genug. Da klettert der Zug die Täler hinauf, in Schluchten hinein und wieder hinaus, folgt über halsbrechende Galerien schroffen Bergwänden, rollt über windige Pässe mit herrlicher Aussicht und saust über hellerklingende Eisenbrücken. Auf der Westseite der Felsengebirge geht es dann in wilden Kurven nach der Küste hinunter. Manchmal wird dabei dem Reisenden recht schwindlig zumute, und er glaubt, sein letztes Stündlein sei gekommen. Aber der Zugführer hat die Gewalt über seine Lokomotive noch keineswegs verloren, so sehr auch die Wagen nach rechts und links schwanken mögen, je nach Lage der Kurve. Dann ist natürlich das Spazierengehen im Wagen mit einigen Schwierigkeiten verknüpft. Ehe man sich dessen versieht, fliegt man gegen eine Wand. Wenn dann gerade die Reisenden im Speisewagen versammelt sind, müßtest du die Negerkellner sehen, wie sie mit den Suppentellern anbalanciert kommen. Sie wissen ihre Bewegungen denen des Zuges so geschickt anzupassen, daß sie kaum einen Tropfen verschütten, obgleich man jeden Augenblick meint, sie müßten hinpurzeln und in Suppe schwimmen.«

»Das hört sich ja sehr erbaulich an und macht mir Mut zu meiner Reise nach dem Westen. Aber jetzt müssen wir wohl aussteigen?«

»Jawohl, und nun will ich dir den Zentralpark zeigen. Ist es nicht prächtig hier, diese schattigen Bäume und kühlen Teiche? Im Sommer herrscht in der Stadt eine Glühhitze zum Umfallen; das ist dann ein Genuß, eine Stunde im Schatten dieser Bäume zu verweilen! Im Winter ist es dafür in Neuyork um so kälter. Rauhe, eisige Winde streichen dann über die Ostküste hin. – Aber hier bleib einmal stehen! Da siehst du die V. ( Fifth) Avenue, die feinste Straße von Neuyork. In diesen Palästen wohnen die Millionäre und Milliardäre, die Eisenbahnkönige, Stahlkönige, Petroleumkönige und wie sie alle heißen. Sie wälzen sich buchstäblich in dem Golde, das sie der großen Masse für Eisenbahnfahrkarten, Petroleum, Zucker usw. abpressen. Dort in dem Schloß mit dem großen Portal, den hohen Türmen und den eigentümlich verzierten Dachfenstern wohnt einer, der tausend Millionen besitzt. Er kauft Bilder, Gobelins und Statuen von unschätzbarem Wert aus Europa und gibt Mittagessen, bei denen ihn jedes Gedeck einige tausend Mark kostet. Die Scharen der Notleidenden vor seinem Palast liefern dazu die Tafelmusik.«

»Aber etwas Gutes wird er doch wohl mit seinem Gelde auch tun? Er kann doch unmöglich 50 Millionen Zinsen alljährlich allein verzehren?«

»Nun ja, er gründet gelegentlich eine Universität. Deren gibt es in den Vereinigten Staaten sehr viele, und für Aufklärung und Wissenschaft wird hier überhaupt außerordentlich viel getan. Aber wenn wir erst einmal damit anfangen, können wir in all der Bildung ertrinken. Darum laß uns lieber den Stadtteil betrachten, der am Hudson liegt.«

»Neuyork liegt also am Hudson?«

»Ja, oder richtiger in der Mündung des Flusses auf der Insel Manhattan. Wir stehen jetzt auf Manhattan. Ist es nicht ein Witz der Weltgeschichte, daß die Indianer vor dreihundert Jahren diese ganze Insel den Holländern für bare 90 Mark verkauft haben? Jetzt würde sie nicht mehr so wohlfeil zu haben sein. Sieh nur diese fürchterlichen Wolkenkratzer mit ihren dreiundzwanzig Stockwerken!«

siehe Bildunterschrift

Plan von Neuyork.

»Warum nur baut man hier die Häuser so entsetzlich hoch?«

»Weil hier die Baustellen so ungeheuer teuer sind. Nach den Seiten hin kann man sich nicht ausdehnen, deshalb streckt man sich in den Himmel hinauf, wo ja Platz genug ist. Sieh nur diese Reihe von Häusern; einige sind noch erträglich, aber andere schießen wie die Schornsteine in die Höhe. Gleicht solch eine Häuserfront nicht einer Tastenreihe, auf der unsichtbare Finger spielen?«

»In solch einem Haus möchte ich nicht wohnen, soviel ist gewiß. Im zwanzigsten Stockwerk würde mir schwindlig werden, und im ersten würde ich immer befürchten, daß die ganze Last über mir zusammenkracht. Bei solchen Häusern kann ich nur an Mausefallen und Taubenschläge denken.«

»Wir in Brooklyn haben es weit besser, dort sind die Häuser lange nicht so hoch. Aber was soll ich dir jetzt noch zeigen?«

»Für heute ist es genug, ich bin nicht mehr imstande, noch weiter umherzuwandern. Wir haben beide ein Beefsteak und ein Glas Bier wohl verdient und wollen deshalb ein Restaurant aufsuchen.«

»Gut, dann benutzen wir die Fähre, die dort liegt, und setzen nach Brooklyn über. Aber morgen werde ich dir etwas zeigen, was nicht weniger merkwürdig ist als diese Stadt der Reichen. Wir wollen die ›Chinesenstadt‹ aufsuchen. Da wimmelt es in schmutzigen Gassen von dem bezopften Volk, da riecht es nach Zwiebel, Tabak und Branntwein aus verwahrlosten Schenken, da gibt es die unheimlichsten Spielhöllen und Opiumhöhlen, und vor den Teehäusern schaukeln an Angelruten die Papierlaternen, ganz wie in China. Und dann wollen wir auch ›Klein-Italien‹ besuchen, eine rein italienische Stadt im Neuyork der Amerikaner. Da siehst du in den Buchhandlungen lauter italienische Bücher, da brennen Wachslichter vor den Madonnenbildern in den Kirchen, und auf den staubigen Straßen spielen schwarzhaarige, braunäugige Kinder des Südens. Und schließlich wollen wir auch ›Klein-Rußland‹ nicht vergessen, das Judenviertel. Dessen Bewohner sind wirklich ganz merkwürdige Leute. Fast nie sieht man sie betrunken, und ebenso selten hört man, daß von ihnen ein Verbrechen begangen wird. Sie leben ärmlich, wohlfeil und sparsam, und es ist überaus amüsant, sie in ihren Verkaufsbuden auf den Straßen handeln zu sehen.«

»Aber nun sage mir, wo schließlich alle die Auswanderer nur bleiben, die täglich nach Amerika herüberkommen. Wenn auf der Ellisinsel tagtäglich etwa 3000 Menschen landen, dann erhielte ja Neuyork alljährlich einen Zuwachs von einer Million!«

»Ja, aber wie viele bleiben davon in Neuyork? Die meisten begeben sich in das Innere des Landes oder nach dem Westen. Manche arbeiten sich empor und suchen dann andere Arbeitsfelder auf. Aber viel mehr noch bleiben hier, gehen unter oder vergrößern hier die Anzahl der Slumbevölkerung, wie die allerärmsten genannt werden. Wer bei der Ankunft in Amerika gänzlich mittellos ist, arbeitet um jeden beliebigen Lohn in den Fabriken. Gewiß, dieser Arbeitslohn ist immer noch größer als der in der europäischen Heimat, aber davon leben kann man in Amerika nicht. Diese einwandernden Europäer verdrängen die amerikanischen Arbeiter, und daher gibt es in den Vereinigten Staaten zwei Millionen Arbeitslose. Wenn du Lust hast, können wir heute abend versuchen, in das Haus der Mitternachtsmission hineinzukommen. Dort warten die Armen in dichten Scharen auf das Öffnen der Tür. Das Elend sieht ihnen aus dem Gesicht, aber in stumpfer Gleichgültigkeit stehen sie da, bis sich die Tore öffnen. Dann stürzen sie in das Innere, füllen im Augenblick die zahlreichen Bänke in dem großen Saal und schlafen in allen möglichen Stellungen ein.«

»Und bekommen sie dort nichts?«

»Ja, ein Missionar hält diesen Landstreichern und Arbeitsscheuen, gewerbsmäßigen Bettlern und Dieben, Faulpelzen und Arbeitslosen – eine Predigt. Bei Tage haben sie gebettelt oder auch gestohlen, nun sind sie müde und hungrig und schlafen sich im Saal der Mitternachtsmission aus. Sobald das ›Amen‹ des Predigers erklingt, werden sie wieder in die Nacht hinausgejagt und eilen nach den ›Brotlinien‹ hin, um etwas Eßbares zu erhalten. So leben diese Unglücklichen tagaus, tagein und sinken immer tiefer.«

»Das sind also gewissermaßen die Schlacken, die zurückbleiben, wenn das Edelmetall abgeflossen ist. Merkwürdig, daß ein Volk durch einen nie versagenden Einwandererstrom so stark an Zahl wächst. Was soll schließlich daraus werden?«

»Die Frage kann niemand beantworten. Ein Deutscher ist eben ein Deutscher und ein Schwede ein Schwede, aber die Amerikaner sind alles mögliche. Sie sind ein Gemisch aus englischem, deutschem, skandinavischem, holländischem, italienischem und russischem Blut, um nur die Hauptbestandteile zu nennen. Und aus diesem Gemisch wird dereinst, wenn die Ellisinsel den Auswanderern aus Europa endgültig die Landung untersagt hat, die amerikanische Rasse hervorgehen. Übrigens gibt es noch andere Mischungen in diesem seltsamen Lande: die Mulatten, die Nachkommen von Negern und Weißen, und die Mestizen, die von Indianern und Weißen abstammen. Durch neue Ehen mit Weißen verdünnt sich das schwarze und das kupferrote Blut immer mehr.«

»Nun sage mir noch eins: Weshalb ist nicht Neuyork die Reichshauptstadt?«

»Deshalb, weil die Stadt, die den Namen des großen Washington trägt, eine passendere und bequemere Lage zu den verschiedenen Staaten des ursprünglichen Staatenbundes hatte. Der Einwohnerzahl nach ist Washington nicht halb so groß wie Hamburg, und die Vereinigten Staaten von Nordamerika zählen fünfzehn Städte, die größer sind als Washington. Trotzdem wird von hier aus das Land regiert. Dort wohnt im Weißen Haus der Präsident, auf dem dortigen Kapitol tritt der Kongreß der neunundvierzig Staaten zusammen, und dort erhebt sich über einem Stadtteil gewaltiger Regierungsgebäude der Obelisk Washingtons. Aber ich sehe, du fängst bedenklich an zu gähnen! Du bist müde, mein Junge. Laß uns zu Bett gehen, und schlaf gut diese erste Nacht auf dem Boden Amerikas!«


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