Rudolf Gottschall
Im Banne des Schwarzen Adlers
Rudolf Gottschall

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Sechzehntes Kapitel.

Phädra.

Vor dem Ballhause auf der Breiten Straße war heute ein reges Getümmel; Kleopatra genoß alle Freuden einer Bühnenleiterin, welche mit an der Kasse sitzt und die blanken Silberstücke zählt, die sich vor ihren Augen zu kleinen Bergen anhäufen. Die Verlegenheiten des Kassirers, dem Andrang der Menge gerecht zu werden, waren eben so viele stille Freuden für sie; ihre Züge leuchteten von jener eigenthümlichen Verklärung, wie sie die Lust am Gewinn nicht weniger als die Begeisterung für das Große und Schöne über ein Menschenantlitz zu zaubern vermag.

Es waren einige düstere Tage vorausgegangen, wo allerlei Zerstreuungen und Aufregungen das Breslauer Publikum vom Theater abgewandt hatten. Da saß sie auch im Kassenverschlag, aber mit schwermüthigem Blick . . die Beine der leeren Stühle oben 375 im Saal führten ein unheimliches Ballet vor ihrer Seele auf . . . hin und wieder kamen vereinzelte Besucher, ein Tropfen von der Dachrinne, wenn es schon geraume Zeit aufgehört hat, zu regnen . . . sie zählte jeden Einzelnen mit krampfhafter Aengstlichkeit, doch wollte keine anständige Zahl herauskommen . . wie mußte es droben im Saal aussehen! Hinundwieder einzelne schwarze Punkte, ein paar Menschen, die sich vor Langerweile reckten und streckten. Denn der Gähnkrampf eines leeren Theaters wirkt ansteckend! Und auf dem Zahlbrett der Kasse standen die Billets aufgethürmt wie die Schädelpyramiden des seligen Tamerlan.

Heute war es anders! Welch ein Gedränge Kopf an Kopf, erhitzte Gesichter, Rippenstöße an der Kasse und dabei der vollhereinfluthende Silberklang! Nicht Racine's »Phädra« allein übte solche Anziehungskraft, obgleich Marie in der Titelrolle eine Art von Magnet geworden war; es sollte auch nach dem Schlusse des Stückes noch ein Epilog gesprochen werden, zur Feier von Friedrichs Einzug in Breslau, und zwar von Kleopatra selbst, deren Erscheinen als Silesia angekündigt war, mit einem ganzen Hofstaat von allegorischen Figuren, mit Posaunenengeln, Adlern und Doppeladlern, Blumenketten und Rosenwolken und mit einem aus höheren Sphären kommenden traumhaften 376 Lichtschein, soweit ihn die Mittel der damaligen Bühne herzustellen vermochten. Wer für König Friedrich warm empfand, durfte hier für sein Empfinden reiche Nahrung erwarten; aber auch die Gleichgültigen wußten, daß solche allegorische Schaustücke ein ganzes Aufgebot von allerlei mehr oder weniger verschwiegenen Reizen vorführten und daß selbst die verschiedenen Tugenden sich nicht gerade durch ein zu reichliches Ellenmaß der Gewandung auszeichneten, was ja auch für einzelne, wie für die Wahrhaftigkeit und Offenherzigkeit, vom Uebel gewesen wäre.

Unter den Reihen der Zuschauer saßen auch Arthur und Emanuel, dieser mit hochschlagendem Herzen. Er sollte die Künstlerin sehen, ehe er die Tochter umarmte; in seiner wehmüthigen, halbverzweifelten Stimmung erschien ihm das alles wie ein Traum; er fühlte sich nach der langen Einsamkeit des Kerkers beklommen mitten in einer so großen Menge. Die Menschheit war das Urbild seiner Träume. Doch wo er die Menschen in großer Zahl beisammen sah, verschwand das Urbild mehr, als daß es in's Leben getreten wäre. Da erschien es dem zweifelnden Geist als ein müssiges Spiel der Natur, wenn sie so viele Köpfe in ihr großes Porträtalbum eingezeichnet hatte . . . und was für Gesichter, so todt, so geistesarm, die Augen hervorquellend in Neugier und Lüsternheit, 377 hier und dort einige scharfgeschnittene Züge mit dem Gepräge unerbittlichen Verstandes, selten etwas weibliche Anmuth, mit Schönpflästerchen betupft, hinter dem Fächer kokett hervorlauschend . . . war das seine Menschheit?

Seine eigene Erscheinung erregte Aufsehen genug; solch ein langer Bart hatte sich in den Räumen des Ballhauses seit unvordenklichen Zeiten nicht mehr sehen lassen. Die Witzbolde unter den Theaterfreunden unterließen es nicht, ihre spöttischen Bemerkungen über ihn zu machen, und ihn für die allegorische Weisheit zu erklären, die sich aus dem Garderobezimmer in den Zuhörerraum verirrt habe. Und die Witzbolde waren zu allen Zeiten sehr zahlreich im Theaterpublikum; das Strohfeuer des Witzes wird durch das Flugfeuer entzündet, das von der Bühne herab Geist und Leidenschaft unter die Menge streut.

Neben Emanuel saß Arthur; er hatte keine Augen für die herausfordernden Schönheiten der Menge, nur für seine Braut; denn die reizende Agnes an seiner Seite drückte ihm oft in verschwiegenem Glück die Hand.

Der Vorhang geht auf, bald erscheinen Phädra und Oenone. Emanuel sah hin und legte die Hand aufs Herz; ein unbeschreibliches Gefühl bewältigte 378 ihn. Sie war es, die einst zu seinen Füßen gesessen hatte, wenn auch nur kurze Augenblicke; diese gefeierte Künstlerin, welche das ganze Publikum mit stürmischem Beifall begrüßte, war seine Tochter. Es war eine Phädra, der die königliche Hoheit fehlte, aber welcher Zauber seelenhafter Anmuth war über sie ausgegossen! Und als sie so gebeugt erschien, zu Boden gedrückt von dem Geschick, mit zitternden Knieen, von dem ungewohnten Glanz des Tages gepeinigt, da erkannte er die Gestalt, die Züge seiner Minka wieder; wo die andern nur das Geschick der athenischen Fürstin sahen, sah er das Schicksal eines ganzen Lebens vor seiner Seele vorüberziehen . . und eine heiße Thräne entquoll seinem Auge.

Doch wie spielte Marie diese ernsten Scenen! Wie ergreifend waren ihre Anklagen gegen den Zorn der Venus, wie tief schwermuthsvoll nahm sie Abschied von den Strahlen des Sonnengotts, wie aus innerster Seele heraus sprach sie die Schlußworte, sie wolle leben, wenn ihr zu leben möglich sei! Eine unwiderstehliche Rührung bemächtigte sich des Vaters; war das der Ausdruck eigenster Empfindung? Sah es so in dem Herzen des Kindes aus? War dies nur die Kunst der Künstlerin, oder der Schmerz eines ganzen Lebens, der sich mit unnachahmlicher Wahrheit aussprach?

379 Doch wie . . ruhten nicht ihre Blicke auf ihm? War es Erinnerung an die flüchtige Begegnung, war es eine geheime Ahnung ihrer Seele? Ließ ihr das künstlerische Spiel noch so viel Freiheit eigener Gedanken und Empfindungen, die von Racine nicht ganz im Banne der Verse und der dramatischen Handlung gehalten wurden? Immer und immer wieder ruhte ihr Auge auf ihm, so oft die Stimmführung der Scene an Oenone übergegangen war, und stets mit einem so hilfeflehenden Blick . . ihm wars, als müßte er ein Wort des Trostes an das unglückliche Mädchen richten!

Der Vorhang fiel; Arthur begrüßte einen Fremden, der hinter ihm an den Pfeiler gelehnt stand. Emanuel sah sich um; er kannte ihn nicht. Es war Sigismund! »Das ist der Mann,« flüsterte Arthur dem Freunde zu, »für den Marie in den Tod gehen wollte.« Jetzt verstand Emanuel den Blick seiner Tochter, er hatte nicht ihm gegolten, sondern der Liebe ihres Herzens. Doch er drückte ein unsägliches Weh aus, da war nichts vom Glücke einer beseligenden Neigung, da war nur Angst, Zweifel, Verzweiflung.

Sigismund schien davon nichts bemerkt zu haben, er unterhielt sich auf das heiterste mit Arthur und mit Agnes, deren Anmuth er seinen vollen Beifall 380 schenkte. Da das Oberamt jetzt zu den selig entschlafenen Todten gehörte und der Assessor überdies zu der österreichischen Armee kein sonderliches Vertrauen mehr hegte, so warf er bereits seine Blicke nach der neuen preußischen Regierung und die Verbindung mit Arthur schien ihm eine willkommene Anknüpfung zu bieten. Er entwickelte daher alle Liebenswürdigkeit, über welche er verfügen konnte, und auch Agnes mußte im Stillen eingestehen, daß der Oberamtsassessor ein geistreicher und feingebildeter Mann sei.

Für Emanuel aber, der das Geistreiche und Glänzende haßte, weil es meistens die Auflösung des Gediegenen, Edlen und Wahren in eiteln geistigen Schaum für spielerischen Genuß ist, war der heitere Ton und das Lachen dieses Sigismund ein Stich in's Herz; er wußte nicht, woher ihm dies dumpfe und durchbohrende Gefühl bei den funkelnden Scherzen des Assessors kam; doch er empfand aus dem innersten Gemüth seiner Tochter heraus, daß hier ein eherner Schritt achtlos die schönsten Blumen einer zarten Empfindung zertrat. Wie sehnte er sich nach dem Schluß der Vorstellung; über dem wiedergewonnenen Vater sollte die Tochter jede Täuschung verschmerzen; er wollte sie trösten durch innige Liebe und hinweisen auf jene ewigen Güter des Lebens, welche von dem Wechsel der Neigungen unabhängig sind. Und wie 381 groß würde schon die Freude der Ueberraschung sein; denn noch wußte Marie nichts von der Befreiung Emanuels und von seiner Anwesenheit im Theater.

Bald verschwand übrigens Sigismund von seinem Pfeiler; er war ja im ganzen Theater zu Hause, tauchte hier und dort in der Menge auf und erschien auch gelegentlich hinter den Coulissen. Seine »Phädra« hatte ihn nicht blos heute gesehen, auch schon gestern, als sie verschleiert durch den herbstlich erröthenden Park von Scheitnig ging; sie hatte sein schallendes Gelächter gehört und die Gestalt an seiner Seite konnte nur Kleopatra sein.

Wie wehrte sich ihr Herz krampfhaft gegen den zerschmetternden Schlag! War es nicht vielleicht eine Sinnestäuschung? Malte ihre erhitzte Phantasie, durch die Anschwärzungen des ersten Liebhabers noch mehr in Aufregung gebracht, nicht die Bilder in lebendiger Wirklichkeit aus, welche traumhaft vor ihrer Seele schwebten! Konnte so nicht eine andere lachen? Gab es nicht genug der üppigen Schönen, außer ihrer Komödienmeisterin?

Doch man hatte ihn ja mehrfach in Breslau gesehen, niemals hatte er sie aufgesucht. Das war absichtliche Entfremdung und Vernachlässigung! So flüchtig konnte sein Aufenthalt in der Stadt nicht sein, daß er nicht Muße hätte finden können, sie zu 382 begrüßen, ihr ein freundliches Wort, eine liebevolle Betheuerung zuzuwenden! Und wenn dies so war, konnte sie nicht mit gerechtem Stolz ihm den Rücken kehren? Hatten dies nicht hundert andere gethan? Doch wie wenige finden sich hinein in den Eigenwillen eines engen, aber tiefen Gemüthes, das an unauflösliche Treue glaubt bis über den Tod hinaus, welches eine Liebe festhält, wie das Leben, darüber hinaus nichts kennt, nichts kennen will. Ungläubig geht die Welt vorüber bei diesen unergründlichen Gemüthern; sie stehen ja an der Grenze des Irrsinns, wie alle, welche der widerstrebenden Welt das Gesetz dictiren wollen und zu ohnmächtig dazu sind, welche durch den Zwang ihrer Leidenschaft andere bannen wollen, die sich demselben mit Lachen entziehen! O, diese Säulenheiligen der Liebe, die immer auf demselben Postament stehen, immer den Blick dem Einen Gestirn zuwenden – gehören sie in diese flatterhafte Gesellschaft, in diese Welt, die ihre Neigungen wie Kleider abträgt und in den Schrank hängt, um sich neue zu kaufen?

Doch es war keine Sinnestäuschung, was Marie gesehen hatte! Da stand er ja, an seinen Pfeiler gelehnt und schaute auf die Bühne, und wie er es heute war, so war er es auch gestern gewesen. Was suchte er im Theater? Konnte er etwas anderes auf 383 der Bühne suchen, als sie, die Heldin des heutigen Abends? Es war ja nicht möglich, daß er ihr abermals untreu werden konnte; doch wenn sie mit solchen Gedanken umging, da flüsterte ihr immer wieder eine leise Stimme: Kleopatra! in's Ohr, die Stimme des Hasses, der Verleumdung, der Eifersucht! Wie viele nicht ausgedachte, aber blitzschnell vorübereilende Gedanken durchfliegen mitten bei der Durchführung einer Rolle die Seele eines Künstlers, einer Künstlerin; ja sie wachsen oft aus der Rolle selbst heraus, und wie sie ablenken können von des Dichters Gedankengang, so können sie eben so oft denselben stimmungsvoll beleben, seinen Gestalten die volle Lebenswahrheit eigenster Empfindung geben! So hatte Marie die wechselnden Stimmungen des Augenblicks in ihre »Phädra« hineingeschaffen und diejenigen, die sie schon in dieser Rolle gesehen, bewunderten heute die tiefere sattere Farbengebung, den größeren Schwung der Empfindung.

Im Zwischenact flüsterte ihr der unglückliche Hippolyt, der an diesem Abend seine Windmühlenflügel wieder in eine unliebsame Bewegung versetzte, so daß seine wilde Liebe der gefangenen Cläcia mehrfach gefährlich wurde, hinter den Coulissen zu, Sigismund sei hier gewesen und habe sich lange und sehr vertraulich mit Kleopatra unterhalten. Es war das Echo ihrer unseligsten Träume; sie drückte die Hand 384 an das bebende Herz! Mit welchem Ausdruck sprach sie den Monolog des zweiten Actes:

Du siehst, in welche Tiefen ich jetzt gefallen bin,
Furchbare Liebesgöttin mit nieversöhntem Sinn!

mit welchem Feuer sprach sie zu Hippolyt, in dem sie nur ihren Sigismund sah, die leidenschaftlichen Worte ihrer Liebesraserei, mit welcher todesfrohen Hingebung wünschte sie von seiner Hand zu sterben!

Welch ein stürmischer Beifall des Publikums! Auch Sigismund klatschte; er hielt es für angemessen aus Rücksichten auf Arthur, der vor ihm saß; doch sein Blick war dabei kalt und feindlich wie ein Basiliskenblick! Denn es war ihm unbequem und widerwärtig, daß er auf dies Mädchen Rücksichten nehmen mußte; diese Liebe kam ihm vor wie ein ausgewaschenes Kleid, und immerfort erschien Marie darin als ob es sie wundersam kleide!

Doch unter dem kalten giftigen Blick des an den Pfeiler gelehnten Feindes sahen zwei groß aufgeschlagene feuchte Augen auf die Künstlerin mit inniger Bewunderung und Rührung. Welche Seele, welcher Geist, welche Kunst! Das sprach aus der stillen Verzücktheit dieser Augen. Die Hände klatschten Beifall wie von zündender Begeisterung ergriffen, dann fuhren sie langsam nachdenklich durch den langherabwallenden 385 Silberbart, wie freudiges Selbstgefühl zuckte es um die Mundwinkel: »Es ist mein Kind!«

Wieder ein Zwischenact . . . Marie stand einsam auf der Bühne; die Künstler und Künstlerinnen hatten sich in ihre Garderoben zurückgezogen. Wird er kommen? Er kam nicht . . . auch nicht Hippolyt erschien; sie haßte den garstigen Zuträger, aber . . . er sprach doch von ihm.

Wie sie da allein stand, gelehnt an einen Pfeiler des Saals im athenischen Königshause und auf die düster qualmenden Theaterlampen blickte, da zog mit der Schnelligkeit eines Traumes, der in eine einzige Minute eine Fülle von Ereignissen zusammenpreßt, wie von wunderbarem Tiefblick der Seele erleuchtet, ihr ganzes Leben an ihr vorüber! Die Theaterlampen verbreiteten plötzlich einen traumhaften Glanz, wie die Lichter einer Zauberlaterne . . . alle Gestalten waren wie in ein ambrosisches Licht getaucht! Erscheinen einem göttlichen Schauen so die Geschicke der Sterblichen? Ach, was sich hier abspielt auf der rasch wandelnden Bühne des Lebens, ist ja so nichtig und bedeutungslos wie das Auf- und Niederschwärmen der Eintagsfliegen an Sommerabenden. Was ist dies Alles für ein Auge, für welches das Steigen der Gestirne selbst nur ein Tanz von Eintagsfliegen ist?

386 Am längsten verweilte die zurückblickende Seele des Mädchens bei den schönen Tagen ihrer Liebe. Sie dachte des ersten Ausflugs in die Pfingstgärten von Oswitz mit ihm und den Freundinnen . . Jene waren ins Dorf zurückgegangen . . er und sie standen allein auf der Schwedenschanze. Der Mond versilberte die Fluthen der Oder und die Blüthenbäume, durch welche der Pfingstgeist rauschte . . es regnete Blüthen von den Bäumen und Sterne fielen vom Himmel . . er verherrlichte mit den Worten schlesischer Dichter den entzückenden Abend; da bekannte er ihr seine Liebe, da sank sie an seine Brust, da gelobte sie ihm Treue mit einem heiligen Schwur, den sie gehalten bis diesen Augenblick.

Und auch er versprach sich ihr für das Leben. Nur gegen solches Versprechen gab sie ihm sich selbst . . Liebe um Liebe, Leben um Leben! Einmal wird man geboren . . einmal stirbt man . . einmal liebt man und giebt Leib und Seele hin! Sonst ist solche Hingebung unauslöschliche Schmach. Die Blüthe weht von den Bäumen herab, die zur goldenen Frucht reifen sollte . . der Windhauch entblättert den Kelch . . sie ist nur werth, vom Fuße des Vorübergehenden zertreten zu werden.

So stand es in ihrer Seele mit unauslöschlicher Schrift geschrieben! Und eben so unauslöschlich war die Erinnerung an die Seligkeiten jener Zeit! Sollten 387 sie nimmer wiederkehren, so hatte das Leben seinen Werth und Reiz verloren; was Heil und Segen sein sollte, war nur Schimpf und Schande . . . tief herab brannte die heilige Flamme, um brodelnd zu ersticken.

Doch es konnte nicht sein, es durfte nicht sein! Und wenn der heilige Kalender umgestellt werden sollte, auf das verschollene Pfingsten der Liebe mußte ein neues Ostern folgen, ein Ostern der Auferstehung.

Da ertönte die Klingel, die Gedanken und Träumereien des Zwischenactes unterbrechend, an die nächste Gegenwart mahnend. Der vierte Act begann. Mit hinreißender Wahrheit stellte Marie die Eifersucht der Königin auf Aricia dar, den tödtenden Gedanken, der ihr Herz zerreißt, daß jene glücklich Liebenden den ganzen Wahnsinn der Liebeswuth verlachen, die sie selbst im Herzen hegt, und an Kleopatra denkend, sprach sie mit markerschütternder Gewalt die Worte.

                        Nein, ich ertrag es nicht,
Dies Glück zu sehn, das Hohn der eig'nen Liebe spricht.

und wie rührend klangen in ihrem Munde die elegischen Alexandriner Racine's:

Der einz'ge Gott, den ich noch wagte anzuflehn,
Es war der Tod! Und bald sah ich ihn vor mir stehn!
In Thränen glaubt' ich so, im Grame zu vergehn.

Der Vorhang fiel wieder unter stürmischem Applaus.

388 Da schlenderte Hippolyt herbei, unheimliches Feuer im Blick.

»Da kommt und seht selbst! Ihr wollt es mir nicht glauben!«

»Was ist?« fuhr Marie wie in banger Ahnung empor.

»Er ist bei ihr, schon lange! Das Mädchen, das Wache stehen sollte an der Thür, habe ich rasch bei Seite gebracht; ich kenne ihren Liebhaber, der die tragischen Bedienten spielt und die Boten, wenn sie wenig zu sagen haben; sie hat mit ihm ein Rendezvous hinter der dritten Coulisse. Sie hält zwar die Thür der Directionsgarderobe im Auge, doch wenn Ihr rasch eintretet, habt Ihr einen Vorwand wegen der Probe morgen.«

»Einen Vorwand . . ich brauche keinen! Eine Entschuldigung . . ich brauche keine . . wenn es wahr ist, was Ihr mir sagt, so will ich für meinen Frevel hinlänglich büßen. Wer in eine brennende Flamme tritt, braucht weiter keine Worte; er könnte nur sagen: »»Nehmt meine Asche!««

Und mit einem raschen Entschluß, mit einer fieberhaften Wendung näherte sich Marie der Thür von Kleopatras Garderobe, während Hippolyt das Mädchen der Directorin angelegentlich beschäftigte, indem er ihr Liebesgeflüster mit heftiger Scheltrede unterbrach.

389 In diesem Augenblick stand Marie vor der Thür und nachdem sie krampfhaft Athem geholt und die Hand ans Herz gepreßt, klopfte sie leise und trat rasch ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten.

Da war ihr's, als ging ihr Leben in Flammen auf, sie stieß einen lauten Schrei aus. Er war's, er hielt Kleopatra in seinem Arm, er drückte einen glühenden Kuß auf ihre Lippen. Mit einem andern Schrei entrang sich die unfertige Silesia, der noch die wichtigsten Attribute für ihre allegorische Rolle fehlten, der Umarmung Sigismunds und fuhr mit entfesselter Wuth auf die Eintretende los:

»Wer erlaubt Dir . . . o es ist empörend!«

»Genug, genug!« sagte Marie, indem sie sich auf einen an der Thüre stehenden Tisch mit Schminktöpfen und Salbennäpfchen krampfhaft stützte, »zu viel!«

»Wo ist denn Flora? Sie sollte mich ja vor aufdringlichen Besuchen schützen. Was giebts? Was willst Du?« sagte Kleopatra, die sich rasch zu fassen suchte, obgleich ihre päonienhafte Röthe ins Kirschrothe übergegangen war; doch das Trauerspiel hatte noch einen Act und sie mußte die Phädra des heutigen Abends schonen.

»Sigismund, Sigismund!« rief Marie mit dem Tone des rührendsten Vorwurfes und der Verzweiflung zugleich; »nun ist alles vorbei!«

390 Der Oberamtsassessor war in keiner rosenfarbenen Laune; das Eindringen des Mädchens hatte ihn auf das Höchste erbittert und er hielt es nicht für nöthig, seine Erbitterung unter diplomatischen Wendungen zu verbergen. Kleopatra suchte ihn vergebens zu besänftigen, als sie seine aufbrausende Leidenschaft bemerkte.

»Was ist vorbei?« rief er zornflammend, »laß mich nur, Kleopatra! Ich hab's schon lange auf dem Herzen. Thörichtes Mädchen! Du verfolgst mich wie ein Schatten, wie ein Gespenst und giebst Dir die Miene, als möchtest Du mich zur Rechenschaft ziehen. Was hast Du für ein Recht auf mich? Du hast Dich ja hinlänglich gerächt! Ich verbiete Dir, mich ferner zu verfolgen.«

»So sprachst Du nicht, Kleopatra!« sagte Marie mit mühsamer Fassung, »Du sprachst von seiner Liebe zu mir, auch Du . . . hast mich betrogen!«

»Mäßigung, Sigismund, ich beschwöre Dich,« flehte die Schauspieldirectrice!

»Mäßigung! Sie muß es ja längst wissen, daß sie mir gleichgiltig ist; was folgt sie meinen Spuren, was heftet sie sich an mich, nachdem sie mir selbst ihren Ring zurückgeschleudert und mich in's Gerede gebracht? Ich bin dieser weinerlichen Prinzessin herzlich müde; nur aus Rücksichten gegen Dich, Kleopatra, 391 habe ich vermieden, ihr die volle Wahrheit zu sagen; doch sie selbst verdient keine Rücksicht mehr. Sie ist wie die Nixe des Bachs, die mich mit ihrem Wasser ertränken will! Wir leben rasch, mein Kind! Das Gestern ist eine Geschichte, das Vorgestern eine Sage . . verschollene Liebe kommt wie eine Ahnfrau im Leichentuche. Sie hat kalte Hände und man friert bei ihrer Begegnung.«

»Um's Himmelswillen, Sigismund –« rief Kleopatra, welche Marie blaß und blässer werden sah.

»Ich will von ihr nichts wissen,« rief der Assessor mit dem Fuße aufstampfend, »nichts, gar nichts. Ich liebe Dich, Kleopatra, wer will mir's wehren?« Und mit siegreichem Hohn schloß er die sich sträubende Schöne in seinen Arm; Marie sah es nicht mehr, sie war in Ohnmacht gesunken. In ernster Besorgniß neigte sich die Directrice über sie; denn es sollte das Zeichen zum letzten Act ertönen. Sie rief Rosa und andere Helferinnen herbei, um Marie in ihre Garderobe zu tragen. Schauspieler und Schauspielerinnen drängten sich herbei, darunter die Tugenden des allegorischen Nachspiels, die sich bereits in's Costüm geworfen hatten. Es herrschte große Unruhe hinter den Coulissen; selbst die theilnahmlosesten Mitwirkenden, welche die Schlösser und Wälder heran- und hinausschieben, die Theaterarbeiter, nahmen Antheil an dem 392 Vorfall. Der Regisseur ging schnupfend auf und ab, um seine Aufregung zu dämpfen.

Bald kam auch der Doctor, ein quecksilbernes Zappelmännchen, vertraut mit allen Theaterkrankheiten, über die er ein größeres, aber nie im Druck erschienenes Buch geschrieben haben sollte, welches mehr Humor als Wissenschaft enthielt. Einige starke Tropfen aus seinem Fläschchen riefen Marie wieder ins Leben zurück. Der Doctor trieb die Tugenden und Engel, den Theseus und den Hippolyt aus dem Zimmer, nur Kleopatra blieb zurück.

»Eine Ohnmacht . . . es geht vorüber,« sagte der Arzt, »doch ob sie jetzt weiter spielen kann . . .«

»Es wäre schrecklich,« rief Kleopatra die Hände ringend, »alles ging so schön! Eine Phädra ohne letzten Act, statt dessen der Epilog . . . während alle Gedanken noch in Athen sind, eine Silesia . . . welche Verwirrung!«

Marie hatte inzwischen ihre ganze Besinnung wiedergefunden.

»Ich will nicht stören, ich werde spielen,« erklärte sie mit fester Stimme.

»Du bist ein Engel,« rief die Directorin, der es plötzlich wieder leicht um's Herz wurde.

393 Der Doctor fühlte der Kranken den Puls. »Nur keine große Anstrengung! Es ist freilich nur noch eine kurze Scene! Spielen Sie dieselbe wohl oder übel herunter, damit das Stück zu seinem Schluß kommt.«

»Ich werde gut spielen,« sagte Marie mit dumpfer Betonung, »doch lassen Sie mich allein, damit ich mich sammeln kann.«

Kleopatra ließ das Zeichen geben, die ersten Scenen des letzten Actes nahmen ihren Fortgang. Dann trat Marie aus der Garderobe, mit festem Schritt, aber bleich und still; Kleopatra drückte ihr dankbar die Hand.

»Du zitterst, Marie?«

»Vor Furcht!« entgegnete sie, »die Aufgabe ist zu schwer, es ist so schwierig, auf der Bühne zu sterben.«

Ihr Stichwort war gefallen, Phädra begann ihre letzte Rede mit den grabesdumpfen Worten: »Die Zeit ist kostbar!« Sie erzählte Oenones Geschick mit einer krampfhaften Erregung, welche einige Kunstkenner im Publikum als übertrieben mißbilligten.

Mein Schicksal hätte längst ein rascher Stahl geendet,
Doch meine Tugend blieb dann vom Verdacht geschändet,
Den langsameren Weg zum Grabe schlug ich ein,
Erst wollt' ich meiner Schuld vor Dir geständig sein,
Das Gift, das nach Athen Medea einst gebracht,
Hat jetzt des Todes Glut in meinem Puls entfacht. 394
Schon fühl' ich, wie es heiß zu meinem Herzen dringt,
Mit niegefühltem Frost in meinen Adern ringt!
Ich seh' nur noch . . . die Welt . . . durch einer Wolke Flor!

In der That, des Todes Schatten schienen um diese Züge zu spielen . . . so hatte noch keine Künstlerin der Natur das schmerzliche Geheimniß des Scheidens abgelauscht. Stürmischer Beifall ertönte, doch Phädra brach zuckend zusammen. Vergebens strengte der Souffleur sich an, ihr die nächsten Verse zuzuflüstern, vergebens harrten die Mitspielenden auf ihr Stichwort! Allgemeine Bestürzung auf der Bühne, die sich dem Publikum mittheilte . . . Alles fühlte, daß sich etwas Ungewöhnliches zutrug. Sie lag noch mit gebrochenem Auge; ihre Brust rang nach Athem, nach Luft.

»Sie stirbt!« riefen Theseus und Theramen.

Der Souffleur verblätterte sich und der Angstschweiß rann von seiner Stirn. Nun stürzten auch Kleopatra und der eben von seinen Rossen zu Tode geschleifte Hippolyt mit demselben Ruf auf die Bühne. Angstvoll sprang das Publikum auf mit verworrenen Rufen, der Vorhang fiel rasch. Doch mitten durch die Sitzreihen drängte sich der silberbärtige Greis; aller Augen wandten sich ihm zu, als er händeringend und mit dem Schmerzensruf: »Meine Tochter, mein 395 Kind!« hinausstürzte, gefolgt von dem preußischen Offizier und einem lieblichen Mädchen, dessen Augen in Thränen schwammen.

Noch lag Marie fast regungslos auf der Bühne; nur das Zucken ihrer Glieder zeigte noch einen Rest des Lebens. Agnes faßte ihre Hände, Emanuel neigte sich über sie hin, da schlug sie die Augen auf, ein Schimmer der Verklärung flog über ihre Züge.

»Mein Vater!« sagte sie mit leiser Stimme und der Engel des Todes schloß die bebenden Lippen.

Schluchzend neigte sich der greise Vater über die Leiche des Kindes . . . Keiner wagte die stille Todtenfeier zu stören.

Man durchsuchte ihr Garderobenzimmer . . . der Arzt hatte ein Fläschchen mit tödtlichem Gift gefunden.

Der Epilog der Silesia mußte ausfallen. Die Trauerkunde hatte den innigen Antheil des Publikums erweckt. Sigismund war gleich nach der Begegnung bei Kleopatra verschwunden.

Tieftrauernd führten Agnes und Arthur den greisen Vater, der sein Kind nur im Tode wiedersehen sollte.

»Wenn ich ihr die letzten Ehren erwiesen,« sagte er tonlos, »so nehme ich meinen Pilgerstab und wandere über's Meer, nach Amerika, wo meine Glaubensbrüder wohnen. Ich suche nicht den Tod, wie mein 396 Kind es gethan! Doch blutige Gestirne gehen am Himmel auf, blutig ist diese Erde und verlangt entsetzliche Opfer. Auf diesem Boden weil' ich nicht . . . Jenseits im Westen such' ich den milden Stern des Friedens, der Menschlichkeit . . . der Urwald rausche über wehmüthigen Erinnerungen und vergeblicher Sehnsucht!« 397

 


 


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