Rudolf Gottschall
Im Banne des Schwarzen Adlers
Rudolf Gottschall

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Fünftes Kapitel.

Kleopatra.

Wir folgen dem Assessor, der durch einige enge Gäßchen den Weg nach der Ohle einschlägt. Sein ganzes Wesen ist plötzlich verändert, sein Gang hastig, seine Stirn mit Falten bedeckt, sein Mund fest geschlossen. Düster sinnend bleibt er einen Augenblick auf der Brücke stehen, welche über den unheimlichen Fluß führt, der sich in den Verkehr der engen Stadt hineinverirrt hat und in seinem trüben Wasser dessen modrige Spuren trägt. Heute hatte ihm indeß der eisbrechende Frühling einen frischen Flutenschwall von den Bergen nachgeschickt, und die gelben Wogen, die sonst versiegend dahinschleichen, zeigten heute eine ungewöhnliche Regsamkeit. Sigismund warf einen Blick auf die düsteren Hinterfronten der Häuser, deren hölzerne Gallerien und Altane mit aufgehängter Wäsche bedeckt waren. Wie von Segelstangen und Raen 56 flatterte das trocknende Leinen von weit hervorstehenden Dachrinnen, indem es sich in der Bewegung des heftigen Thauwindes gleich schwellenden Segeln blähte. Hohe wetterbraune Seitengiebel blickten über steile Dächer, die wiederum über kleinere Vordächer hinaussahen. Eine unruhige Lebendigkeit prägte sich in diesen ärmlichen hölzernen Bauten, in diesen schmalen, durch offene Gallerien durchbrochenen Hinterfronten, in diesen nach Art indischer Pagoden übereinanderragenden Dächerchen und Dächern aus. Doch Sigismund ließ seinen Blick auf einem hölzernen Altane haften, über dem ein mit bunten Flittern prangendes Gewand im Winde flatterte, das unter den Proletariarhemden zur Rechten und Linken sich stattlich hervorthat. Er schien vergebens zu erwarten, daß die geheimnißvolle Trägerin dieses königlichen Prachtkleides, das so melancholisch von einer weit vorstehenden Dachrinne herunterhing, selbst an die bretterne Balustrade trat. Rasch verließ er die Brücke, bog rechts um die Ecke in eine enge Gasse ein und trat dort in eine Hausthür, nicht ohne sich vorher vorsichtig umgesehen zu haben, ob außer dem mit einem schweren Eiswagen daherfahrenden Kärrner noch ein anderes menschliches Wesen seine Schritte belausche. Durch einen engen Gang tappte er eine ebenso enge düstere Treppe hinauf und blieb im zweiten Stockwerke vor 57 einer morschen und durchsichtigen Stubenthür stehen, hinter welcher er laut declamiren hörte. In sein Ohr drangen die, mit vielem Pathos vorgetragenen Verse:

Laß unser beider Leib in einer Gruft vermodern,
Die Glut der Liebe noch in uns'rer Asche lodern,
Zwei Seelen einen Kreis der Sterne nehmen ein,
Und beide täglich Braut und Bräut'gam sein.

Obwohl Sigismund keinen Zweifel darüber hegte, wer die Sprecherin dieser Lohenstein'schen Strophen sei und obwohl er, um jeden Zweifel zu heben, nur die Thüre zu öffnen brauchte, so folgte er doch einer ihm lieb gewordenen Gewohnheit, sich mit allem Behagen erst unsichtbar von dem Stande der Dinge zu überzeugen, und schielte durch die große Ritze der Thüre in's Innere des Zimmers. Zu seinem Erstaunen bemerkte er ein kleines Mädchen, von welchem jene schwunghafte Declamation unmöglich ausgehen konnte, das aber eben den Arm erhob und mit einem zarten Stimmchen die Verse der Kleopatra nachsprach. Sigismund klopfte an und trat in ein Gemach, in welchem eine malerische Unordnung herrschte. Einige gewaltige Reifröcke verschmähten die Schränke und Schübe, Haken und Nägel und standen mitten im Zimmer auf ihren eigenen Füßen. Ueber die Sophalehne hing eine seidene Robe von etwas verschossener Farbe; auf dem Tisch lag eine Guitarre, einige Hefte 58 und Bücher, ein Atlasschuh, der sich vergebens nach seinem Gefährten zu sehnen schien, und ein Paar Handschuhe, die beide nur auf eine Hand paßten. Die Besitzerin dieser Kostbarkeiten, eine Rolle und einen Fächer in der Hand, mit welchem sie jede, durch den seligen Lohenstein und seine Monologe hervorgerufene Erhitzung leicht wieder fortwedeln konnte, verneigte sich huldvoll gegen den Eintretenden, indem sie die zusammengerollte papierne Kleopatra mit ausgestrecktem Arm zur Abwehr der kleinen Schauspielerin vor den Mund hielt, welche eben im Begriff war, wie ein aufgezogenes Uhrwerk noch einmal die geheimnißvolle Brautschaft in den Sternen herunterschnurren zu lassen.

»Ich störe wohl?« fragte Sigismund mit leichter Verneigung. »Nicht im Geringsten, wir sind fertig, es ist mir sehr lieb, daß Sie kommen, ich habe Ihnen Wichtiges mitzutheilen,« rief die Lehrerin der Declamation und Mimik, indem sie die seidene Robe über die unerschütterlich dastehenden Reifröcke warf, um dem vornehmen Besucher Platz auf dem Sopha zu machen, und den Tisch mit dienstfertiger Hast beiseite rückte, wobei der einsame Atlasschuh und ein Band von Andreas Gryphius' Schauspielen gleichzeitig das Unglück hatten, das Gleichgewicht zu verlieren. und der kleinen Kleopatra zu Füßen zu fallen.

59 »Die Tochter eines meiner Collegen, der ich Unterricht in unserer Kunst ertheile,« sagte die Lehrerin, indem sie ihm dann rasch vertraulich ins Ohr flüsterte: »sechszehn Jahre alt, aber noch sehr klein und dumm. – Du kannst jetzt gehn, Brigittchen, grüße den Vater und komm morgen wieder.« Brigittchen sah sehr verwundert aus, daß sie heute so leichten Kaufs davon komme, ohne die Sterbescene, sie blickte auf den fremden Herrn, als wär' es


                                der Ausbund aller Helden,
Anton, den Süd und Ost wird stets unsterblich melden,
Vor dem Po, Phrat und Nil oft auf den Knieen lag,

und entfernte sich mit einem dankbaren Knix.

Kleopatra, die ältere, hatte mehr das Zeug, einen Antonius zu bezaubern. Mit Bewunderung sah das Breslauer Publikum sie in dieser Tragödie, die für sie gedichtet schien, welche indeß wie alle Lohensteinschen Stücke nur höchst ausnahmsweise auf die von den Staatsactionen beherrschte Bühne kam, und kein Auge blieb trocken, wenn die üppige Aegypterin sterbend auf die Bretter sank und Charmion ihr die Leichenrede hielt:

Wo fällt die Göttin hin? der Abgott uns'rer Seele?
Sinkt ihrer Augen Sonn' in so kohlschwarze Höhle?
Um daß sie Lieb und Licht allda erwecken mag?
Soll ihrer Glieder Schnee die Nacht verkehr'n in Tag? 60
Will ihr benelkter Mund im Grabe Blumen sämen,
Des Abgrunds finst're Kluft ein Paradies beschämen?

Stattlich war sie in der Fülle ihrer Glieder; diese vollen Lippen, diese großen junonischen Augen mit den hoch- und rundgeschwungenen Brauen – so nur konnte die Königin ausgesehen haben, welche die berühmte Perle in den schäumenden Becher warf, obgleich unsere Kleopatra niemals andere Perlen besessen, als Perlen von böhmischem Glas und das bekannte biblische Sprichwort daher von den Spöttern auch nur symbolisch in Bezug auf ihre Reize angewandt werden konnte. Auch irrte sich Brigittchen, die, wie wir's nicht verhehlen, auf der Treppe ihre absonderlichen Gedanken hatte, die für ihre sechszehnjährige Weisheit nicht uneben und eine Art von Ehrenrettung gegenüber der geringschätzenden Meinung ihrer Lehrerin von ihren geistigen Vorzügen waren, wenn sie glaubte, daß die ältere Kleopatra ihren Antonius gefunden habe – ein Blick auf das Paar konnte dem Kundigen keinen Zweifel darüber lassen, daß die lächelnden Liebesgötter nicht neben ihm auf der Sophalehne gaukelten. Die Aufregung der Künstlerin war unverkennbar; sie konnte den Augenblick nicht erwarten, wo Brigittchen die Thür hinter sich geschlossen; doch war es keine Liebesleidenschaft, welche bei ihrer Routine in diesem Fach auch nicht so gewaltig ihren Busen 61 gehoben hätte – und die bleichen Züge des vermeintlichen Amoroso deuteten auf eine andere Beschäftigung des Gemüthes, als auf die angenehme mit der nächsten so verlockenden Gegenwart.

»Gut, gut, daß Sie kommen,« rief Kleopatra in ängstlicher Hast, »es ist ein unverhofftes Ereigniß vorgefallen!«

»Sie meinen doch –«

»Was und wen könnt' ich anders meinen?«

»Weil ich sie selbst nach dem letzten Auftritt nicht mehr besuchen wollte, komme ich jetzt zu ihrer Freundin; denn es ist mir unmöglich, so ganz ohne Nachricht von ihr zu bleiben. Doch, Sie erschrecken mich – was ist geschehen?«

»Sie ist fort, ganz fort– spurlos verschwunden!«

»Unmöglich! – wenn ihr ein Unglück zugestoßen wäre. Erzählen Sie, erzählen Sie,« rief Sigismund in gesteigerter Aufregung. Kleopatra athmete freier auf, als ihr Gelegenheit geboten wurde, Alles, was sie auf dem Herzen trug, jetzt in ungestörtem Redefluß von sich abzuschütteln; sie sprach mit einer Lebendigkeit und Natürlichkeit, daß selbst ihr eifrigster Gegner im Parterre, der schon einmal viel Geld daran gewendet hatte, sie auspfeifen zu lassen, ihr Talent anerkannt hätte, obschon sie diese Eigenschaften, freilich! 62 auf dem Lohenstein'schen Kothurn beim besten Willen nicht entwickeln konnte.

»Das arme Kind war ganz tiefsinnig geworden, seitdem Sie den Wunsch aussprachen, sie möchte sich in einer anderen Stadt engagiren lassen. Es heißt zwar: »Lieber auf einem Dorfe der erste, als in Rom der zweite« – der bevorstehende Abschied wäre ihr zu schwer geworden. Dennoch stellte ich ihr vor, wie glänzend sich ihre Zukunft in jeder Hinsicht gestalten würde, wenn sie dann mit Lorbern und Triumphen geschmückt zurückkehrte. Und Ehrgeiz hat sie, Ehrgeiz aus Liebe! Sie dachte dann Ihrer sicher zu sein. Sie verdoppelte ihren Fleiß bei mir und zeigte wirklich ein recht hübsches Talent. Natürlich, es fehlt ihr die Kraft und Fülle für Lohenstein und Gryphius – sie ist zu sehr Veilchenduft und Mondschein. Da muß man ins Zeug gehen können, ohne daß gleich die Näthe platzen, wenn man eine Agrippina oder Sophonisbe spielt! Eine große tragische Künstlerin muß den Teufel im Leibe haben! Was die Gottschedin in Leipzig schreibt, das paßt eher für das arme Kind, doch sie wird nie unsere großen, schlesischen Dichter mit dem nöthigen Feuer darstellen.«

»Doch – was ist vorgegangen? Ich bitte Sie, erzählen Sie,« rief Sigismund ungeduldig.

63 »Sie wünschten, daß ich aus Freundschaft den wichtigen Schritt thäte und Ihre bevorstehende Verlobung ihr als ein in der Stadt verbreitetes Gerücht mittheilte. Ich hab' ihr das ganz vorsichtig und sachte beigebracht – doch es war wirklich rührend und tragisch, wie sie davon erschüttert wurde. Ach wenn sie jemals so auf der Bühne gespielt hätte! Das arme Kind! Natürlich blieb ihr nichts übrig, als es nicht zu glauben! Sonst wäre sie gleich verzweifelt! Ich wollte meinen Augen nicht trauen! Dieser Hochmuth! Sie bildete sich ernstlich ein, obgleich sie nur für zweite Fächer engagirt ist, sie könne mit einem Oberamtsassessor in ein ausschließliches und dauerndes Verhältniß treten! Eine so verdorbene Phantasie! Wir lachten sie neulich alle auf der Probe aus; denn wir dulden keine solche Ungebührlichkeiten! Sich in adelige Kreise drängen wollen – da hört ja alle Moral auf! Dann kamen Sie selbst zu ihr, um ihr die bestimmte Mittheilung zu machen. Sie war außer sich, griff zum Dolch, fiel in Ohnmacht – wie Sie mir erzählen.«

»Ja ja – doch was nun? Was haben Sie erfahren?« frug Sigismund, der wie auf Kohlen saß!

»Heute morgen eil' ich zu ihr, um ihr die Celinde einzustudiren; da kommt mir bereits in der Hausthür die dicke Bäckersfrau entgegen und sagt, daß die 64 Mamsell gestern Abend ausgegangen und nicht wiedergekommen sei, und das sei ganz gegen ihre Gewohnheiten. Sie habe ihr vorher die Miethe auf Heller und Pfennig bezahlt und sehr animirt ausgesehen.«

»Nicht wiedergekommen? bei Gott das ist auffallend,« rief der Assessor, der todtenbleich geworden.

»Ich steige hinauf auf ihr Zimmer – Alles stand am alten Platze. Nur die Vorhänge waren heruntergelassen! Die Ofenthür stand offen – und einige schwarze Flocken wehten mir daraus entgegen – ich konnte nicht sehn, ob das Häuflein Asche verbrannte Rollen oder Briefe waren. Auf dem Tische aber fand ich einen Zettel.«

»Einen Zettel – Sie haben ihn, wo ist er?«

»Ich hab' ihn für Sie aufgehoben,« sagte Kleopatra, indem sie in ihre Tasche griff und einige zerknitterte Rosabillets herausholte, offenbar auf Sicht lautende Liebeswechsel, die bereits verfallen waren; doch der Zettel befand sich nicht darunter. Die Künstlerin sah sich genöthigt, eine umfassende Durchsuchung ihrer Habe vorzunehmen, bei welcher sie Sigismund in fieberischer Spannung unterstützte. Sämmtliche Rollen und Bücher wurden durchstöbert, alle Kleidertaschen mit umgedrehtem Futter ans Tageslicht gekehrt, ja selbst die Bettkissen aufgewühlt; denn Kleopatra besann sich, heute morgen im Bette noch einmal 65 das Blättchen durchgelesen zu haben. Umsonst – alle Bemühungen blieben fruchtlos! Die Künstlerin verfiel in tiefes Nachsinnen, wie sie den heutigen Vormittag verbracht habe, doch er war ganz ereignißlos vorübergegangen, wie überhaupt in ihrem Leben jetzt eine bedenkliche Windstille eingetreten. Schwermuthsvoll warf sie sich auf's Sopha, unbekümmert um das zerknitterte Gewand, das ihr als Kissen diente, und ergab sich, die Hand auf's Haupt gestützt, einer stillen Verzweiflung.

Da klopfte es an der Thüre und Brigittchen trat ein: sie habe in ihrer Rolle diesen Zettel gefunden, den sie sich beeile, der Demoiselle zurückzubringen. Wie dieser Zettel in die Rolle gekommen, das war ein schwer zu entzifferndes Räthsel. Doch Sigismund hatte, bei aller Hast, mit welcher er nach dem Blättchen griff, noch Zeit, der kleinen dummen Brigitte einen hochachtenden Blick zuzuwerfen. Denn er als Kenner des weiblichen Herzens glaubte fest daran, daß die jüngere Kleopatra mit ägyptischer Zauberei das Zettelchen in ihre Rolle praktieirt, nur um einen Vorwand zu haben, bald wiederzukommen und sich nach dem Befinden der älteren Kleopatra und ihres Antonius umzusehen. Er nickte daher ziemlich gnädig, als das alberne Brigittchen wieder zur Thüre hinausknixte.

66 Seine Hände zitterten, es flimmerte ihm vor den Augen, als er das langgesuchte Blatt nun endlich vor sich sah. Es enthielt nur die wenigen Worte: »Ich gehe, um nimmer wiederzukehren. Niemand frage, wo ich geblieben. Verlassen im Leben und Sterben – das ist mein Loos! Marie.«

Sigismund, der die Worte in Hast überflogen, verweilte jetzt bei jedem einzelnen, als müßte es ihm noch besonders Rede stehen und Auskunft geben über des armen Mädchens Geschick. Daß dies kein berechneter Theaterstreich sei, wußte er nur zu wohl; er kannte Mariens ernsten und schwermüthigen Sinn. Die Tiefe ihrer Leidenschaft hatte ihn oft beunruhigt, ja sie war ihm unerquicklich vorgekommen; denn er wollte nicht so geliebt sein, wie Marie ihn liebte. Hastig sprang er jetzt auf und ging mehrmals im Zimmer auf und ab, während Kleopatra ihre großen Augen mit einer gewissen Schadenfreude auf ihm ruhen ließ, als wollte sie ihm sagen: das kommt davon, wenn man die Veilchen in ihrem schattigen Versteck aufsucht und an der Centifolie achtlos vorübergeht, die ihren vollen Kelch der Sonne erschlossen hat!

Der Assessor blieb indeß plötzlich vor ihr stehen. Sie sah an der Entschiedenheit, mit welcher er Halt machte, daß er einen festen Entschluß gefaßt, der auch sie mit angehe, und erhob sich aus ihren Träumereien.

67 »Sie sind die einzige Vertraute unseres Geheimnisses?«

Kleopatra lächelte verständnißinnig.

»Wie die Dinge jetzt stehen, kommt für mich Alles darauf an, daß dies Geheimniß gewahrt wird. Geloben Sie mir feierlich ein unverbrüchliches Schweigen!«

Die Schauspielerin zögerte. Ein wichtiges Geheimniß hatte seinen Werth; sie war nicht gewohnt, mit werthvollen Dingen leichtsinnig umzugehen.

»Sie zögern – Sie wollen mein Unglück?«

»Das gerade nicht,« entgegnete Kleopatra, indem sie die Worte nachlässig hinwarf und mit ihrem Fächer spielte.

»Sie wollen Ihre Freundin an mir rächen?«

»Ich war ihr sehr gut, der armen Marie,« sagte die Darstellerin, indem sie eine Thräne sich aus dem Auge zu wischen schien. Sigismund sah an dieser verspäteten Rührung, daß er die Sache zu ernst genommen.

»Ich weiß, daß Sie mir einen großen Dienst damit erweisen; was verlangen Sie dafür?«

Kleopatra verrieth Zeichen gerechter Empörung. Der Assessor merkte, daß er auf der rechten Fährte sei.

»Wenn Sie mir ein ewiges Schweigen geloben, so werde ich dafür Sorge tragen, daß Sie das gewünschte Privilegium erhalten.«

68 Wie von einem elektrischen Schlage berührt, fuhr jetzt die Künstlerin empor. Eine freudige Röthe umstrahlte ihre Wangen, ihre Augen leuchteten, ihr Busen hob sich. Sie war schön in diesem Augenblicke, denn Nichts macht schöner, als die Freude. Kleopatra war zum Herrschen geboren, ein Schauspielerprivilegium für die Provinz das langerstrebte Ziel ihres Ehrgeizes. Doch alle ihre Eingaben hatte das Oberamt bis jetzt unbeachtet gelassen und Herr von Reideburg selbst war von einer unglaublichen Schwerhörigkeit gegen alle Anspielungen, an denen es die Künstlerin nie fehlen ließ. Ueber diesem plötzlichen Zugeständnisse hatte sie so ganz vergessen, welchem traurigen Ereigniß sie es verdankte, daß sie wie in ein jubelndes Frohlocken ausbrach, welches selbst dem keineswegs zartfühlenden Assessor in diesem Augenblicke wenig passend schien.

»Hier meine Hand – die Ihrige auf Tod und Leben! Ihr Geheimniß wird mit mir begraben!«

Sigismund schlug ein. »Erst mußt' ich mir den Rücken decken! Jetzt werd' ich Alles aufbieten, um über Mariens Geschick zweifellose Aufklärung zu erhalten. Vielleicht hat sie den leidenschaftlichen Entschluß wieder bereut, vielleicht war sie zu zaghaft ihn auszuführen. Doch was auch geschehen sei – ich bin auf immer unwiderruflich von ihr getrennt. Bei 69 Ihnen werd' ich mich nächstens erkundigen, ob in Mariens Wohnung oder im Theater selbst keine zufällige Nachricht über sie eingelaufen. Ich halte mein Versprechen, zweifeln Sie nicht!«

Er drückte der hoffnungsvollen Schauspieldirectorin, welche bereits die Veltheim'sche Truppe im Geiste tief unter sich sah, nochmals die Hand, trat vorsichtig aus der Thüre des Hauses und schritt in tiefen Gedanken über die Ohlaubrücke. Erschreckt fuhr er auf, als von einem Giebeldach ein verspäteter Schneesturz in die Fluth stürzte und die Dachrinne einen kleinen plätschernden Wasserfall ausschüttete; denn er hatte eben mit des Geistes Augen gesehn, wie ein bleiches Weib sich in die Fluth stürzte und wie die angeschwollenen Wasser von Brücke zu Brücke ihre Leiche trieben, die Leiche der vergessenen, verlassenen Marie. 70

 


 


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