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Neunzehntes Kapitel. An Vaters Bett.

Als Schmiedings Ballkutsche durch die Gartenstraße fuhr, stand Mike gerade im Schlafzimmer und brachte den Wildfang Fredi zu Bett, der sich vergebliche Mühe gab, um der ernsten Familienstimmung willen das helle Trompetenstimmchen zu dämpfen.

»Wird Papa morgen wieder ganz gesund sein?«

»Nicht gleich ganz, Fredi, aber hoffentlich gesünder als heute; das Gesundwerden kommt nach und nach.«

»Ja, aber vor Weihnachten doch ganz bestimmt?«

Mike kamen die Tränen in die Augen. »Bitte den lieben Gott darum,« sagte sie leise, »und jetzt sei brav und schlafe ein, damit er nicht durch dein Plappermäulchen gestört wird.«

Er nickte eifrig, preßte sicherheitshalber die Lippen zusammen und faltete die Hände. Mike aber ging hinaus, um den Schwestern die Schultaschen packen zu helfen und dabei nach den Arbeiten zu sehen. Nur war das heute eine schlimme Aufgabe: der Kopf war schwer und ließ sich nicht regieren; die Gedanken schweiften hierhin und dorthin und wollten sich nicht zu dem Aufsatz über den Herbstsegen zwingen lassen, der krakelbeinig in Lises Schreibebuch prangte.

Einmal liefen sie den rollenden Wagen nach, sahen die geschmückten Freundinnen aussteigen, folgten ihnen in den farbenhellen Saal, dann schlichen sie wieder in das Krankenzimmer und lauschten auf den stöhnenden Atem des armen, schmerzgeplagten Vaters.

»Da ist der Echtermeyer,« mahnte Lise zum drittenmal und reichte Mike das dicke Gedichtbuch hin, aus dem sie ihre Litteraturkenntnis schöpfen sollte. »Wir haben den Grafen von Habsburg zu lernen, die ersten sechs Verse; soll ich sie dir aufsagen? Ich kann's fein –«

»Ja – nein –« Mike sah umher, als wache sie aus einem Traum auf. »Nein, Li, ich habe nicht so lange Zeit – seid brav und hört es euch gegenseitig ab, aber ohne Streit, denkt daran, daß ihr Papa nicht wecken dürft.«

Die Mädchen saßen in der Küche, so weit vom Papa entfernt, als irgend möglich, und sie sprachen jetzt flüsternd miteinander, dämpften auch beim Ueberhören die Begeisterung über ihr Gedicht, die sich gern in schwungvoller Rede geäußert hätte.

Als die Kleinen besorgt waren, stellte Mike Tee und Butterbrot auf ein Brett, und trug es hinaus, wo Kläre aufräumte, nachdem vor einer Stunde das letzte Abtanzkleid fortgeschickt worden war. Sie kauerte auf der Diele und las mit müden Bewegungen die Abfallläppchen zusammen.

»O Kläre,« rief Mike, »laß doch gut sein; komm, trink Tee, iß tüchtig und dann leg dich schlafen, damit du morgen bei Kräften bist.«

Mike hatte Mühe, die Schwester zu »dieser gräßlichen Faulheit« zu bereden, aber Klara war so müde, daß sie gar nicht anders konnte als gehorchen; sie aß und trank, während Mike die Schneidereispuren vollends beiseite räumte. Als sie die Futterpäckte nach dem Dachkämmerchen nebenan schaffte, kam sie an ihrem für den heutigen Abend bestimmten Ballkleid vorbei, das dort auf einem Holzgestell hing, fertig bis aufs kleinste.

Ihr Herz klopfte ein wenig schneller und das Blut stieg ihr zu Kopf; sie wäre doch gern dabei gewesen, sehr gern – und wie lustig wäre es gewesen – wenn man nur überhaupt noch hätte lustig sein können.

»Ich werde es weghängen, es verstaubt ja,« sagte sie und schloß den großen Kleiderschrank auf. Da verschwanden die weichen, blaßgrünen Falten im Dunkel, in einem Seitenfach verkrochen sich Schlüsselblumenkränzchen, Fächer, Handschuhe und Spitzentuch, die schwere Tür schlug wieder zu, und Mike ging zu Klara zurück.

Ihr Herzklopfen hatte nachgelassen, ihre Gedanken waren wieder beim Nächsten.

Im Waldgarten tanzten sie eben den ersten Walzer, Schwebefein eröffnete ihn stolz schwebend mit Frau Bürgermeister Lenz, da hatte sie die Schwester endlich im Bett, und Klara schlief schon fest, als Mike gleich darauf unten bei Lise und Line »ein Ende machte«.

»Wir können unsern Habsburger fein, und wenn du es nicht wärst, gingen wir noch lange nicht ins Bett, denn es ist gerade, als seien wir noch Wickelkinder, aber du gibst uns auch die nächste Schokolade, die du deiner Emmy abgewinnst!«

Mike nickte, mit dem Finger auf dem Mund, und brachte eine nach der andern ins Schlafzimmer. Wenn beide zugleich ausgezogen wurden, konnten sie nicht schweigen, trotzdem ihr Mitleid mit dem armen Papa sehr groß war.

Dann saß Mike im Wohnzimmer und wartete auf den neunten Stundenschlag, mit dem sie die Mutter ablösen sollte. Draußen stieß der Wind in kurzen Stößen gegen die Fenster, ab und zu schlugen vereinzelte Tropfen an die Scheiben; Mike kroch in sich zusammen, sah nach der Uhr, sah nach dem dunkeln Fensterviereck und fühlte sich jämmerlich einsam.

Sie holte den Ausbesserkorb heran, und schob ihn nach wenigen Stichen wieder beiseite; sie lauschte nach dem stillen Nebenzimmer; sie griff nach dem Gedichtbuch, das vom Auswendiglernen liegen geblieben war; sie klappte es auf und zu, las hie und da ein paar Zeilen –

Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp ...
... Auf dreimal dreißig Stufen steigt
Der Pilgrim zu der Gnadenpforte –

Nein, es ging nicht, was kümmerte sie der Kampf mit dem Drachen, oder der Taucher, der in die gräßliche Tiefe sprang, keinem zum Nutzen, keinem zur Freude – sie schob das Buch fort und fühlte Kälte über Arme und Rücken ziehen – da, endlich schlug es neun.

Bald danach kam die Mutter langsam, mit müden Augen, aus dem Nebenzimmer.

»Er schläft,« flüsterte sie. »Hast du auch alles zur Hand, Herzenskind? Wenn er aufwacht: fünfzehn Tropfen – hast du eine Decke? Steht Tee warm?«

»Ja, süße Mami, alles; geh nur und schlafe recht fest, du brauchst gar nicht zu horchen; wenn ich mir keinen Rat weiß, hole ich dich.«

Die Mutter küßte Mike zärtlich und ging; sie wollte horchen, aber nicht lange glückte es ihr, bald schlief sie bleischwer und tränenmüde ein, Mike allein war noch wach.

Sie schlich sich leise, mit angehaltenem Atem, ins Krankenzimmer. Hinter einer spanischen Wand brannte die Lampe, ließ das Bett im Dunkel und veränderte mit seltsamen großen Schatten und Lichtstreifen rechts und links Wände und Möbel. Dorthin schlich sie, setzte sich vorsichtig in den Lehnstuhl und nähte weiter an der bunten Stickerei, die Mama dort hatte liegen lassen.

Sie hatten herausgefunden, daß man beim Arbeiten leichter munter blieb, und dies Sticken machte gar kein Geräusch.

An zwei Stunden saß Mike dort und zog seidene Fäden durch den Stramin; manchmal meinte sie, Walzerklänge und das Lachen der Freundinnen zu hören, aber schnell verscheuchte das Lauschen auf die Atemzüge des geliebten Kranken wieder die lockenden Töne, und das Ticktack der alten schwarzen Uhr behielt nach wie vor die Oberstimme in der Nachtstille.

Gegen Mitternacht wurde der Vater unruhig, Mike schlich sich zu ihm, und als er kurz darauf erwachte, fiel sein erster Blick auf das schmächtige Gesicht mit dem freundlichen Lächeln.

»Bist du da?« sagte er erfreut, und schob ihr die Hand entgegen.

Er hatte mancherlei Wünsche. Das Gefühl, ihm nützen zu können, belohnte Mike; sie durfte sein Kissen rücken, seine Medizin in den Löffel träufeln, Limonade bereiten und ihre Hand in der seinen lassen, als er sie sehnsüchtig faßte, als wolle er sie nicht wieder freigeben.

Als sie ein paar Minuten so still neben ihm gestanden hatte, schlug er plötzlich die Augen wieder auf und fragte: »Ich hörte vorhin Wagen fahren – was ist denn heute hier außen los?«

Mike erschrak, er sollte das doch nicht wissen, sie stotterte: – »ach – Wagen?«

Da lächelte er. »Ich glaube, euer Tanzfest war heute – armes Ding. Hab' ich dir das verdorben –« und Mike rief lebhaft: »Nein, nein, Papa – ich bin sehr gern bei dir, du hast mir gar nichts verdorben.«

Er seufzte, aber gleich darauf lächelte er wieder und strich ihr zärtlich über die Hand: »Ich bin froh, daß du bei mir bist, mein Miks, und ich hab' heute auch viel weniger Schmerzen, ich glaube, ich schlafe wieder ein.«

Er schloß die Augen, und Mike setzte sich, heiß von Glück, Kummer, Hoffnung und Bangen, wieder in ihren Lehnstuhl. Gleich konnte sie nicht wieder sticken, es stand ihr dunkel vor den Augen, von seltsam gemischten Tränen; als aber die Ballkutschen auf ihrem Heimweg vorüberrollten, zog sie lächelnden Mundes die Fäden durch den Stramin und hörte nichts als die Atemzüge des lieben Vaters, vermischt mit dem Ticktack der alten Urgroßmutteruhr.

 


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