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Zweiundzwanzigstes Kapitel. Sie kommt!

Das Kränzchen kam, auch nachdem die Festtage vorbei waren, nicht gleich in das Alltagsgleis, denn es galt, Rose und Else, »die Ferienkinder« zu genießen. Sie wurden gefeiert, mußten Annas Akten und Protokolle durchlesen, mußten Gretes Briefe kennen lernen, und mußten viel, sehr viel erzählen.

Eines Tages – plötzlich, mitten in der Erzählung von einem ganz unvergleichlichen, großartigen Fest unterbrach sich Rose und rief: »Ihr kennt ja Hilde Rohden, die herrliche Rohden, die Malerin, die sie dort das Bild nannten, weil sie eigentlich viel schöner ist, als was Lebendiges sein kann. Ich sage euch, so was von Begeisterung! Und kein Mensch in Berlin begreift, daß sie sich hierher nach Amsel vergräbt – daß sie hierher in die Verbannung geht, anstatt dort zu bleiben und uns alle weiter zu bezaubern. Erzählt mir von ihr. Erzählt mir von eurer Buchberger Bekanntschaft.«

»Nein, erzähle du uns,« riefen Emmy und Mike wie aus einem Munde. Dann aber stand Emmy auf und holte das Rosenbild, worüber die »Berlinerin« außer sich vor Begeisterung geriet.

»So gut standet ihr euch!?! Es ist überwältigend. Wenn ich das erzähle, steigt mein Kränzchen sechzig Meter hoch über die Siegessäule vor dem Brandenburgertor. Wißt ihr was? Sie muß Mitglied werden!«

Emmy wurde dunkelrot. »Wie kannst du nur an so etwas denken – die Künstlerin und wir einfachen Mädchen – sie ist auch schon zwanzig.«

»Weißt du,« antwortete Rose belehrend, »eine solche dumme Altersgrenze gibt's nur noch in kleinen Nestern. In Berlin ist das nicht Mode. Da hat man sich lieb, wie man sich gerade trifft. Und Künstlerin? Wer weiß, was noch aus mir wird. Ich stimme gleich im voraus für Hilde Rohdens Beitritt – daß ihr's wißt –«

»Ich auch!« rief Else eifrig, und alle andern gaben ihre Stimme gleichfalls lachend und scherzend für die »Zukunftshoffnung«, wie Anna es nannte. Nur Emmy kam über das Rotwerden und ein lebhaftes Gefühl von arger Anmaßung nicht hinaus.

Am vierten Januar, nach einer sehr kalten, unfreundlichen Nachtfahrt, traf die Malerin in Amsel ein. Eine rosenfarbene Azalie blühte ihr als Kränzchengruß entgegen, und die freundliche Fürsorge der jungen Mädchen sprach sich auch in dem gut durchwärmten Zimmer und einem zurechtgestellten Imbiß aus. Auf dem Teller lag ein Willkommwort und die Einladung zum Abendessen ins Doktorhaus.

Eigentlich hätte Hilde nun die versäumte Nachtruhe nachholen sollen, aber das Ueberdenken von all dem Neuen, was ihr die nächsten Tage bringen mußten, ließ sie nicht sogleich zur Ruhe kommen.

Als sie so auf ihrem Zimmer saß, kam sie sich plötzlich sehr vereinsamt vor. Wenn doch eines der beiden Mädchen am Bahnhof gewesen wäre, sie eines der lieben frischen Gesichter angelächelt hätte – sie hatte eigentlich heimlich auf einen persönlichen Willkomm gehofft.

Gerade in diesem Augenblicke klopfte es schüchtern an die Tür und auf Hildes lebhaftes: »Herein!« schaute Mike durch den vorsichtig geöffneten Spalt – ein wenig verlegen zuerst, aber sie taute schnell auf unter dem frohen Willkommblick und in Erinnerung der schönen Buchberger Tage.

Ehe sie selbst wußte, wie es eigentlich kam, lag sie in der Angebeteten Armen, und da sie des Herrn Inspektors Händedruck zu fühlen meinte, seine Stimme zu hören glaubte: »Habt meine Hilde lieb, sie war immer allein,« so ermutigte sie sich an ihrem guten Recht, und die Bedenklichkeit, die sie auf dem Weg von der Gartenstraße nach dem Frankenweg zweimal zum Umkehren gebracht hatte, kam kein einziges Mal wieder.

Sie saß siegreich neben dem »Wunder«, hatte die schöne, feine Künstlerhand zwischen ihren kleinen, harten, braunen Fingern, frühstückte mit, half auspacken und schnepperte lustig drauf los.

»Wie gern Emmy gekommen wäre! Sie glauben nicht wie gern, aber sie hatte keinen Mut, sie hätte auch beinahe mir mein bißchen Courage wegvernünftelt: Müde würden Sie sein, gern ausruhen wollen, froh, wenn nach Reise und Abschiedsaufregung endlich einmal Stille um Sie herum sei – ich möge nur allein gehen oder am besten auch wegbleiben, denn ich würde Sie gewiß nur stören und plagen. Aber Schnepperchen – so nennen sie mich im Kränzchen, obwohl ich eigentlich die Schlüsselblume bin – Schnepperchen bringt so eine Enthaltsamkeit nicht fertig. Sie wird dich schon fortschicken, dachte ich, wenn sie dich nicht brauchen kann, und vielleicht gibt's im Gegenteil etwas zu helfen oder Bescheid zu sagen, oder einen Weg zu zeigen, oder etwas zu besorgen und so ganz allein sein in einem fremden Ort, das denk' ich mir ein bißchen graulich. Nicht? Oder soll ich doch lieber gehen?«

Hilde hörte mit stillem Behagen Mikes Plaudern zu, ließ sich von ihr helfen, sah ihr in das bewegliche Gesichtchen mit den glänzenden Augen; jetzt strich sie ihr über die heißen Wangen und schüttelte den Kopf.

»Nein, es ist sehr hübsch, daß Sie gekommen sind, Mike. Sie können mir viel helfen und auch noch einen besonderen Gefallen tun, wenn Sie Zeit haben. Ich brauche nämlich eine Postkarte, um an den ängstlichen Bruder zu schreiben, der immer denkt, ich, sein großes Kind, könne nicht allein reisen, und dann möchte ich gern die Wohnungen des Schulvorstandes und meiner Kolleginnen kennen lernen.«

Natürlich wußte Mike Bescheid. Sie schrieb Namen und Adressen in Hildes Merkbuch. Zu einigen erzählte sie schnell noch ein paar Anekdoten. Auf dem Wege nach der Post schritt sie mit einem Gefühl neben der schönen Fremden einher, als sei sie seit heute früh bedeutend gewachsen und alle Begegnenden sähen das auf den ersten Blick.

Trotzdem auf der linken Straßenseite der Bürgersteig nicht sehr schön abgeputzt war, zog sie diese doch vor, weil sie hier von Rose Flinsch gesehen werden konnte. (Rose stand wirklich hinter dem Fenster, erkannte die Künstlerin und grüßte leidenschaftlich mit Kopf und Armen.)

Nachdem dieser großartige Eindruck gemacht worden war, fühlte Mike Reue über die schlechte Führung, suchte die besten Uebergänge aus und beschrieb Straßen und Häuser, die Hilde nachher brauchte, sehr anschaulich und praktisch.

Als sie sich vor des Bürgermeisters und Schulvorstands Wohnung von dem geliebten Schützling verabschiedet hatte, eilte sie zu Emmy, den guten Erfolg des gewagten Unternehmens zu berichten.

Emmy putzte die Nachtischcreme für die Abendgesellschaft mit kleinen Baisers aus und hatte eben Franz abgeschickt, um Klara und Mike einladen zu lassen.

Während Mike lebhaft erregt Bericht erstattete, wurde Emmy immer ernsthafter; die Gläser klirrten leise in ihrer Hand und ein wehmütiger Zug legte sich um ihren Mund.

Dabei hättest du nun auch sein können, wenn du nicht so feige gewesen wärest, dachte sie; und laut sagte sie, als Mike endlich mit ihrem glückatmenden Bericht fertig war: »Du hattest wieder einmal recht, Mike; meine Zaghaftigkeit versäumt tausendmal öfter das Rechte, als daß deine frische Eilfertigkeit etwas Ungeschicktes anrichtet.«

Mike wurde dunkelrot. Sie bewunderte Emmy, und besonders ihre »himmlische Ruhe« so aufrichtig, daß sie es durchaus nicht ertragen konnte, von irgend jemand etwas gegen diese Vortrefflichkeiten sagen zu hören, ja wäre es auch von Emmy selber und zu ihrem eigenen Lobe gesagt gewesen. Deshalb erwiderte sie jetzt lebhaft: »Nein, Emmy. Du bist tausendmal im Recht, ehe ich's einmal bin, und was ich mit meinem Hurlebusch schon alles angerichtet habe, weißt du ja. Kam ich heute zehn Minuten früher, so störte ich sie jedenfalls, und ohne deine Bedenken, die mich so langsam gehen machten und zweimal umkehren ließen, wäre ich mindestens zehn Minuten früher gekommen; so aber schlug ich gerade im Augenblick der Not ein – das war das Glück – ich habe eben Glück, das ist alles, während in dir ein feines Gefühl ganz deutlich spricht, wo ich vor inwendigem Geschnepper noch gar nichts höre – das gibt doch eine ganz andre Sicherheit. Du bist eben tausendmal klüger als ich, und feiner und bedächtiger – wenn ich das Glück nicht hätte, oh weh – so aber gehen meine Dummheiten meist leidlicher aus, als ich's verdiene.«

Emmy schüttelte den Kopf, zog aus ihrem Bücherschrank den Tasso und suchte darin. Dann reichte sie Mike das Buch, deutete auf eine Stelle und ließ die Freundin lesen:

»Wer wird die Klugheit tadeln? Jeder Schritt
Des Lebens zeigt, wie sehr sie nötig sei,
Doch schöner ist's, wenn uns die Seele sagt,
Wo wir der feinen Vorsicht nicht bedürfen.«

»Schöner ist's, Mike, viel schöner, so gerade zuzugreifen wie du, und immer jemand dabei aus vollem Herzen wohl zu tun. Ich glaube sogar, da steht noch ein Druckfehler und es muß eigentlich heißen: ›feige Vorsicht‹ anstatt ›feine‹, denn Feigheit, elende Feigheit ist mein ewiges Zögern; aus Angst, ich könnte einmal zu viel tun, tue ich immer zuwenig und versäume das Rechte, was gerade in dem Augenblick geschehen muß – wie damals, als Franzel im Wasser lag.«

»O, Emmy, wenn du das doch vergessen wolltest, du tust mir so weh damit!« rief Mike, die geliebte Freundin stürmisch umarmend, »das war ja auch nur ein tolles Glück, daß ich den kleinen Taugenichts plumpsen hörte; hätte ich vorgelesen, so hättest du ihn erwischt, und ohne Anna schwämmen wir jetzt wahrscheinlich beide auf dem Weltmeer herum oder frören in einen Eisberg ein; eigentlich hat Anna uns herausgezogen, du hast uns vorgelesen, weißt du, und saßest am weitesten weg, und es ist überhaupt alles Unsinn, was du sprichst!«

Mike hatte das schon etwa hundertmal gesagt und es machte heute noch weniger Eindruck als an früheren Tagen; da aber eben Franz ins Zimmer stürmte, mußten sie den Wettstreit, ob es besser sei, Mut zu haben oder klug zu sein, unentschieden lassen.

Franz rief, ohne Mike zu sehen: »Einen schönen Gruß, und wenn Miketante heute überhaupt noch nach Hause käme, dann wolle sie sie mitbringen, sagte Fräulein Klara.«

»O weh, o weh! Da haben wir den Salat,« rief Mike lachend. »Adieu, auf Wiedersehen!« Und fort war sie. Draußen auf der Treppe hätte sie um ein Haar den langen Johannes und seinen dichtenden Freund Ferry Wiese in Grund und Boden gerannt, wenn die sich nicht noch glücklich durch einen Sprung zur Seite »vor dem Ueberfahrenwerden« gerettet hätten.

Glücklicherweise fiel Mike vor der Tür ein, daß sie eine junge Dame sei, daß junge Damen gewöhnlich die Straßen nicht im Fohlentrapp durchliefen und daß sie außer Atem die schöne Rede, die sie Klären halten wollte, unmöglich mit der notwendigen Betonung fertigkriegen könne. Sie ging also leidlich manierlich dahin, lachte aber alle Menschen so vergnügt an, daß es gut war, daß alle ihr begegnenden Amseler die »tolle Mike« kannten, und sich deshalb nicht über das rote Gesichtchen, den lachenden Mund und die übermütigen Augen verwunderten.

Ueber dem langsamen Gehen hatte sie die Rede für Klara ganz vergessen, sie dachte nur noch an das Schöne, was ihr begegnet war, und da sie zu dem späten Kaffeestündchen noch zurechtkam, so erheiterte sie die ganze Tafelrunde durch ihren farbenprächtigen Bericht, der in Franzels Hereinstürmen gipfelte.

»So, so,« sagte schmunzelnd der Papa, »also das war die Mahnung, ohne die Fräulein Springinsfeld jetzt wahrscheinlich noch einen dritten Besuch unternommen hätte.«

Mike wurde etwas rot, denn sie hatte allerdings einen Augenblick an die Fischerkinder gedacht.

»Du, Papa,« meinte sie ehrlich, »vielleicht wäre mir die Kaffeestunde aber doch noch eingefallen.«

»Natürlich, weil es Weihnachtsstollen gibt,« ergänzte Klara, aber sie lachte dazu und an dieser glänzenden Stimmung war Doktor Olfers Einladung schuld.

Sie sprach sich sehr anerkennend in dieser Richtung aus und Mike stimmte eifrig ein.

»Doktor Olfers ist immer großartig,« sagte sie weise, »ein Mann, an dem sich Tausende ein Beispiel nehmen könnten. Sieh doch deine Garnreste durch, Kläre, wir müssen ihm wirklich mal eine Schlummerrolle häkeln.«

 


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