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Sechzehntes Kapitel. Verirrte Wanderer.

Der letzte Sonntag sollte mit einer Fahrt in den Wald gefeiert werden. Früh beizeiten saßen sie am Kaffeetisch und warteten Peters; dabei erzählten sie sich von dem, was außerhalb der Insel des Glücks, Buchberg genannt, noch wünschenswert sei.

Hilde sah nachdenklich vor sich hin. »Ich möchte gern den Zeichenunterricht an einer Schule haben, das würde mir Freude machen. Ich wäre selbständig und brauchte Hans nicht all das Geld wegzunehmen, das er eigentlich zurücklegen müßte; aber hören darf er das nicht,« fügte sie mit schelmischem Lächeln hinzu, »sonst wird er sehr böse.«

Emmy und Mike kam es wunderbar vor, daß Hilde, die aussah wie eine Prinzessin, von Geldverdienen sprach; Doktor Olfers aber ging ernsthaft auf ihren Plan ein und sagte, es sei recht, daß sie den Bruder entlasten wolle, der seit ihren Kinderjahren für sie gesorgt habe.

Inzwischen war Peter mit dem Jagdwagen vorgefahren und packte Flaschen und Körbe in die Sitzkästen. Nur Großmama blieb daheim, selbst Tante Franz und der Inspektor hatten sich frei gemacht; trotzdem war in dem leichten Wagen noch so reichlich Platz, daß Mike am liebsten ein paar der neugierig gaffenden Dorfkinder aufgeladen hätte, so leid war es ihr um den übrigen Raum. Die Fahrt ging unter dichten, goldig grünen Buchenkronen hin, an schwatzenden Bächen vorbei, bis tief ins Grüne hinein, wo im Hintergrunde einer üppigen kleinen Waldwiese die »Champagnerquelle« entsprang.

Hier wurden die Körbe geöffnet, die Flaschen entkorkt; man lagerte sich im Kreis und hielt Mahlzeit im Grünen.

Hilde begann zu singen.

Alle stimmten ein, sogar Tante Franz, die, als das Lied zu Ende war, lachend versicherte, ihr wäre auf einmal bei diesem fröhlichen Sange die merkwürdige Erinnerung gekommen, daß sie auch einmal jung gewesen sei.

Als alle satt waren, auch Peter und seine Pferde, streckte sich die Tante ins Gras und war für »Feiertag machen«, das heißt ausruhen; sie wolle nicht am Sonntag »fürs Pläsier« Kräfte vergeuden, die man Werktags zur Arbeit brauche. Sie erlaubte auch nicht, daß Hilde nach der Aussichtsruine ginge, nach der man noch eine gute halbe Stunde steigen mußte. Doktor Olfers blieb zum Schutz gegen blutdürstige Mücken mit seiner Zigarre neben der Schwester sitzen.

Der Inspektor aber lachte über die bequemen Leute und war gern bereit, die tatendurstigen Freundinnen bergauf zu führen.

Oben setzten sie sich ins Gras und schauten hinab auf die Saale und ringsum auf die benachbarten Höhen. Rohden kannte jedes Haus, jeden Flecken, jeden Baum der Landschaft, er konnte ihnen alles erklären. Sie sahen eine Fähre über die Saale gleiten und ein riesiges Floß das Wasser hinabtreiben, sie sahen die Sonne auf den Fenstern der kleinen Bergstadt Orlamünde blinken. Sie saßen lange auf der Höhe, malten sich aus, wie es in jenen Zeiten, als die spärlichen Kemenatenreste noch eine stattliche Burg waren, im Tale zugegangen sein mochte, fügten dabei die gepflückten Blumen zu Sträußen, deren schönster für Hilde bestimmt ward und sangen endlich noch ein paar Lieder ins Land hinein.

»Und nun heißt es eilen, sonst geht uns die Sonne durch, ehe wir auf die Landstraße kommen,« mahnte endlich der Inspektor und stand von seinem Felsenstuhl auf. Sowie die »Herumstreicher« bei der Champagnerquelle anlangten, ging es über den Rest der Lebensmittel her; Tante Franz hatte Butterbrote geschnitten, die ebensoviel Lob fanden wie Hildes reizende Zeichnung, die den Quell mit der lagernden Tante und dem rauchenden Papa verewigte.

Peter spannte die Braunen wieder ein, putzte den Wagen mit Buchenzweigen auf, »damit man gleich sehen könne, daß das eine Landpartie sei«, und fuhr vor.

Alles war fertig, nur Emmy feuchtete noch Moos an, das um die Stiele der gesammelten Waldblumen gelegt werden sollte, als plötzlich Schritte laut wurden und zwischen den Stämmen zwei Menschenkinder hervorkamen, die sehr müde aussahen. Der halbwüchsige Jüngling marschierte noch leidlich mutig, das junge Mädchen jedoch konnte die Füße kaum noch emporheben und stolperte jeden Augenblick über eine Baumwurzel.

»Gott sei Dank!« sagte sie, »da sind Menschen« und ging auf Emmy zu. Plötzlich aber stutzte sie und blieb stehen. Emmy sah von ihrem Moos auf – »Melanie!« rief sie, »wo kommt Melanie Schönbach her?«

Wirklich war es Melanie Schönbach mit ihrem Bruder Max.

Melanie wurde dunkelrot, als sie die Gesellschaft erkannte; jetzt wo sie sich verirrt hatte, wo sie nicht aus noch ein wußte, dazu von Vera unter so seltsamen Umständen verlassen worden war, gab sie ein tückischer Zufall in den Bereich von »Mike Hennings böser Zunge«.

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Emmy sah von ihrem Moos auf – »Melanie!« rief sie, »wo kommt Melanie Schönbach her?«

Max dagegen kam gutes Mutes näher, in dem angenehmen Bewußtsein, »sich um den ganzen Tratsch nicht gekümmert zu haben«; und die Freundinnen dachten nichts Arges. Im Gefühl ihrer weit angenehmeren Stellung, waren sie sehr zuvorkommend; zumal Emmy fühlte sich im Buchberger Wald als Wirtin verpflichtet und stellte die beiden Wanderer Tante Franz und Rohdens als alte Bekannte vor.

Zu Peters großem Mißvergnügen wurden die übrig gebliebenen Butterbrote wieder ausgepackt, und Tante hatte die Freude, daß sie bis aufs letzte von den hungrigen Geschwistern vertilgt wurden.

Unterdessen mußten sie erzählen, wie sie nach der entlegenen Champagnerquelle gekommen seien. Das war denn freilich eine gründliche Irrfahrt. Sie hatten mit ihren Thüringer Verwandten einen Ferienausflug nach Jena gemacht, waren am frühen Morgen, reich an guten Ermahnungen und Unternehmungsgeist, von Jena nach Uhlstädt gefahren und hatten hier die Bahn verlassen, um zu Fuß nach Orlamünde zu gehen. Irgend jemand hatte ihnen diesen Weg als besonders lohnend geschildert und die Ruine, die sich Melanie als Gespensterschloß sehr merkwürdig dachte, sollte unbedingt zum Ferienschluß noch besucht werden. In Orlamünde dachten sie zu übernachten und am Abend des folgenden Tages in Jena wieder mit den Verwandten zusammenzutreffen.

Aber sie hatten ihr Ziel gar nicht erreicht; seit Stunden schon liefen sie in der Irre umher, ohne einem Menschen zu begegnen, den sie hätten um Rat fragen können, und die Sonne ruhte schon auf dem Gipfel der westlichen Berge, als sie endlich die Stimmen der Gesellschaft hörten und die heimliche Sorge: wo wird euch die Nacht ereilen? zum Schweigen gebracht wurde.

Melanie war ein wenig gedrückt, Max zeigte sich als frischer, höflicher Junge: Tante Franz war mit ihnen zufrieden. Sie erklärte infolgedessen, es sei Unsinn, mit solch müden Beinen heute noch anderthalb Stunden nach Orlamünde zu laufen und dort den Berg »hinauf zu kraxeln«, Buchberg habe für zwei verirrte Wanderer allemal Platz.

Melanie wurde dunkelrot und warf einen scheuen Blick auf Mike und Emmy, die aber fanden ganz unbefangen Tantes Vorschlag sehr nett und Max warf seinen Reisehut mit lautem Hurra in die Luft.

Nun kam der reichliche Platz zur Geltung, Peter atmete auf, die ungeduldigen Braunen griffen aus, und daheim empfing Großmama am gedeckten Tisch die neuen Gäste mit all ihrer liebenswürdigen Gastfreundschaft.

Trotzdem taute Melanie nicht recht auf, Veras Schatten wich nicht von ihrer Seite; desto flotter erzählte Max seine Ferienerlebnisse, daran knüpften sich Schulgeschichten, und schließlich gab es Amseler Neuigkeiten, die aus einem gestern eingetroffenen Brief geschöpft waren.

Unter diesen Neuigkeiten war eine, die allen in dem kleinen Kreise mehr oder weniger wichtig erschien.

»Was in einem Menschen stecken kann, ohne daß die andern es merken, ist manchmal zu schnurrig. Der kleine Eckenberg, der Zeichenprofessor, wissen Sie, über den sich die Amseler gern ein bißchen lustig machten, ist auf einmal ein berühmter Mann geworden. Sie haben ihn feierlich irgend wohin berufen, um große Kartons auszuführen, die er entworfen hat. Und er soll gesagt haben: Fahr wohl, Amsel, du holde Stadt, ich scheide von dir, ohne das Genie entdeckt zu haben, das naturnotwendig in deinem Weichbild im Laufe dieses Jahrhunderts das Licht der Welt erblicken muß.«

»Ich bin es nicht!« rief Mike lustig, »verehrter Professor, beruhige dich!« Und während alle lachten, flüsterte sie Emmy zu: »Aber du vielleicht?« und Emmy errötete bis unter die Haarwurzeln.

Dann ging es an ein Fragen, ein Bedenken, ein Sichunterrichten, und ehe man sich zur Ruhe legte, war es beschlossen, daß Hilde Rohden sich um die Zeichenlehrerstelle in Amsel bewerben sollte, die durch Herrn Eckenbergs Berufung frei geworden war.

Am andern Tag bereits ging Hildes Gesuch und ein Befürwortungsschreiben des Doktors an die Schulkommission von Amsel ab, während Emmy und Mike die beiden Schönbachs glücklich zum Jenaer Zug brachten.

Unwillkürlich atmeten sie auf, als Maxens wehender Hut verschwand. Melanie hatte nicht, wie sie bestimmt erwarteten, gesagt: Ich möchte wieder ins Kränzchen kommen! und sie dadurch, der Abwesenden wegen, in Verlegenheit gesetzt. »Abschlagen hätten wir's ihr doch nicht können,« sagte Mike lebhaft, und gleichzeitig bemerkte Max im davonfliegenden Zug: »Heute warst du dumm! So bequem kriegst du's nicht wieder, ich hab dir's doch gleich gesagt, die Gunst des Augenblicks muß man benutzen.«

»Ach, deine Weisheit – ich kann ihnen doch nicht entgegenkommen, sie hätten anfangen müssen,« antwortete Melanie unwirsch, denn sie fühlte, wie sehr er recht hatte.

Wenn nun Melanies Stern an diesem Tage nicht hell geleuchtet hatte, war der Hilde Rohdens desto besser geputzt gewesen. Ihr Gesuch kam just an einem Sitzungstage in Amsel an, wurde, dank der Empfehlung des hochangesehenen Doktor Olfers sofort erledigt und zwei Tage darauf, gerade als Emmy und Mike wehmütig ihre Koffer packten, kam ein großer Brief mit Amtssiegel, der Hildes Anstellung enthielt und sie vom ersten Januar ab verpflichtete.

Emmys Augen leuchteten auf, Mike vergaß den Rest ihrer ehrfürchtigen Schüchternheit, flog Hilde um den Hals und gab ihr einen Kuß, der in sanfter Herzlichkeit erwidert wurde.

Als sie danach halb erschrocken, halb beglückt nach ihrem Zimmer laufen wollte, stand der Inspektor plötzlich vor ihr, faßte ihre Hand und drückte sie herzhaft.

»Haben Sie die Hilde recht lieb! Die arme Kleine hat ihre Eltern nie gekannt, hat sich immer unter Fremden behelfen müssen, da tut ihr Liebe doppelt wohl.«

Fest erwiderte Mike seinen Händedruck. »Ich habe Hilde lieb – von Herzen lieb – ich werde alles tun, was ich ihr an den Augen absehen kann, aber sie ist so wonnig – ich bin gewiß, wer sie sieht, muß ihr gut sein.«

Der Inspektor wollte etwas antworten, aber da traten Hilde und Emmy zu ihnen. Hilde suchte den Bruder und Emmy die Freundin, um das unterbrochene Einpacken zu vollenden.

Voll Abschiedsweh betraten sie ihr Zimmer, kaum aber waren sie dort, so schlug die Stimmung um und sie hielten sich für die glückseligsten Menschen unter der Sonne.

Da lag die Beantwortung der beiden Fragen: »Hat sie die Rosen bekommen? Hat sie uns lieb?«

Jede fand auf ihrer Kommode ein Bildchen, das nur ein holdes Wesen dahingelegt haben konnte. Es stellte einen Rosenzweig dar, die Rosen aber waren wie zu einem Rahmen gebogen und zwischen diesen Stengeln hindurch sah man Buchberg liegen, ein feines, kleines Bildchen und so deutlich, so getreu, daß die Mädchen sich gar nicht fassen konnten vor Entzücken.

Tante Franz erklärte das zwar für einen heillosen Unsinn, und fragte, ob man das Erholung nenne, zugleich aber freute auch sie sich an den wohlgelungenen Bildern.

»O, das liebe, liebe Buchberg!« sagte Mike wehmütig im Anschauen versunken.

Großmama, die alles hörte, strich ihr freundlich über die heißen Wangen: »Uebers Jahr kommen meine lieben Töchterchen wieder, und so Gott will, steht dann in Buchberg noch alles auf dem alten Fleck.«

»Natürlich,« fiel Tante Franz lebhaft ein, »sie können dann gleich in Fräulein Rohdens Gesellschaft reisen, die kann aufpassen, daß sie nicht etwa unterwegs aus Enthusiasmus in irgend einem Dichterhaus die Türen ausheben.«

Mike lachte unwillkürlich.

»So ist's recht,« fuhr Tante Franz fort, »und nun packt euern Kram zusammen, dann machen wir noch einen Spaziergang in den Obstgarten und notabene: geheult wird nicht beim Abschiednehmen. Auf Wiedersehen wird gesagt.«

 


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