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Neuntes Kapitel. Was Verse alles anrichten können.

Gitta Schmieding saß im Schaukelstuhl auf der Veranda und stöhnte. Sie hatte zwar hier Schatten vor der Frühsommerglut, aber sie stöhnte doch. Lili saß auf einem lehnenlosen Sessel neben ihr und arbeitete an einer bunten Stickerei viel eifriger, als es sonst ihre Art war.

»Sie sind ein rührendes Liebchen,« sagte Gitta und strich ihr mit dem Fächer über die fleißigen Finger; »sich so für mich aufzuopfern.«

Lili wurde rot vor Vergnügen über die Huldbezeigung; sie saß ja so gern hier in dieser wundervollen Eleganz und hörte den märchenhaften Berichten zu, die Gitta von ihrem früheren Leben entwarf. Und dann erzählte sie auch von dem Bazar, für den diese Arbeit sein sollte, bei der die kleine Faule fleißig wurde; von dem prächtigen Bazar, den der neue Frauenverein für die Armen veranstalten wollte.

Die Zeit flog dahin; schreckhaft fuhr Lili zusammen, als es Drei schlug, und beinahe ein Seufzer war es, als sie sagte: »Ich muß nun ins Kränzchen.«

Ihr Herz wurde noch schwerer, als Gitta sie mit herablassender Freundlichkeit einlud. »Bleiben Sie doch! Wir plaudern ja so nett. Was haben Sie denn groß an den Mädchen – die sind unbedeutend genug.«

Dieser Schluß aber war denn doch sogar für die bewundernde Lili zu viel; eifrig verkündete sie das Lob ihrer Mitblumen, wurde sich in diesen fünf Minuten über mehr gute Seiten der Freundinnen klar, als sonst manchmal in Jahr und Tag, und verriet am Ende, gereizt durch zweifelnde Einwände, als Beweis von Geist und Witz, die Verse, die nach Lausanne geschickt worden waren.

Sie erreichte ihren Zweck, Gitta lachte Tränen, rief ein »Reizend!« über das andre und erklärte, Lili habe recht, diese Mädchen seien der Freundschaft wert; wer solchen Ulk zu dichten verstünde, mit dem könne man sich nicht langweilen.

Immer wieder citierte sie eine Stelle und lachte aufs neue.

Tanzstundenpracht
Ist Leo Kracht

oder:

Ungeheuer
Ist sein Feuer!

Hitze und Müdigkeit waren vergessen, und Lilis ernstliche Bitte: »Aber verraten Sie niemand etwas davon, ich hab's Ihnen nur gesagt, um Ihre schlechte Meinung zu verbessern!« beantwortete sie mit einem eilfertigen: »Aber natürlich!« Dann eilte Lili davon, stolz auf den Erfolg, den sie ihren Freundinnen errungen hatte; aber erzählen mochte sie ihnen doch lieber nichts von dem, was geschehen war.

Das Kränzchen versammelte sich heute seit langer Zeit zum erstenmal wieder bei Hennings. Der kranke Hausherr war ins Bad gereist; es brauchte um seinetwillen nicht mehr »pst« gesagt zu werden, wenn sich übermütige kleine Zungen zu lebhaft hin und wider regten.

Mike war trotzdem stiller als sonst. Sie und Mama hatten am Morgen den Vater nach der Bahn gebracht. Er war, angeregt durch Genesungshoffnungen, heiterer und frischer gewesen denn seit lange, was Mike in die lustigste Ulkstimmung versetzte; auch Mamas jetzt oft so sorgenvolles Gesicht war immer klarer geworden. Zuletzt erschien noch der gute Doktor Olfers, und der Vater blickte vom Fenster des davonbrausenden Zuges freundlich auf Mikes wehendes Tuch, bis die große Kurve ihn den Blicken entzog. Wie ein Vergnügungsreisender entschwand er ihnen.

Dann aber war gekommen, was Mike noch jetzt still und ernsthaft machte.

Während sie behaglich schlendernd das Sonnenschirmchen hin und her wippen ließ, gingen Mutter und Arzt in angelegentlichem, leisem Gespräch hinter ihr drein. Sie achtete erst auf diese Unterhaltung, als Mama plötzlich lebhafter fragte: »Und hoffen Sie, daß er geheilt zurückkommt?«

»Meine liebe Frau Rätin, das hofft man immer, wenn man einen lieben Kranken ins Bad schickt. Es war höchste Zeit, und nun wollen wir auch diesmal hoffen.«

Die Stimme des Doktors klang anders als sonst, und die Mutter seufzte so tief nach diesen Worten, daß sich Mike erschrocken umdrehte und den beiden ins Gesicht starrte.

Doktor Olfers sah ernst, Mama ungewöhnlich blaß aus, als aber Mike sich zu ihnen wandte, sagte der Arzt freundlich: »Nun, Kind, du wirst wohl den Familienberichterstatter machen und diesen Sommer anstatt interessanter Reisebriefe häusliche Tagebücher in die Fremde schicken?«

»Ja,« antwortete Mike eifrig, »jeden vierten Tag soll ich Papa alles melden, was bei uns geschehen ist, auch das Dumme, aber der Brief darf nur zehn Pfennige kosten, und die zehn Pfennige muß er auch wert sein, hat Papa gesagt.«

Mutter und Arzt lächelten; Mike versuchte sich mit diesem Lächeln zu trösten, aber der ungewohnte, beängstigende Druck blieb, und allen Kränzlerinnen fiel am Nachmittag auf, daß »Mike sich in der Tanzstunde Melancholie angeschafft habe«.

»Du, Mike, denke nur ja nicht, daß Bildung und feines Benehmen in Kopfhängen und gesenkten Mundwinkeln besteht, das wäre einfach grauenhaft.«

Mike hätte alles eher gekonnt, als der lustigen Kaffeerunde von der drückenden Sorge zu reden, die sie bewegte, sie gab sich also sehr viel Mühe, die alte Mike zu sein, es gelang aber nicht immer, und da auch Anna mit dem störenden Hintergedanken dasaß: »Wißt ihr etwa, daß ich ein Tanzbär bin?« so versagten die beiden Hauptspaßmacher, und Lili dachte: »Gut, daß uns Gitta heute nicht hört, es ist gerade, als hätte ich unsern Geist berufen.«

Am Sonnabendmorgen kam eine heitere Karte, die Rat Hennings unterwegs geschrieben hatte, und Mike verscheuchte alle grauen Gedanken; das klang so frisch, hell und hoffnungsfreudig, daß sie sich zu dem festen Glauben begeisterte, Karlsbad werde ihr einen kerngesunden, glücklichen Papa wiederschicken; da konnte sie sorglos zur Olferstanzstunde fliegen, die die Mädchen die behagliche nannten.

Nur Anna ging heute widerwillig zu Doktors, »wie der Bauer aufs Gericht«; und je näher der Anfang des Tanzens rückte, desto unruhiger wurde sie. Wie sollte sie sich auch nur durch die bescheidenste Polka winden, mit der Last des Tanzbärenbewußtseins auf der Seele?

Als Schwebefein winkte, stand sie gerade neben Gitta, auf die Kracht und Lerche Sturm liefen. Da nur einer Lilis »Wunder« erhaschen konnte, mußte sich der andre vor Anna verbeugen.

»Er hat mich natürlich nicht gewollt,« dachte sie und hatte beinahe Fieber. Aber die Aufregung machte sie so munter, daß Lerche dachte: »Schwer tanzt sie, aber sie plaudert fein, das ist auch was wert.«

Davon wußte sie freilich nichts, und als die Polka zu Ende war, begann das Herzklopfen aufs neue. Sie zog sich diesmal hinter Mike und Emmy zurück, die sich eben darüber unterhielten, daß der kleine Geiger heute noch keines seiner Butterbrote gegessen habe.

Weit lebhafter ging's in der Gymnasiastenecke her, und dazu war auch Grund vorhanden. Gitta hatte mit Leo Kracht getanzt und während dieses ganzen langen Tanzes nichts denken können, als

Tanzstundenpracht
Ist Leo Kracht!

Schließlich ging's immer mit der Polkamelodie, als flüstere ein Kobold in ihre Ohren:

Tanzstundenpracht
Ist Leo Kracht!

Nun griff er gar noch unwillkürlich nach der Stelle, wo einst das Monocle verführerisch geblitzt hatte, und zog dabei die rechte Backe schief, sie konnte sich nicht mehr fassen und lachte hell und herzlich auf.

»Gnädiges Fräulein amüsieren sich prachtvoll,« sagte er, und einige Kränkung war aus seiner Stimme herauszuhören. Nun, kränken wollte ihn Gitta nicht, er tanzte ganz fein und war entschieden der Modernste; sie sagte also rasch: »Ach, sehen Sie nur einmal dorthin, wie Herr Baltzer durch den Saal stürmt!«

»Ja – er tanzt etwas feurig.«

»Nicht wahr?« Hellauf lachte Gitta noch einmal. »Sie finden es auch feurig? – Andre Leute gleichfalls. Ich habe solch ein lustig Verschen über ihn gehört, daran dacht' ich, deshalb lacht' ich.«

Sie konnte nicht widerstehen; auf Krachts neugierige Frage deklamierte sie mit niedlichen, kleinen Grimassen und Armbewegungen:

»Unser braves Kurtchen Baltzer
Rennt die Stühle um beim Walzer,
Ungeheuer
Ist sein Feuer,
Und es wär ein grausam' Pech,
Kreuzt ein Spiegel seinen Weg,
Das käm' teuer.«

Leo Kracht stimmte, aufrichtiger Begeisterung voll, in Gittas Lachen ein, er war durchaus in der Laune, sich über seine Nebenmenschen zu amüsieren.

Sein Mitgenuß, das Vergnügen an ihrem eigenen Deklamieren und sein dringendes Fragen nach jedem etwa vergessenen Verschen verführten Gitta, eines nach dem andern preiszugeben. Ihr Gedächtnis war gut; haperte es mit einer Zeile, so half sie aus ihrer eigenen Phantasie ein wenig nach.

Ihr Tänzer wand sich vor Vergnügen. »Aber ich selbst?« rief er endlich. »Hat man mich allein nicht für würdig befunden? Ich bin doch gewissermaßen auch ein besingenswerter Gegenstand.«

»Natürlich,« antwortete Gitta schelmisch; »der Vers fing an:

Tanzstundenpracht
Ist Leo Kracht –

das weitere hab' ich vergessen, das würde Sie auch viel zu eitel machen.«

Er wollte sich aufs Bitten verlegen, aber da war der Tanz zu Ende. Gitta machte ihm eine Verbeugung und schwebte zu den Müttern, um eine Tasse Tee zu trinken – und vor weiteren Fragen sicher zu sein.

Einen Augenblick lang sah Leo Kracht der Entschlüpfenden verblüfft nach; dann eilte er sofort nach der »Männerecke«.

»Primaner, wir sind besungen worden!«

Lerche rückte sein Kinn in die Höhe. »Begreiflich. Sie machen Amarantlieder auf uns, zerschmelzend in Sehnsucht und Verehrung.«

Leo Kracht lachte. »Jawohl!« – Dann stellte er sich feierlich vor die Lauschenden und sprach, nicht so zierlich wie Gitta, aber ebenso wirkungsvoll:

»'ne Lerche gibt's in unserm Kreis,
Er fliegt dahin wie ein Kurier,
Sucht sich die Schönsten aus mit Fleiß
Und still bewundernd staunen wir.
Nur eines tut an ihm mir leid:
Den Zehen fehlt's an Einigkeit;
Stets tritt die eine nach der andern
Und so etwas erschwert das Wandern.«

– Den Schluß mit der Schulbank hatte Gitta unterdrückt.

Ein Kichern begleitete die Verse und hallte nach. Primaner Lerche aber guckte verdutzt seine Zehen an.

»Nun sagt mal! Die sollten sich nicht vertragen?«

Das Schmunzeln ringsum sagte ja.

»I da soll doch! Und darauf macht einen keiner aufmerksam! Nun aber wird sich das abgewöhnt und dann soll der langzöpfige Kritiker eine Bonbonniere zum Lohn haben.«

»Das nenne ich edle Rache,« sagte Leo, vor Lachen schluckend, »wollen mal sehen, ob der Baltzer ebenso großherzig denkt?«

»Nun brat' mir einer 'nen Storch!« rief Kurtchen, als er sein Poem weghatte. »Die Kratzbürsten! Sie sollten heilfroh sein, daß ich sie so kräftig durch den Saal wirble; dabei kommt man doch in Bewegung, und Temperament ist die Hauptsache im Leben – davon verstehen Kinder allerdings noch nichts.«

»Oho, laß die Mädchen das nicht hören! Sie halten sich natürlich für Damen, das lernt man aus dem Olfers-Hymnus.«

Hans schmunzelte hinter seinem Hymnus drein. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich solch erhebenden Eindruck mache. Und wenn alle andern von Anna Krause sind, dies auf mich hat Mike Hennings gemacht, denn die ist so flaumfederleicht, daß man sie schon mal in den Himmel heben kann, ohne es überhaupt zu merken.«

»Glaubst du wirklich, daß die Krausin das kann?« fragte Ferry.

»Natürlich, die war's, die bringt die ganze Welt in Reime.«

Lächelnd sagte Ferry vor sich hin:

»'s geht die Sage,
Daß er dichtet alle Tage,
Auch bei Nacht
Nichts anders macht.«

»Du meinst wirklich, es sei von der Krause?« flüsterte er, und auf Hansens ernstliches Kopfnicken raffte er sich zu dem Entschlusse aus: »Ich tanze mit ihr!«

Max Schönbach lachte zu seinem Gedicht, den Schokoladenbart fand er freilich sehr schnöde.

»So geht es: ich habe überhaupt nur dem Kranz Bonbons angeboten, damit verraten sie sich; übrigens bewundere ich bei meiner Schwester den Mut des Schweigens.«

»Natürlich das Kränzchen! Wer wußte es denn? Die Schmieding? Dann hat Lili geschwatzt und soll gezwickt werden.«

Der Männerbund war einig – Max Schönbach wurde an diesem denkwürdigen Tage dem Männerbund eingereiht – den andern verhehlten sie ihre Vermutungen.

Da rief Schwebefein zum gefürchteten Walzer auf.

»Also ich hole mir Lili, das scheinheilige Mitzekätzchen, das tut, als könne es nicht bis drei zählen und dabei seine Freunde verrät!« rief Kurtchen Baltzer. »Aber nichts zu den andern, denn wir müssen uns eine feine Gegengabe ausdenken.« Dann folgten sie eilig dem Rufe des Tanzmeisters.

Ferry Wiese aber hatte sich wirklich an Anna gewagt – da sich kein andrer um ihren Walzer riß, wurde es ihm nicht einmal schwer gemacht. Auch nachher blieb es ganz leicht, denn für Anna war er der ersehnte Tänzer. Wiese hatte ihr Gewicht noch nicht erprobt, er konnte also das vom »Tanzbär« auch nicht gesagt haben, ihm sah sie freundlich entgegen, ihm half sie geschickt über die erste stotternde Verlegenheit. Bald waren sie im tiefsten Gespräch über Dichtkunst und Versemachen, über Idyllen, Tragödieen, Epos und Frühlingslyrik; sie hatten sich so viel zu sagen, daß Schwebefein mahnend herantreten und die geflügelten Worte sprechen mußte: »Na, mit dem Munde lernt man keinen Walzer!«

Tatkräftiger ging Kurt Baltzer vor; er raste mit Lili durch den Saal, daß ihr schwindlig und bange wurde. Hier mußte Schwebefein mit einem: »Sind Sie des Kuckucks, mein Herr!« dazwischenfahren. Nach diesem Haltgebot blieb Kurt stehen und sagte treuherzig schmunzelnd zu der Atemlosen: »Nicht wahr, ungeheuer ist mein Feuer? Stühle haben wir zwar nicht umgetanzt, aber es war doch gut, daß uns kein Spiegel in den Weg kam. Das wär' teuer! Huit!«

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Kurt tanzte wieder los und verursachte solche Verwirrung, daß Schwebefein entsetzt dem Tanze ein Ende gebot.

Lili sah ihn entsetzt an, ach, und aus seinen Augen blinkte es so spöttisch und verschmitzt zugleich, daß sie verwirrt hervorstieß: »Was soll denn das heißen? Ich verstehe Sie gar nicht?«

»Nicht? – Ach –?« Er sah sie mitleidig an und fuhr freundlich erläuternd fort: »Es soll heißen, daß ich ein bißchen heftig tanze und allemal froh bin, wenn ich einen Walzer ohne Unfall hinter mir habe.«

»Das versteh' ich natürlich,« sagte Lili ärgerlich; »ich bin gar nicht so dumm, aber warum Sie mir das sagen –« sie brach ab und kam wieder in Verwirrung.

»Warum ich Ihnen das sage?« fragte das boshafte Kurtchen gedehnt. »Nun, man red't doch was. Nicht jeder hat Anlage und Geist genug zum deutschen Dichter; bei mir müssen Sie schon mit dem Feuer fürlieb nehmen: Ungeheuer, und nicht teuer, ist mein Feuer,« damit tanzte er wieder los und verursachte als blind wütender Komet solche Verwirrung unter den braven, ihre Bahn innehaltenden Gestirnen, daß Schwebefein entsetzt dem Tanz ein Ende gebot.

Aber auch auf des Meisters heftiges: »Mensch, was richten Sie an?« hatte Kurtchen nur die eine Antwort: »Ungeheuer ist mein Feuer!« und Lili eilte so schnell als möglich nach dem Mütterzimmer. Er hatte sie zu sehr erschreckt; still setzte sie sich mit einer Tasse Tee zu Fräulein Mathilde in die Ecke und dachte immer wieder: »Weiß er, oder ist's ein Zufall?« Aber sie kam nicht darüber ins reine.

Nun ärgerte sie sich doch, daß sie nicht zu den Freundinnen gegangen war, sie hätte zu gerne gewußt, ob die auch jemand mit verdächtigen Reden erschreckt hatte. Fragen wollte sie nicht, davon hielt sie das schlechte Gewissen zurück, aber jene würden sich's natürlich voll Entsetzen erzählen, wenn ihnen etwas Aehnliches begegnet wäre. Lili blinzelte durch die Türspalte hinüber. Es ging sehr ruhig in der Kränzchenecke zu, Ferry Wiese stand noch vor Anna in tiefernstem Gespräch. Sie beurteilten eben die »Minna von Barnhelm« sehr eingehend und sachverständig. »Nein,« dachte Lili, »es ist ihnen nichts Unrechtes in den Weg gekommen, und ich ängstige mich unnötig; Baltzer war ganz harmlos, ungeheuer und Feuer ist ein zu naheliegender Reim, auf den kann jeder kommen.«

Ermutigt stand sie auf und ging Max Schönbach entgegen, der in der offenbaren Absicht, mit ihr zu tanzen, in das Teezimmer kam.

»Darf ich bitten, Fräulein Roßbach? Nicht wahr, ich habe die Ehre – ich bin ja ein braver, guter, tadelloser Kränzchenbruder –«

Lili wurde dunkelrot und stolperte, ohne daß ihr ein Hindernis in den Weg gekommen wäre; erst als er fortfuhr:

»Ja, ich bin ein braver Junge,
Habe keine böse Zunge,«

schöpfte sie wieder Mut. Das stand nicht in dem Kränzchenbrief, Max machte offenbar Verse auf eigene Hand. Mit leidlicher Fassung tanzte sie das Menuett, wenn auch nicht ganz so niedlich, wie in der letzten Stunde.

»Jetzt schon verflachen?« rief ihr Schwebefein mit emporgezogenen Augenbrauen zu.

Dieser Tadel lenkte alle ihre Gedanken auf das Hübschaussehenwollen; die Verbeugungen gerieten, die Stimmung wurde immer besser. Lächelnd ließ sie sich von ihrem Tänzer zu den Freundinnen führen.

Da aber flüsterte ihr der schreckliche Max während der Abschiedsverbeugung noch zu: »Aber das mit dem Schokoladenbart war eine poetische Uebertreibung, das werden Sie bei einiger Ueberlegung entschieden zugeben.«

Weg war er, Lili wurde schon wieder blutrot und sah angstvoll nach den Freundinnen. Sie hatten nichts gehört, keine beachtete ihr Erschrecken, nur Melanie sagte neckend: »Du wirst ja rot; unser Mäxchen hat dir gar am Ende eine Artigkeit gesagt?«

Während des nächsten Tanzes glaubte Lili wieder an Glück und Sonnenschein; Leo Kracht tanzte mit ihr, er war nicht im Komplott und suchte nur seine Person noch strahlender leuchten zu lassen, als gewöhnlich; er fühlte sich durchaus als »Tanzstundenpracht«.

Dieser Polka folgte ein Lancier, zu dem sie Hans Olfers aufforderte, ihr Gegenüber war Wiese und Mike, zur Rechten hatte sie Edu und Emmy, links führte Mohrchen Mela mit vielem Anstand ins Geviert. Man war »ganz unter sich«.

»Ja, ich bin ein langer Ritter,« begann Hans Olfers die Unterhaltung, »aber dafür kann man nichts; ich will mich nach Möglichkeit zu Ihnen hinabneigen, Sie sollen den Erdboden nicht unter den Füßen verlieren.«

Lilis voll Entsetzen aufgesperrtes Mündchen genügte ihm als Geständnis. Sie hat's wirklich verschwätzt, Emmy wird schön böse werden, dachte er, sprach aber nun von andern Sachen, sprach übermütiger und lebhafter, als er's sonst fertig brachte, obgleich er kaum eine Antwort von seiner Tänzerin erhielt.

Dann kam die große Kette – Hand um Hand sich reichend, schritten die Herren und Damen des Karrees aneinander vorüber.

Zuerst gab Lili dem kleinen Edu die Rechte. »Der Erste ist mein liebster Tag,« sprach er grimmigen Blicks, denn er hatte sich wirklich ein bißchen geärgert.

Dann klang ihr Ferry Wieses Stimme ins Ohr: »Ja, es geht von mir die Sage, daß ich dichte alle Tage.«

Mohrchen folgte ihm murmelnd: »Gehör' zum Männertugendbund, drauf reimt sich sein Gedankenschwund.«

Ihr war ganz schwindlig zu Mute, aber weiter ging's; noch einmal ließ sich Edu vernehmen: »Tanzstundenpracht ist Leo Kracht.« Noch einmal flötete Ferry: »Wer schiebt sein Kinn so stolz daher?« Lächelnd deklamierte Mohrchen: »Die arme Lerche tut mir leid, den Zehen fehlt's –«

O wenn es nur zu Ende gewesen wäre, wenn sie nur nach Hause gekonnt hätte! Da war kein Zweifel mehr möglich, sie wußten alles, alle Verse kannten sie, Gitta hatte es verschwätzt und nun quälte man sie, und sie wagte niemand ihr Leid zu klagen.

Die Tränen saßen Lili ganz dicht unter den Augen, als der Tanz zu Ende war, und sie hatte nur den einen einzigen Wunsch: daß heute abend überhaupt alles vorüber wäre.

Da wurde ihr dieser Wunsch ganz überraschend erfüllt.

Mike Hennings steckte plötzlich den Kopf in das Zimmer, wo die mancherlei Papas sich eine Zigarre gönnten, und flüsterte: »Du, Onkel Doktor!«

Doktor Olfers trat heran. »Nun, Mikemaus, was hast du auf dem Herzen?«

»Sieh doch, bitte, mal nach dem kleinen Geiger, er ist ganz gewiß krank, erst sah er ganz blaß aus mit kohlschwarzen Augenrändern, weißt du, schon ganz zum Fürchten, jetzt nach dem langen Lancier ist er richtig grün geworden.«

Doktor Olfers kam gerade zur rechten Zeit, um den umfallenden kleinen Geiger aufzufangen. Die Geige fiel dabei heftig zu Boden und bekam einen Sprung, aber der Knabe hörte nichts mehr von dem schlimmen Unfall; nur der Klavierspieler hob sie auf und sprach zu der erschrockenen Mike: »Auch das noch! Nun ist die Geige entzwei, und er kann sich nie wieder eine neue kaufen. Der arme Junge hat mehr Pech, als einem redlichen Menschen zukommt.«

»Nicht wahr,« sagte Mike treuherzig, »ich dachte es gleich, er sah immer so hungrig aus.«

»Wenn's bloß das wäre! Seine Mutter ist gelähmt, die muß er pflegen, und der Oheim und Vormund, bei dem sie wohnen, nimmt ihn zur Feldarbeit in Anspruch, wozu er keine Kraft und kein Geschick hat. Er könnte ein ganz tüchtiger Musikant werden, geschickte Finger und feine Ohren hat er – aber von was? Da hapert's, und nun ist auch noch die Geige kaput.«

Mikes Augen hingen groß und entsetzt an dem Berichterstatter.

»Ach, der arme, kleine Geiger,« sagte sie, »wie heißt er denn?«

»So sind die Reichen,« sprach pathetisch der Klavierspieler. »Wochenlang lassen sie sich von einem Unglücklichen zu ihrem Vergnügen aufspielen und wissen nicht einmal seinen Namen.«

Mike konnte sich unmöglich sehr getroffen fühlen durch diese Bemerkung; der kleine Geiger tat ihr so leid, daß sie in diesem Augenblick gar nichts andres empfand.

»Lippo heißt er,« sprach der Klavierspieler feierlich, »Lippo Ziegenfell.«

»Ach?«

»Ja, auch das ist ein Unglück, denn ein Ziegenfell kann nie berühmt werden, das ist ein zu lächerlicher Name.«

»O, deshalb,« tröstete Mike, »darauf hört gar keiner mehr, wenn der Ruhm kommt; erst haben wir in der Litteraturstunde auch über den Klopstock gelacht, aber wie wir erst die herrlichen Oden auswendig lernten, da kam uns der Name beinahe schön vor. Wenn der kleine Lippo nur wieder lebendig wird, dann soll er schon froh und satt und berühmt werden – Ziegenfell ist gar nicht so garstig.«

Der Klavierspieler wandte sich achselzuckend von der »sehr jungen« Dame, die nichts von der Welt wußte, zu Schwebefein, dessen stattliche Gestalt den Türrahmen reichlich ausfüllte, und Mike schlüpfte hinaus, um nach dem Kranken zu sehen.

»Sie können nach Hause gehen, mein wackeres Orchester, der Hausherr wünscht, daß nach diesem Zwischenfall heute nicht mehr getanzt werde. Herr Doktor Olfers ist ein vortrefflicher Mann, möglicherweise ist der kleine Lippo heute in sein Glück hineingefallen, und wir können sehen, woher wir ein Geigerlein bekommen, das so geduldig zu den Bocksprüngen meiner Studenten aufspielt.«

Der Störenfried war inzwischen wieder zu sich gekommen, lag im Gastzimmer auf einem Bett, bekam von Fräulein Mathilde abwechselnd starken Wein in den Magen geschüttet, Aether unter die Nase und Eau de Cologne gegen die Stirne gedrückt. Halb gegen seinen Willen – er hätte den wunderbaren Zustand gern gründlich ausgekostet – schlief er ein, und Doktor Olfers ging hinaus, wo er Mike, die vor der Türe wartete, beinahe umgerannt hätte.

»Lebt er noch, Onkel Doktor?« fragte Mike leise.

»Ja, Kind; kann uns alle überleben, wenn er's danach anfängt; heute aber ist er sehr schwach, und du scheinst mit dem Hunger so ziemlich das Richtige getroffen zu haben. Jetzt will ich Schwebefein fragen, wen man zu benachrichtigen hat; der Junge mag heute hier schlafen.«

»Lippo Ziegenfell heißt er, seine Mutter ist Witwe, und ein roher Vormund nützt seine Kräfte aus.«

»Sieh mal, Mike weiß alles. Dann kenne ich die Leute; sein Vater verunglückte vor Jahren beim Bahnbau, und die Mutter ist eine Italienische, die unsern Winter nie vertragen lernt.«

»Ja, Onkel, sie ist gelähmt, und Lippo könnte ein Künstler werden, aber – vorhin ist ihm die Geige zersprungen.«

Doktor Olfers lächelte. »Wenn das das einzige Hindernis ist, Kind, kann er noch ein Mozart werden; ich will selbst zu den Leuten gehen und der Frau Bescheid sagen, damit sie nicht ohne Not erschrickt. Ihr aber, Mike, geht hinein und vergnügt euch noch bis zehn Uhr ohne Tanzen; ich komme bald zurück.«

Als Doktor Olfers wiederkam, schlief Lippo, und drinnen saß die junge Gesellschaft beim Dichterspiel. Jedes hatte sich den Namen eines Dichters erkoren, ein Holzteller wurde gedreht, dazu ein Citat in den Kreis hineingerufen, und Hohngelächter ereilte den armen Poeten, der sein eigenes Werk nicht kannte, oder zu langsam war im Fangen des Tellers. Kracht und Lerche hatten zwar die Geschichte für schmählich anstrengend erklärt, da Ferry aber ausrief: »Wir sind doch die Intelligenz, die hohe humanistische Bildung, wer soll denn solche Spiele spielen, wenn wir zu träge dazu sind!« so gaben sich die Bequemen und alle nahmen teil, auch »die alten Jungfern« Hilde, Klara und Iduna.

Nur Lili fehlte. Ganz leise ängstigte sie die Mutter so lange mit Klagen über Kopfweh und Augenschmerzen, bis diese einwilligte, mit ihr nach Hause zu gehen. Während das Dichterspiel in lebhaftem Gange war, schlüpfte sie, zärtlich von Mutter und Tante vor Zug, Licht und Geräusch geschützt, aber desto heftiger geplagt von Zorn- und Reuegedanken, in ihr Zimmerchen.

 


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