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Vierzehntes Kapitel. Ritter Hans in Leid und Freud.

Emmy hatte ihre Bußpredigt ungehindert und nachdrücklich gehalten; Lili blieb in dankbar beschämtem Zustand zurück, der sich aber bald in das behagliche Gefühl verwandelte: nun bin ich die dumme Geschichte los. Wenn sie es Anna nicht erzählen, ist alles gut, ich hätte mich nicht halb so zu ängstigen brauchen.

Emmy fühlte sich auch erleichtert, da dieser Besuch überstanden war, und eilte beschwingten Fußes nach Hause, um Papas Zimmer zu schmücken und ein Lieblingsabendessen auszudenken.

Da fand sie einen Brief des Vaters ihrer wartend.

»Ein Brief – jetzt noch? – O, er kommt nicht,« sagte sie bedauernd, dann kam ihr plötzlich der atembeklemmende Gedanke: es ist ein Unglück geschehen, und in demselben Augenblick fiel ihr Rat Hennings ein.

»Na, was ist denn los?« rief Hans, die Türklinke in der Hand behaltend, »du siehst ja ganz käsig aus?«

Emmy antwortete nicht, hastig öffnete sie den Brief, las und hatte plötzlich die Augen voll Tränen.

»Donnerwetter, Mi, was ist los?« rief Hans. »Denkst du, 's ist angenehm, auf die Folter geschraubt zu werden?«

Er streckte die Hand nach dem Brief aus, sie gab ihn in aller Verwirrung, setzte sich, drückte die Hände gegen die Augen und sagte schluchzend: »Und sie freut sich, sie freut sich so!«

Hans überflog hastig die Einleitungsworte des Vaters, den Bericht, daß es ihm wohlgehe und die Angabe des Zugs, mit dem er zu erwarten sei. Dann las er langsamer: »Abholen soll mich keins von Euch, auch tätest Du gut, Hennings zu sagen, daß nicht mehr als eins zum Willkomm an den Bahnhof komme und zu Hause Lärm und Aufregung vermieden werde. Ich habe Freund Hennings noch erschöpfter gefunden, als ich seinen Briefen nach erwarten mußte; Empfangslärm könnte nach der anstrengenden Reise nur schaden.« Dann folgte noch ein Rat für ein zweckmäßiges Abendessen des Kranken, den Emmy unauffällig bei Mike anbringen sollte.

»Nette Kommission,« brummte Hans und rannte davon, denn er hatte nicht Lust, sich gleichfalls »mit Tränen zu blamieren, wie das buttrige Frauenzimmer«.

Sobald Emmy allein war, faßte sie sich wieder und überlegte, wie sie am besten und ohne zu sehr zu betrüben, des Vaters Verlangen erfüllen könne. Ach, welch schwere Aufgabe das war.

Klopfenden Herzens ging sie am Nachmittag zu Hennings. Mike saß strahlend in der Küche, band eine Guirlande und übte dem helfenden Rachekorps einen Willkommgesang ein:

»Heil sei dem Tag, an welchem du erschienen –
Dideldum, dideldum, dideldum.
Es ist schon lange her.
Das freut uns um so mehr.«

Es war ein Höllenlärm; Fredi paukte den Takt auf der Gießkanne, Lise stieß bei betonten Noten abwechselnd ihre Schuhabsätze gegen ein umgestürztes Waschfaß, und nur Line war »ganz Musik«, das heißt, sie schrie mit verdrehten Augen die höchsten Töne hinaus, die sie mit ihrer kleinen Kehle zu stande brachte.

Bei Emmys Erscheinen verstummte der Probegesang; ein bewillkommnendes Indianergeheul ertönte, und als das verhallt war, lud Mike die Freundin lebhaft ein, mitzusingen: »Denn du kommst doch auch zum Willkomm?« sagte sie.

»O, Mike,« rief Emmy halb lachend, halb weinend, »du willst doch nicht ernstlich deinen guten Papa mit solchem Lärm empfangen?«

»Natürlich, Mi; o, ich kenne ihn, es macht ihm Spaß, wenn die kleinen Krabben toben, und über Unsinn kann er lachen, wie gar niemand sonst.«

»Ja doch, Mike, aber nicht, wenn er von der Reise kommt; von einer langen Reise, weißt du, und angegriffen ist – man ist stets angegriffen, wenn man eine Kur gebraucht hat. Morgen vielleicht – Mittag, wenn er ordentlich ausgeschlafen hat, oder –«

Weiter kam Emmy nicht, Mike war aufgestanden, angstvoll richtete sie den Blick auf der Freundin Antlitz, die Guirlande fiel zu Boden.

»O, Emmy, das wäre dann noch gerade so, wie damals, als er fortging – er kommt doch gesund zurück!«

Emmy fühlte wieder ein verdächtiges Klemmen in der Kehle, hielt sich aber tapfer und sagte hastig: »Aber, Mike, sei doch vernünftig – wenn jemand so krank gewesen ist, eine solch lange Reise gemacht hat –«

Mike nickte, wehmütig glitten ihre grauen Augen über die freuderoten Kindergesichter, und auf Fredis stürmisches: »Weitersingen, Tante Mi singt mit!« sagte sie freundlich: »Ja, nachher proben wir weiter – singt jetzt mal allein – Papa hört's erst morgen, das wird dann viel feierlicher – vor Tisch, wißt ihr, wenn wir die silbernen Löffel haben –«

»Ja, ja, ja! zum Taktschlagen, ja, ja, ja!«

»Aber die Guirlande muß jetzt fertig werden – macht nur immer einstweilen Sträußchen – die – die machen ja keinen Lärm.« Dann faßte sie Emmys Arm, zog die Freundin hinaus und fragte heftig: »Du weißt etwas, Mi, er ist sehr krank, Mi – sag's nur – o sag's! – es ist am besten, wenn man alles, alles weiß!«

Mikes Augen funkelten wie lauter Tränen, aber heraus kamen sie nicht, und Emmy blieb fest wie Stein, als sie antwortete – das sei törichte Einbildung, Papa habe nur beim Abreisen gesagt: wenn ich Rat Hennings mitbringe, kommt nicht etwa alle an den Bahnhof gestürmt. Es wäre am allerbesten, es empfinge ihn nur die Mama, nach solcher Fahrt hat's ein Rekonvaleszent stets recht herzlich satt.

»So,« schloß Emmy, als Mike aufatmete, »und daran hatt' ich am Morgen gar nicht gedacht, deshalb kam ich nochmal, denn du wirst doch zugeben, daß dein Rachekorps die Neigung hat, ankommende Papas über den Haufen zu rennen.«

Viel leichter waren die Abendbrotratschläge anzubringen, da Mike ihr mit einer Frage entgegenkam. Frau Rat wurde die Empfangsbeschränkung von zwei anscheinend völlig unbesorgten Mädchengesichtern mitgeteilt, so daß ihr kein bedrückender Argwohn ausstieg.

Als die Zeit herankam, wo der Zug erwartet werden konnte, nahm Emmy doch Hut und Handschuhe und ging langsam hinüber nach der Gartenstraße. Da wo diese Straße in die Anlagen mündete, gab es eine Bank, von der aus man unbemerkt die Umgebung der Henningsschen Wohnung beobachten konnte. Dorthin ging Emmy, setzte sich und behielt unverwandt den Weg vom Bahnhof im Auge.

Sie saß noch nicht fünf Minuten, da klang ihr der Pfiff des einfahrenden Zuges ins Ohr, gleichzeitig kam ein schneller Schritt auf ihr Versteck zu. Sie sprang hastig auf und stand dem ebenso überraschten Hans gegenüber.

»Na nu? Spionierst? – Dummheit!«

»Und du?« antwortete Emmy erregt. »Was willst du hier? Naturschwärmen doch nicht?«

»Nee! Sehen, ob das wirklich meiner Schwester Fabelkleid ist, was durchs Gebüsch schimmert.« Damit eilte er fort, aber nur, um sich einen andern Beobachtungsposten zu suchen; zu wissen brauchte die Schwester nicht, daß er seit Mittag keinen andern Gedanken gehabt hatte als den kranken Rat, das verbot sein Männerstolz.

So standen sie an verschiedenen Plätzen in Freundschaftssorgen und sahen den Wagen um die Ecke des Frankenwegs biegen. Herr und Frau Hennings im Fond, ihnen gegenüber der Vater.

Unwillkürlich atmeten beide Lauscher auf; frischere Farben hatte der Rat freilich nicht bekommen, aber das gelbliche Blaß waren sie nun schon lange gewöhnt und mit dem Aussteigen ging es ja ganz gut.

Papa sprang voraus, öffnete die Tür und bot ihm dann die Hand; es machte aber nicht den Eindruck, als sei diese Hilfeleistung unbedingt nötig. Das Gepäck schaffte der Kutscher in die Hausflur, in der sich helfende Gestalten zeigten; oben winkte ein Taschentuch, unten schüttelte man sich die Hände, und dann ging's, nicht gerade flott, aber ganz leidlich, die Treppe hinauf.

Emmy stand noch, mit schneller klopfendem Herzen, als ihr Vater schon wieder im Wagen saß; das rüttelte sie auf, und hinter dem Wagen drein liefen im Wettschritt Hans und Emmy, jener, dank seiner langen Beine, als Sieger.

Zunächst gab es eine allgemeine inhaltlose Begrüßung, kaum aber hatte Doktor Olfers die Bewillkommnenden abgeschüttelt, um die Eingänge und Bestellungen durchzusehen, die sich auf seinem Schreibtisch gehäuft hatten, so kam auch schon Hans in das kindersichere Geschäftszimmer.

»Vater,« begann er, »sag mir die Wahrheit; das mit Rat Hennings läßt mir keine Ruhe, wird er sterben?«

»Lieber Junge, das kann dir kein Arzt vorher sagen; solange der Atem geht, solange können wir hoffen. Aber augenblicklich ist er sehr herunter; er hätte längst zurückkommen sollen, hat sich aber nicht entschließen können, auch wohl gewünscht, nicht gar so jämmerlich anzukommen, und dabei gar noch, um Geld zu sparen, schlecht und unzweckmäßig gelebt. Ich hab' ihn, da meine Briefe nicht durchdrangen, geholt, und jetzt wollen wir sehen, was Pflege, Behaglichkeit und meine Aufsicht zu leisten vermögen. Jedenfalls braucht ihr nicht die Köpfe zu hängen, vor allem äußere gegen Emmy keine Besorgnis, denn sie soll Hennings das Trübe nicht schwerer, sondern leichter machen.«

»Danke schön, Papa,« sagte Hans und wollte hinausgehen. Der Vater wandte sich aber noch nicht nach dem Schreibtisch zurück, sondern fragte: »Nun? und ihr? Wie lief die Aepfelsendung ab?«

Ein schelmisches Lächeln zuckte um Hansens Mund; er erzählte gern von dem »Racheakt«. Als er Bericht erstattete über das Fensterlauschen, gab's ein Kopfschütteln. »Hoffentlich hörtet ihr als Lauscher eure eigne Schande.«

»Beinahe. Und nun hab' ich noch eine Bitte, Papa; ganz schnell – sieh nicht so angstvoll nach deinem Papierberg dort.«

Hans berichtete in gedrängten Worten das Mißgeschick der drei Auswärtigen und schilderte ergreifend Otto Mohr als geduldeten Teilhaber eines schmalen Strohsacks. »Könnten wir ihn nicht unterbringen, Papa? Ich würde gerne auf meinem kleinen Kanapee schlafen.«

»Den Kopf oben und die Beine unten überhängend? Nein, mein lieber Junge; Emmy mag die Kammer auf der andern Seite deines Bücherschranks zum Gastzimmer einrichten, wir wollen uns nicht von dem deutschen Dichter beschämen lassen. Dein Mohr kann schon heute abend einziehen, es ist Emmy ganz gut, wenn sie etwas zu schaffen hat.«

»Dann hol' ich ihn gleich,« rief Hans eifrig. »Sie halten gerade Dachkammerfest bei Ferry, und eigentlich bin ich geladen – ich will nur schnell noch mit Emmy reden.«

Hinaus war er. – Der Vater rief ihm noch nach: »Zum Abendbrot begrüße ich deinen Gast« – dann stürmte Hans in das Wohnzimmer, zerstörte einen feinen Schlachtplan Franzens, riß Fräulein Mathildes Nähkorb um, raffte die umherkollernden Zwirnrollen aufs rücksichtsloseste zusammen und stand endlich atemlos vor Emmy.

»Papa läßt dir sagen, du sollst die Kammer neben meiner Stube für einen Gast herrichten, aber gleich; ich hole eben Mohrchen. Und fein! denn ich will Staat machen, und vergiß nichts in deinen hohen Gedanken, denn sonst blamierst du das Haus Olfers vorm ganzen Gymnasium.«

»Ich werde schon alles besorgen,« sagte Emmy ärgerlich, »wenn ich auch schwer begreife, wie du Papa heute gerade mit solchem Anliegen kommen konntest; und wegen des Blamierens brauchst du eher Sorge für deine Freunde zu tragen, die häßliche Reden über uns führen; wir hier blamieren uns schon nicht.«

»Du weißt gar nicht, wer das dumme Blech, das gar keinen Lärm wert ist, gesagt hat.«

»Eben weil ich nicht weiß, wer es gesagt hat, habe ich jeden im Verdacht, dich so gut wie deinen Freund Mohr, oder einen andern.«

»Blödsinn!« Damit krachte Hans die Türe zu. Draußen fiel ihm ein, daß Emmy aus ihrer Wehleidigkeit herausgerissen werden solle, er öffnete deshalb wieder ein schmales Spältchen und rief hinein: »Du! Papa hat gesagt, heute wäre noch kein Grund zum Heulen, Ohrenhängen und Verdrehtsein; ich habe ihn gefragt –«

Emmys Gesicht verklärte sich. »Lieber Hans, hat er das wirklich gesagt?«

»Ja, mit ein bißchen andern Worten.« Krach flog die Tür abermals ins Schloß, und Hans strebte mit seinen langen Beinen nach Ferrys Dachkammeridylle.

Die Dichterklause war zwar etwas schwül und eng, trotzdem hatte sich der Tugendbund vollzählig oben versammelt, und Hans wurde als letzter mit beifälligem Absatzgetrommel empfangen.

Mohrchen nahm Hansens Einladung errötend und dankbar an, die andern trommelten nochmals Beifall; dann ging's an das Wiedereinpacken der eben geöffneten Kisten, und pünktlich um acht brachte Hans seinen Gast ins Familienzimmer, wo ihn Franz mit der Frage: »Kannst du Soldaten spielen?« unter seine näheren Bekannten einreihte.

 


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