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Fünfzehntes Kapitel. Buchberger Tage.

Am folgenden Tage gehörte das malerische Reiseabenteuer der Vergangenheit an. Sie trafen mit dem Vater zusammen und wurden zur Großmama gebracht. Auf der letzten Station wartete ihrer ein leichter Wagen mit einem kräftigen Pferde bespannt.

»Alles wohl?« fragte Doktor Olfers.

»Alles wohl!« antwortete der alte Kutscher, dem Emmy die Hand gab und ihn dabei zugleich Miken als »unser Peter« vorstellte.

Schnell hatte Peter das Gepäck aufgeladen und dann flog der Wagen eine schöne, ebene Straße zwischen waldigen Hügeln und erntereichen Feldern entlang. Bald stieg der Weg bergan, Tannen und Buchen rückten zusammen, ein würziger Duft zog über die Häupter der Reisenden hin, nun fuhren sie steil aufwärts, mitten durch den Wald.

»Wie schön,« sagte Mike und faltete unwillkürlich die Hände, und Emmy strich ihr zärtlich über die schmalen Finger und flüsterte: »Ja, es ist schön in Buchberg und hier sollst du nun wieder ganz gesund werden, liebe, arme Mike.«

Mike lachte ein ganz klein wenig vor Verlegenheit, und gerade in dem Augenblick rief Peter: »Achtung!« und deutete mit dem Peitschenstiel seitwärts.

»Da ist der Guckaus.«

Er fuhr Schritt; Mike bekam zwischen den sorgfältig ausgeschnittenen Bäumen Großmamas Buchberg zu sehen.

Drauf ging es in scharfem Trabe wieder eine kleine Strecke die Höhe entlang, mit langsamem Abstieg aus dem Walde hinaus, zwischen gesegneten Feldern hin, bis das Gut vor ihnen lag. Mit lustigem Peitschenknallen fuhr Peter in den langgestreckten Hof ein.

Der Wagen machte einen großen Lärm auf dem Pflaster; aus der Gesindestube, aus Ställen und Scheunen fuhren neugierige Gesichter heraus, zogen sich aber gleich wieder zurück, als auf den Steinstufen, die zum Herrschaftshaus hinaufführten, eine große, lebhafte Dame erschien.

»Tante!« rief Emmy ihr entgegen, »liebe Tante Franz!« Und Doktor Olfers war mit einem Sprung aus dem Wagen und küßte die Schwester herzlich auf die Stirn.

Tante Franziska, bequemlichkeitshalber Franz genannt, im dunkelblauen Kattunkleid, eine lange Schürze umgebunden und die Schlüsseltasche am Gürtel, kam mit großen Schritten die Stufen herab; ihr etwas strenges Gesicht wurde freundlich, als sie Mike, die, trotzdem sie Schnepperchen hieß, nichts zu sagen wußte, mit kräftigem Händedruck willkommen hieß.

»Nun, da sehen wir ja endlich die Allerweltsmike auch einmal; sind schon ganz neugierig auf die Schwimmkünstlerin geworden!« sagte die Tante.

Papa stieg gleich zu Großmama hinauf in den Garten, der durch eine schmale Steintreppe neben dem Haus vom Hofe aus zu erreichen war. Die Freundinnen aber führte Tante Franz nach dem Gaststübchen, Peter brachte die Koffer, das Hausmädchen frisches Wasser, und mit einem: »Nun fühlt euch daheim!« wurden sie allein gelassen.

Das Daheimfühlen war nicht schwer. Schon das trauliche Gastzimmer mußte den Aufenthalt schön machen. Seine Fenster waren nach dem Garten gerichtet, nichts war hier zu hören von dem Treiben und Lärmen des Hofes; sah man zu dem einen hinaus, blickte man in die Zweige einer mächtigen, alten Linde; sah man durch das zweite Fenster, so tat sich das Land weit, weit hinaus vor dem Beschauer auf. Er sah über den Garten hinweg, auf die breite, gelbe Dorfstraße jenseits der Mauer, sah, wie sie hinter den letzten Häusern abbog, gleich einem hellen Band zwischen den Feldern hinlief und sich im Walde verlor.

Mike stand in den Anblick des schönen Landschaftsbildes versunken, bis Emmys Ruf sie weckte. Nun kämmten sie eilig ihr Haar glatt, wuschen sich den Staub von Gesicht und Händen und eilten in den Garten zu Großmama.

Von dieser Großmama war Mike binnen fünf Minuten bezaubert; das weiße Haar unter dem feinen Spitzenhäubchen, die milden, klaren Augen, das schwarzseidene Kleid mit dem vergessenen Schnitt schienen ihr der Inbegriff alles Ehrwürdigen zu sein.

Es tat ihr fast leid, als Doktor Olfers aufstand und die Mädchen mit sich nahm. Er wollte noch am selben Abend nach Jena zurück, gedachte die Station zu Fuß zu erreichen und forderte sie auf, ihm ein Stück das Geleit zu geben.

Diesmal verließen sie den Hof von der andern Seite. Hier senkte sich eine frischgrüne Wiese nach einem kleinen Bache hinab, der trotz des Hochsommers munter plätscherte. Jenseits dieses Baches wurde Klee geschnitten.

Plötzlich rief Emmy vergnügt: »Dort ist der Inspektor! Papa, er hat uns gesehen!«

Sie beschleunigten ihren Gang, durchschritten den Bach auf eingelegten Steinen (Mike nahm ihn in einem Augenblick, als sie sich unbeachtet glaubte, mit kühnem Sprung, was ihr ein Bravo der nächsten Denglerin eintrug), und Dokter Olfers begrüßte den Inspektor seiner Mutter, einen breitschulterigen Mann mit tiefgebräuntem Gesicht, durch einen herzlichen Händedruck.

»So erwische ich Sie doch noch, Herr Rohden, das freut mich,« sagte er.

»Die Hoffnung, daß wir Sie während Ihres Jenaer Aufenthaltes einmal an einem Sonntag hier haben werden, erleichterte mir die Entsagung etwas – heute konnt' ich hier außen durchaus nicht abkommen,« war die Antwort.

Herr Rohden bewirtschaftete Großmamas Gut schon seit zehn Jahren, während Tante Franz in Haus, Stall und Milchkeller regierte; Mike hatte von Herrn Rohden ebensoviel gehört, wie von allen andern Bewohnern von Buchberg. Er gehörte dazu.

Jetzt begleitete er Papa ein Stück Weges, die Mädchen gingen hinter den Männern drein und pflückten Blumen am Bachrand. Mike war über alles entzückt, Emmy freute sich am Enthusiasmus der Freundin und genoß durch ihn das Altgewohnte wie etwas Neues.

Unterdessen sagte Doktor Olfers: »Sie nehmen sich der Mädchen manchmal an, Herr Rohden, nicht wahr? Sollten Sie auf der Waldwiese zu tun haben, oder auf dem Orlamündischen Acker, oder auf dem Vorwerk, so nehmen Sie die beiden mit. Es steckt ihnen sehr viel Ferientatendrang in den Gliedern und Tante Franz kann sich schwer denken, daß ein Städter, der aufs Land kommt, nach Waldpartien Sehnsucht hat.«

»Das paßt ja vortrefflich,« antwortete Rohden. »Meine Schwester hat kürzlich ihre Ausbildung vollendet und ist dabei etwas nervös geworden. Ihre Frau Mutter, deren Güte immer das Beste findet und tut, hat mir erlaubt, die Hilde hierher einzuladen, sie kann sich in dieser köstlichen Luft stärken und ich habe die Freude ihrer Gegenwart. Für Ihre Mädchen aber, denk' ich, ist sie ein guter Wandergefährte. Wenn auch erst zwanzig, hat sie doch die Notwendigkeit, für sich selbst in der Welt zu stehen, reifer gemacht, und so können die drei, selbst wenn ich mal versage, auch weiter hinaus zusammen den Wald durchstreifen.«

Die Freundinnen hatten im öfteren Vorbeihuschen einiges von diesem Gespräch vernommen.

»Mi, seine Schwester kommt. Findest du das nett? Ich muß mir erst noch sehr überlegen, ob ich es nicht dumm finde. Eine dritte? Man weiß nie, wie das ausfällt.« Und Emmy nickte dazu.

Infolge dieses Bedenkens nahmen die Mädchen zwei Tage darauf das Anerbieten, Fräulein Hildegard Rohden mit Peter von der Station abzuholen, nicht an, sondern setzten sich zu Großmama in den Garten und lasen sich vor.

Sie blieben auch standhaft sitzen, als sie den Wagen in die Dorfstraße einbiegen hörten, plötzlich aber kam eine ganz unbezwingliche Wißbegierde über sie, hurtig liefen sie ins Haus und ehe der Wagen vor der steinernen Treppe hielt, standen sie in Tante Franzens Beobachtungsfenster, zwischen den Vorhängen hinauslugend.

Ein großer Koffer war hinten auf den Wagen gebunden, auf dem Rücksitz lag allerlei wunderliches Gerät, der jungen Dame selbst konnten sie nicht ins Gesicht sehen. Sie trug einen losen blauen Schleier zum Schutz gegen das Blenden über dem Hut und ein grauer Staubmantel verdeckte ihre Figur.

Trotzdem schien sie den beiden Lauscherinnen merkwürdig bekannt, und als jetzt der Inspektor sie aus dem Wagen hob und herzhaft küßte, stieß Mike plötzlich einen Schrei aus und Emmy wurde dunkelrot. Sie hörten kaum, wie Tante Franz auf der Treppe sagte: »Willkommen, liebes Fräulein, und wohl bekomme Ihnen die Thüringer Luft.«

Dann führten Tante und Inspektor den Gast zu Großmama.

»Sie ist's!« rief Emmy.

»Ja, sie ist's wirklich!« jubelte Mike, und plötzlich faßten sie einander an den Händen, drehten sich im Kreise herum und riefen Hurra! wie ein paar wilde Jungen, die einen indianischen Kriegstanz aufführen wollen.

»Wo stecken denn die Mädchen?« fragte in dem Augenblick Inspektor Rohden und schaute zur Türe herein.

Da waren sie und drehten sich noch immer.

Er lachte hell auf; Mike wurde dunkelrot. Nein, solch kleines Kind war sie doch nicht mehr und der Inspektor brauchte auch nicht gerade in diesem Augenblick hereinzusehen.

Emmy aber faßte auch ihn bei der Hand und erzählte ihm in atemlosem Jubel, was sie schon mit Hilde erlebt, und daß sie die fremde Malerin angebetet hätten vom ersten Augenblick an – nur von den Rosen verriet sie nichts.

Sein Lachen war zum Lächeln geworden, er dachte daran, wie einsam die arme Hilde allzeit bei fremden Menschen gewesen war und wie gut ihr solch liebenswürdige Schwärmerei tun werde.

Er strich herzlich über Emmys blonden Scheitel und wollte auch Mike die Hand drücken, die aber stand mit brennenden Wangen am Fenster, kehrte beiden den Rücken zu und schien nur auf Peter zu achten, der die Staffelei und den kleinen Stuhl vom Wagen holte.

Emmy, die seinem Blick gefolgt war, sagte: »Sie geniert sich; wir genieren uns natürlich alle beide; wundervoll ist es aber doch.«

Nun lachte er wieder herzlich, nahm Emmy bei der Hand und sagte: »Kommen Sie, meine jungen Damen, ich werde mir erlauben, die Vorstellung zu vermitteln.«

Er ging mit Emmy in den Garten und Mike folgte zögernd nach. Sie hatte keine Lust mitzugehen, gar keine, denn natürlich war es nur Spott vom Inspektor gewesen, als er so feierlich sprach; aber sie mochte doch keine Minute versäumen.

Uebrigens ging alles trefflich von statten, Herr Rohden benahm sich draußen ganz ernsthaft und schicklich; die blasse, liebliche Hilde, die neben Großmama saß, sah überrascht auf und gab beiden die Hand mit einem freundlichen Blick, der zu sagen schien: »Ich kenne euch wohl.«

Trotz dieser glücklichen Einleitung wurden die Mädchen anfangs ihre Schüchternheit nicht los, kaum aber waren drei Tage ins Land gegangen, so äußerte sich ihre Begeisterung für die bildenden Künste aufs lebhafteste, und sowie Hilde Rohden ihren Feldstuhl ergriff, faßten sie nach Malkasten, Staffelei und Frühstückskorb, wanderten mit hinaus und durften zusehen.

Und wie schön war es im Wald zu sitzen, wehende Zweige zu Häupten, einen lieblichen Ausblick vor Augen, ein Gedichtbuch oder eine Häkelei in der Hand, zu beobachten, wie bald eine sonnige Waldskizze, bald ein wild zerrissenes Felsental unter den feinen, fleißigen Künstlerhänden entstand.

»Ich möchte es auch probieren,« flüsterte Emmy Mike zu, da diese aber herzlich lachte, so legte sie ihr schnell die Hand auf den Mund und sah nun um so eifriger zu.

Freilich wurden Hildes blasse Wangen auf diese Art nicht rosiger und Tante Franz schalt darüber, daß die Thüringer Luft um ihren guten Ruf kommen werde. Da nun auch Inspektor Rohden eine gestrenge Miene zeigte, so wurden während der zweiten Woche nur noch Spaziergänge ohne Staffelei unternommen, man schlenderte den Waldbach entlang, erzählte sich Geschichten und traf zur Frühstücksstunde irgendwo im Freien mit dem Inspektor zusammen.

Das Kränzchen bekam überschwengliche Briefe. Lili genoß im selben Uebermaß die Berichte, Anna schüttelte den Kopf und sagte ein über das andere Mal: »Wie soll Amsel dagegen aufkommen?!«

Den beiden Reisenden aber blieben zwei Dinge zu wünschen übrig – gut zu wissen, doch schwer zu erfragen. Erstens war ihnen noch immer unsicher, ob Hilde damals die Rosen erhalten hatte, denn obwohl ihr »Ideal« jene beiden Begegnungen im Park und am Kirchplatz öfter erwähnte, der Rosen gedachte sie nie; und zweitens sehnten sie sich außerordentlich danach, eine bestimmte Versicherung ihrer Gegenliebe zu erhalten, denn gut, »himmlisch gut« war sie gegen jedermann, von Großmama bis zur Gänsegretel hinab, aber die unersättlichen jungen Herzen wünschten sich einen ganz besonders hohen Grad von Zuneigung.

Inzwischen verging die Zeit wie im Feenmärchen; Hildes Wangen röteten sich, Mike war wieder fest, braun und kräftig geworden, wie vor dem Wassersprung, und eines Tages fuhr Doktor Olfers in Buchberg ein – um vom Abreisen zu reden.

Fort von Buchberg! Fort von Hilde! Mike schalt sich entsetzlich undankbar, aber sie hatte noch lange nicht genug, und Emmy schalt sich gar nicht, sondern seufzte tief und herzbrechend: »wer weiß, wann ich nun Hilden wieder sehe, wer weiß, ob ich jemals wieder Oelfarbe rieche!«

 


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