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Achtes Kapitel. Annas schwere Erfahrungen.

Am nächsten Tage eilte Anna in tauiger Morgenfrühe zu Hilden, um ihr den Brief vorzulesen. Nach flüchtigem Klopfen drang sie in das berühmte Atelier ein, das die Mitglieder des Montagskränzchens stets mit Hochgefühlen betraten, weil sie selbst es für Hilde Rhoden ausgesucht hatten; sogar die mancherlei Reize, die das Zimmer durch der jungen Malerin guten Geschmack immer aufs neue hinzu gewann, war man geneigt, dem Kranze zuzuschreiben. Mike hatte kürzlich eine frühere Lehrerin, die sie bei Hilden traf, allen Ernstes gefragt: »Wie finden Sie unser Zimmer?«

Augenblicklich betrachtete Anna Krause »unser Zimmer« mit sichtlichem Mißvergnügen, denn so zeitig sie auch gekommen war, da saß schon ein andrer Gast in dem runden Kattunsessel, der unbequemste, den sie sich hätte denken können. Und Iduna Schmieding, die auf dem Morgenspaziergang hier eingekehrt war, blickte ganz ebenso mißvergnügt auf die eindringende junge Dame.

Hildes »Guten Morgen« war der einzige deutlich hörbare Gruß, die beiden andern versanken in Gemurmel. Hilde schien dies nicht zu merken, sie nahm ihre Leinwand von der Staffelei, lehnte sie verkehrt gegen die Wand, zog zwei Rohrstühle an den kattungepolsterten heran und begann zu plaudern.

Aber es kam kein behaglicher Gedankenaustausch zu stande, denn jede hatte etwas Heimliches auf dem Herzen und spannte auf die Gelegenheit, das loszuwerden. Anna litt sogar an zwei Dingen: außer ihren Versen bedrückte sie schwer das an die Wand gelehnte Bild.

Hilde hatte ein Geheimnis! ein Bildergeheimnis zwar, aber das war einerlei, denn die Fremde, Nichtgeliebte, hatte dies Bild sehen dürfen.

Es gab eine ganze Menge Möglichkeiten, mit denen sich Anna hätte Hildes Betragen erklären können, aber sie versuchte das gar nicht, sondern nährte sich von Groll.

»Ueberflüssig fühl' ich mich, gehen sollt' ich, im Wege bin ich ihnen,« schalt sie innerlich; »wenn ich anständig wäre, sähe ich die Tür längst schon wieder von draußen an – aber ich bin nicht anständig – ich bin nichts weiter als zornig.«

Trotzdem faßte sie endlich doch den Entschluß, sich als anständiger Mensch zu entfernen, aber da stand Iduna schon auf; sie hatte am ersten genug gehabt von dem unbehaglichen Belauern.

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So zeitig Anna auch gekommen war, da saß schon ein andrer Gast in dem Kattunsessel.

Langsam, wie es ihre Art war, erhob sie sich, nahm den Hut vom Spiegelpfeiler, einen weichen, großen Schutzhut, hinter dem wenig von dem schmalen blonden Gesicht zu sehen war und reichte Hilde die Hand.

»Sie müssen um Zehn in die Schule, es wird Zeit, daß ich gehe; vergessen Sie nur das Frühstück nicht wieder.«

Sie sprach leise, aber so fürsorglich und beratend, wie eine Mutter mit ihrem Kinde, obwohl sie jünger sein mußte als Hilde. Anna bekam nur ein herablassendes Kopfnicken zum Abschied, trotzdem war sie reuevoll, und sowie die Tür hinter Iduna ins Schloß klinkte, rief sie: »Ich bin ein gräßliches Mädchen! Jetzt war ich euch so unbequem, und merkte es, und bin doch nicht gegangen! Es ist zum Totschämen.«

Hilde tröstete freundlich: »Nicht doch, Anna; ich muß wirklich um Zehn in die Schule, und du streichst mir jetzt ein paar Semmeln, während ich mich anziehe, damit das mit dem Frühstück seine Richtigkeit hat.«

»Und beim Essen lese ich dir unsern Brief vor, deshalb kam ich ja her.«

Hilde war einverstanden und eilte in das Schlafzimmer nebenan, um die Malschürze abzulegen und sich für den Schulgang vorzubereiten.

Mitten im Butterstreichen hielt Anna plötzlich inne, ihr Blick hatte das an die Wand gelehnte Bild gestreift, und sie rief hinüber: »Du, Hilde, ich finde es rücksichtslos, daß sich die Schmieding jetzt malen läßt, wo du so viel zu tun hast.«

Erschrocken trat Hilde in die Tür, den dicken, braunen Zopf halbgeflochten in der Hand: »O, Anna! – Du hast?« – – Ihre Blicke suchten das Bild.

Aber Anna saß eifrig bei der Semmelarbeit und das Bild lehnte unberührt an der Wand.

»Wie kommst du darauf?« stotterte Hilde. Dann fuhr sie schnell fort, ohne Annas Antwort abzuwarten: »Du hast erraten, was niemand wissen sollte, ich sehe es, und da ist das einzige, daß ich dich ins Geheimnis ziehe. Aber, liebe Anna, du mußt mir fest versprechen, nichts von diesem Bilde zu wissen; weder durch Andeutungen, noch durch Blicke, weder gegen Fremde, noch gegen Iduna selbst dich zu verraten. Willst du das tun?«

»Ungemütlich – aber möglich; ja, ich will,« antwortete Anna ernsthaft.

»Ich danke dir.«

»Ist's für die wohltätige Mama?«

»Nein, es ist für mich und mir zuliebe. Iduna ist das Gemaltwerden widerwärtig, aber sie gab mir die Idee zu einem Bilde, und da hat sie sich erbitten lassen, mir zu sitzen. Das dort an der Wand wird eine Porträtskizze und natürlich nur für mich.«

»Sie hat dir die Idee zu einem Bilde gegeben, Hilde?« rief Anna und hielt in ihrer nützlichen Beschäftigung abermals inne. »Die steife Iduna mit dem frostigen Gesicht? Verzeih, das hätte ich mir aber nicht träumen lassen, da siehst du wohl das Beste in sie hinein.«

Hilde lächelte und holte einen bespannten Keilrahmen aus dem Schlafzimmer. »Sieh, das möcht' ich malen! Diese Skizze hab' ich vorigen Sommer in Buchberg gemacht, aber die Hauptgestalt wurde mir nie so recht deutlich, also ließ ich's bisher auf sich beruhen. Erkennst du, was es bedeuten soll?«

»Ich – ich glaube – es ist ein betrübtes Mädchen – altdeutsch – sie sehnt sich – Gudrun oder Ingeborg?«

»Richtig, eine Ingeborg soll's werden, die an den fernen Frithjof denkt. Und so soll sie am Ufer sitzen!«

Hilde hielt inne, trat an das vorhin gegen die Wand gelehnte Bild und wandte es um.

Anna wurde dunkelrot, als sich so ihr heißer Wunsch erfüllte. Das Bild war ebenfalls nur skizziert, aber schon hob sich deutlich Iduna Schmieding aus der umgebenden Landschaft heraus: sandiger Boden, spärliches Buschwerk mit dem ersten keimenden Frühlingsgrün, am zartblauen Himmel leichte verflatternde Wolken und heimkehrende Zugvögel; inmitten des Bildes saß Iduna, nein, Ingeborg! Denn so lieblich war doch diese Iduna nicht mit ihrem verschlossenen, kalten, langweiligen Gesicht. Diese Ingeborg saß allerdings gerade so auf dem nackten Stein, wie vorhin Iduna im Fenster gesessen hatte, die Hände lässig im Schoß verschlungen, den Blick sehnsüchtig fragend nach dem Wandervogel gerichtet, der sich nahe zu ihren Füßen niedergelassen hatte.

Anna wurde es selbst ganz sehnsüchtig zu Mute im Beschauen – sie hätte auch so am Strande sitzen mögen, auch so durch die verflatternden Frühlingswinde ziehen mögen, wie die Wandervögel. Sie seufzte tief auf und entriß sich der wehmütigen Stimmung: »Nein, Hilde, so ist die Iduna doch lange nicht!«

»Schau sie noch einmal an, ich will mein Haar einstweilen aufstecken.«

Anna sah sie genau an. Die Züge waren es freilich – Hilde traf ja immer. Das Haar, die Gestalt, die Art der Kopfhaltung, das anmutig Lässige der Bewegung, alles stimmte, nur der Ausdruck des Gesichts war Anna fremd, und als Hilde schulfertig zurückkam, sagte sie: »Natürlich ist's ähnlich, aber du hast das Steinbild mit Seele beschenkt, und darum ist's eben nicht Iduna, sondern Ingeborg.«

Hilde hatte keine Zeit zum Streiten, sie machte sich an ihr Frühstück und genoß mit »Kränzchenversen belegte Butterbrote«.

Anna konnte sich nicht über Mangel an Teilnahme beklagen, wurde aber über allen Fragen und Erklärungen nicht mit ihrem Vortrag fertig, es schlug Zehn, als sie noch an Hans Olfers Ritterschaft lasen.

»Laß mir den Brief da, ich heb' ihn gut auf und freu' mich heute abend an eurem Uebermut.«

Natürlich wurde das gewährt, Hilde schloß ihn ins Pult, und Anna begleitete sie guter Laune nach dem Schulhause. –

»Mama, hast du schon was davon gemerkt, daß an Iduna Schmiedings Aussehen etwas besonders Angenehmes ist?« fragte Anna beim Mittagbrot.

Mama lächelte. »Das heißt so viel als: du findest nichts an ihr – wie kommst du denn aber zu der Frage?«

»Ach, Hilde sagt's; ich glaube, sie hält diese Iduna für eine Schönheit.«

»Nun, wenn es Fräulein Rhoden sagt, kannst du's ja glauben,« sprach Onkel Fritz trocken. »Malerinnen müssen das doch verstehen.«

»Wie meinst du das nun wieder, Onkel? Wenn du Hilde etwas tun willst, Onkel – ich stehe für meine Freunde mit Gut und Blut.«

Anna hatte sich kerzengerade aufgerichtet und sah den unverständlichen Onkel streitbar an. Der aber ergriff den Fehdehandschuh nicht, sondern lachte Anna ganz offenbar aus, als er antwortete: »Das weiß ich, Aennchen, und das ist sehr nett von dir; in Bezug auf Hilde Rhoden bin ich sogar bis ins kleinste durchaus deiner Meinung. Leider geht nur neben deiner Freundestreue eine ebenso energische Abwehr gegen alles, was außerhalb des kleinen Kreises liegt, für den dein enges Herz empfindet.«

Anna war entsetzt. »Onkel Fritz! – Nein, darauf antworte ich überhaupt nicht – enges Herz! – kleiner Kreis! – und um dieser Schmieding willen! – Nun ist sie mir ganz greulich.«

Kurt gab sich die größte Mühe, nicht loszulachen, Anna »schnitt ein zu gediegenes Gesicht«; nur der seltsame Ausdruck, der um Onkel Fritzens Mund lag und Mamas betrübter Blick hielten ihn im Zaum. Papa hatte gerade einmal gar nicht hingehört und das war sehr angenehm, denn seine harmlose Bemerkung half den andern über die schwüle Pause hinweg; aber Anna empfand doch bitter, daß im Laufe dieses Mittagessens kein Neckwort des Onkels mehr laut wurde. Es ließ ihr den ganzen Nachmittag keine Ruhe, und endlich eilte sie zur Mutter mit der hastigen Frage: »Was ist das mit Onkel Fritz, Mutterchen? Warum vertragen wir uns gar nicht mehr so himmlisch gut wie anfangs?«

»Onkel Fritz hat sich nicht verändert.«

»O, Mama! Das sagst du so kurz,« rief Anna, der die Tränen ins Auge drangen, »und machst ein Gesicht dazu, daß man sich totweinen möchte. Denn das soll heißen: ich sei ganz allein schuld. Ich bin aber doch auch noch die alte Anna!«

Jetzt lächelte die Mutter. »Die alte Anna bist du schon noch, und eben deshalb könntest du dir einmal selber überlegen, wie es kommt, daß dir allerlei anders entgegentritt, seit wir Tanzstunde halten und du aus der vertrauten Welt der nächsten Bekannten in einen weiteren Kreis hinausgetreten bist. Die alte Anna findet's schon, und glaubt sich die selbergefundene Wahrheit fester als uns andern die besten Ermahnungen.«

Anna seufzte, küßte die Mutter auf beide Augen und lief hinaus. – Selber die Wahrheit finden? Und Ermahnungen sollten nötig sein? – Ermahnungen? Nein, Trost bedurfte sie, denn diese Tanzstunde war wirklich nicht so leicht zu bestehen für ein junges Menschenkind, das bis dahin immer und überall Nummer eins gewesen war, und sich nun nur mühsam weit hinten in der Reihe der Vollkommenheit erhalten konnte.

Gleich die nächste Tanzstunde bei Rohrs brachte der tapfern Anna neue Kämpfe. Sie begann mit einer Enttäuschung; wieder einmal hatte Anna gehofft, der »Dichter« Wiese werde endlich mit ihr tanzen, und wieder war er mit großem Geschick an ihr vorbeigeschlüpft.

Als sich die Kranzblümchen nach der Eingangspolonaise zusammenfanden, sagte sie gekränkt: »Wenn ich nur wüßte, warum mich dieser Ferry nicht ein einziges Mal auffordert. Der interessiert mich nun gerade, weil er auch Verse macht – aber er schlägt ordentlich Bogen um mich.«

Weder Mike noch Lili wußten, daß Ferry ein unüberwindliches Grauen vor der Tochter des Direktors hatte; sie konnten nur sagen: »Er ist recht dumm!«

Das taten sie denn auch aus tiefstem Herzen.

Als darauf zum Walzer gerufen wurde, kam der kleine Edu allen vorauf und holte sich Mike. »Das ist aber hübsch von Ihnen,« rief sie ehrlich, »daß Sie den Walzer mit mir tanzen, denn das ist eine schwere Arbeit.«

»I bewahre, ich kriege Sie ganz gut herum,« rief Herr Edu Birkhahn vergnügt. »Sie sind ja leicht wie eine Feder; das Kunststück mit Fräulein Krause ist viel größer: sie kann's nicht und ist dabei eine höchst gewichtige Persönlichkeit.«

Mike war ganz erstaunt darüber, daß sie nicht Nummer letzt sein sollte, und ließ sich so willenlos wie möglich von ihrem Tänzer herumwirbeln; er sagte sogar einmal: »Famos!« Dann, als sie atemholend stillstanden, blickte sie nach Anna aus.

»Ei, sehen Sie doch, sie kommt ganz fein mit Herrn Mohr herum.«

Edu lachte und sagte: »Ja, das kluge Mohrchen kann eben alles.«

Als die Schulfüchse nach dem schwierigen Walzer wieder an ihrem Platz, der portiereverhangenen Vorsaaltür, beisammenstanden, rieb Mohrchen sich vergnügt die Hände.

»Das hätt' ich also geleistet für heute; wirklich, die Krause tanzt wie ein Bär, aber dem Alten zuliebe muß man sie tüchtig herumschwenken.«

Ein gedämpftes, verständnisinniges Lachen folgte, dann sagte Hans Olfers: »Na, eine kann nicht alles können, dafür macht sie Verse und glänzt in höherer Gartenkunst.«

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»Wirklich, die Krause tanzt wie ein Bär,« meinte Mohrchen, sich die Hände reibend.

Wiese spitzte die Ohren und schob sich näher. »Wirklich?« fragte er.

»Aha! Wiese interessiert sich für Gärtnerei –«

»Unsinn! Ob sie wirklich Verse macht?«

»Gewiß, – feiner als du.«

»Nanu! Da müßten wir doch erst mal wettdichten,« sagte er mit lächelndem Selbstvertrauen, nahm sich aber dann den wissenden Hans beiseite. »Wenn sie nur einen andern Vater hätte! Du, sag mal, bist du ganz sicher, daß sie dem Alten nichts von dem erzählt, was man so redet?«

»Ganz sicher, sie ist ein sehr anständiges Mädel; die klatscht nicht.«

»Na also!« nahm der deutsche Dichter Ferry Wiese einen Anlauf, um gleich darauf mit einem zögernden: »das heißt – ich will mir's nochmal überlegen,« wieder abzuspringen.

Als Otto Mohr seine drastische Beschreibung von Anna Krause zum besten gab, stand Klementine von Rohr mit einem frischgefüllten Kuchenkörbchen hinter der Tür, im Begriff, die Portiere zu heben. Sie lächelte und wandte sich nach einem andern Eingang.

Als sie ihren Kuchen durch das Musikzimmer zu den Müttern gebracht hatte, rief Schwebefein eben zu neuen Taten. Unwillkürlich beobachtete sie jetzt Anna mit einer Neugier, die nicht ganz frei von Schadenfreude war.

»Sie tanzt wirklich wie ein Bär; Onkel Oberstleutnant würde sie ein Elefantenküken nennen,« sagte sie lächelnd zu Eugenie. Eugenie war mit ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache. »Wer denn?« fragte sie erstaunt, und Klementine erzählte, was sie vorhin von einem der Schulfüchse durch den Türvorhang hindurch gehört hatte.

»Die unartigen Bengels,« rief Eugenie lachend, und auch Gitta zwitscherte fröhlich los, die immer da war, wo es eine kleine Bosheit zu hören gab. So etwas machte ihr Spaß; sie schwirrte zu Lili und entführte sie ungeniert Mike, Edu Birkhahn und den Geschwistern Olfers, mit denen sie sich eben sehr gut unterhielt.

»Das ist einzig, Fräulein Lili! Was habe ich da eben gehört! Wir haben einen Tanzbären unter uns, ein Elefantenküken! Das heißt, eigentlich ist es bodenlos ungezogen, aber lachen, lachen muß man doch!«

Und dann erzählte sie ihr die ganze Geschichte.

»Wer? wer hat es gesagt?« fragte Lili atemlos. »Diese schändlichen Schuljungen sollten sich schämen.«

»Das wissen wir nicht, es ist nur gehört worden; übrigens, das mit dem Elefantenküken hat kein Schüler gesagt, so einen guten, neuen Witz kriegen die gar nicht fertig. Ach, seien Sie doch nicht so zornig, Sie himmelblaues Kind, das ist doch nur ein harmloser Spaß – dergleichen belacht man und vergißt es wieder.«

Sie konnte nicht weiter trösten; Gigerl Kracht holte sie zum Rheinländer, und auch Lili vergaß über dem Vergnügen der nächsten Stunde beinahe die Unbill, die ihrem Kränzchensekretär angetan worden war.

Um so lebhafter erwachte ihr Zorn wieder, als sie mit Anna zusammen durch die dunklen Promenadenwege nach Hause ging. Frau Professor Krause hatte die Tanzstunde früher verlassen, weil Papa heute seinen Schachabend gab. Sie wollte nachsehen, ob die Herren auch zur rechten Zeit durch das Abendbrot von ihren hölzernen Schlachtfeldern abgelenkt würden.

Roßbachs geleiteten deshalb Anna nach Hause, und dieser Verführung des Alleinseins im dichten Platanengang konnte Lili nicht widerstehen; eingeleitet und abgeschlossen durch Entrüstungsausrufe, erzählte sie Anna die schmähliche Geschichte.

Anna sagte kein Wort dazu; sie war nur froh, daß es dunkel war, so konnte doch Lili nichtsehen, wie heiß und sonderbar ihr zu Mute wurde. Niemand sollte wissen, wie tief dieser Bär sie kränkte.

»Wir werden dich rächen, Anna, wir, das ganze Montagskränzchen.«

»Tut mir den einzigen Gefallen,« brach Anna los, »und kümmert euch nicht um meine Angelegenheiten, das will ich schon selber besorgen. Wenn du etwa mit den andern darüber schnackst, und ihr im Kränzchen von dem Unsinn anfangt, so laufe ich einfach davon.«

»Aber, Anna,« stotterte Lili, »ich mein's doch so gut mit dir.«

Anna hatte sich ausgetobt, und da sie ihrer Stimme nun auch wieder sicher geworden war, sagte sie ganz freundlich: »Gewiß meinst du es gut, Lili, aber ich ärgere mich, wenn du solchen Jungenquatsch weiter erzählst. Es ist einfach nicht der Rede wert.«

Damit eilte sie der vorausgegangenen Tante nach, mit Schritten, denen die kleine Freundin kaum zu folgen vermochte.

Am Gartentor trennten sie sich, ohne daß die Freundinnen noch ein Wort allein wechseln konnten, und Anna lief nach der Laube, aus der sie Mamas Windlicht schimmern sah.

»Mutterchen,« rief sie schon von fern, »Mutterchen, ich bin ganz entrüstet! Denke dir, einer der Schulfüchse hat gesagt, ich tanze wie ein Bär; aber um Papas willen – den er auch noch den Alten nennt – müßten sie mich schon tüchtig schleifen, – ich gehe nie wieder in die Tanzstunde!«

Anna stand rot und atemlos im Schein des flackernden Windlichts; Frau Krause legte die Socke beiseite, an der sie eben gestrickt hatte und nahm die Hand der Tochter.

»Was,« sagte sie, »meine verständige Anna zeigt sich wieder einmal so unverständig?«

»Mama, damit hat der Verstand nichts zu tun, das Ehrgefühl verlangt mein Wegbleiben.«

Im Dunkel des fliederumbuschten Weges wurde jetzt ein roter Punkt bemerklich, der kein Riesenglühwurm, sondern eine Zigarre war, und Onkel Fritzens Stimme sprach: »Ich denke, man hat die Tanzstunde nicht um schnöder Eitelkeitserfolge willen, sondern zur Verbesserung seiner äußerlichen Unvollkommenheiten?«

Dies Citat einstiger Vernunft hörte Anna nicht allzugern, sie hatte auch hier nur die leidenschaftlich wiederholte Antwort: »Das hat mit Lernen und Verbessern gar nichts zu tun, es ist eine Ehrenkränkung für Papa und Mama, ebenso für mich, und ich bleibe zu Hause.«

Onkel Fritz pfiff die Kreuzpolka und setzte sein Auf- und Abwandern vor der Laube fort. Die Mutter aber sagte: »Wie denkst du dir das, Anna? Ohne Erklärung wegbleiben? Oder willst du Papa die Geschichte erzählen?«

Anna stutzte. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Stotternd sagte sie: »Nein, Mama, – Papa könnte sich ärgern, oder ein Klassendonnerwetter loslassen, weil die dummen Jungen sich einbilden, ich müsse um seinetwillen besonders beachtet werden. Das ist ja eben das Schändliche, daß sie dergleichen tun. Nein, Papa will ich's natürlich nicht sagen, nur dir. Aber lasse mich wegbleiben, süße Mami, ich mag nicht aus solchem Grunde zum Tanz aufgefordert werden – es ist zu gräßlich.«

»Du kannst nicht wegbleiben, ohne Papa den Grund deines überraschenden Entschlusses mitzuteilen, auch bei den andern müßtest du dich mit der Wahrheit entschuldigen.«

»Mama! bei den andern? – Damit sie's nur ja alle wissen und mich obendrein auslachen?«

»Sie werden es auch so schon wissen.«

»Auch so schon? Und mich Tanzbär und Elefantenküken nennen? Das wäre einfach unerträglich!«

»Den andern wird die Sache nicht von solch welterschütternder Wichtigkeit sein,« klang Onkel Fritzens Stimme kühl aus dem Dunkel.

»Onkel Fritz, du darfst es überhaupt nicht wissen,« rief Anna gereizt, »du hast es heimlich aus dem Gebüsch erlauscht.«

Onkel Fritz trat in das Bereich des Windlichts. »Deshalb sei ohne Sorge, Anna; ich versichere, daß es so gut ist, als wisse ich nichts davon, denn ich halte die ganze Sache für eine richtige Kinderei.« Damit ging er ins Haus, um den Rest seiner Klassenhefte durchzusehen, und Anna blieb zurück, zorniger noch auf diesen unerträglichen Onkel, als auf die Spötter in der Tanzstunde.

»Was also denkt meine Anna zu tun?« fragte die Mutter, nachdem das Töchterchen noch eine Weile schweigend ins Dunkel gestarrt hatte.

Anna seufzte. »Ich sehe schon, wenn ich nicht einen großen Skandal machen will, muß ich eben dabei bleiben. Aber Spaß macht es mir kein einziges kleines bißchen mehr.«

»Das kommt schon wieder. Nur Mut, solche Reden sind zumeist gar nicht schlimm gemeint; würden sie nicht wiedererzählt, verwehten sie spurlos, wie Schaum im Winde.« So tröstete die Mutter und strich Anna über die glühende Wange; dann ging auch sie ins Haus, um wieder einmal nachzusehen, ob die eifrigen Schachspieler oben gut versorgt wären.

Anna blieb allein im Garten; es duftete von allen Zweigen und Beeten, die Sterne leuchteten, wie sonst nur zu Herbstzeiten, eine Nachtigall schlug von Zeit zu Zeit vom Promenadengebüsch herüber und zog ihren schmelzenden Lockton lang durch die Stille – Anna merkte von alledem nichts. Ihre Wangen brannten, ihr Herz klopfte, die Hände schlossen sich gefährlich fest um den zerbrechlichen Fächer; sie hatte ihre Entrüstung noch nicht bezwungen.

»Wüßte ich wenigstens, welcher es gesagt hat! Wüßte ich das nur! Dann könnte ich ihm ordentlich Bescheid geben; ›Sie brauchen nicht mit Bären zu tanzen!‹ würde ich ihm sagen. – Nun kann's jeder gewesen sein, und jeder ist mir zuwider! – Das heißt, natürlich muß es einer gesagt haben, der schon mit mir getanzt hat, also Wiese nicht. Nein, dessen bin ich sicher, Dichter sind nicht so roh.«

Vom Haus her klangen die Stimmen der abschiednehmenden Schachspieler in den Garten; Anna lief nicht wie sonst nach der Tür, um mit dem Weltgeschichtsprofessor ein fröhliches Neckwort zu tauschen; ungerührt hörte sie, wie an Fräulein Aennchen ein Gutenachtgruß aufgetragen wurde, die Köchin mußte heute die Neumondlaterne im Laubgang vorauftragen.

»Meinen Vater, meinen vorzüglichen Vater, den besten Mann in der Stadt, nennen sie ›Alter‹«! So etwas wagen sie, und gewiß alle! Natürlich! Das wird sein Spitzname sein! Nicht einmal Vatti verschonen sie mit ihren greulichen Spitznamen.«

Tiu, tiu, lockte die Nachtigall.

»Geschimpft ist es nicht gerade, aber keck, furchtbar keck ist es, und mit so etwas tanzt man, und sie halten's noch für Großmut.«

»Anna,« klang des Vaters Stimme vom Hause her. Eilig lief sie hinauf, eilig wußte sie sich wieder mit der Entschuldigung des Müdeseins von ihm frei zu machen.

Der Gutenachtkuß aber fiel besonders stürmisch aus um der Kränkung willen, die ihm angetan worden war, und im Einschlafen noch dachte sie: »Wenn ich nur wüßte, wer es gesagt hat, wenn ich's nur wüßte! – Ich muß es herauskriegen.«

Dann schlief sie fest, trotz der schweren Erfahrung und dem Nachtigallensang vorm Fenster.

 


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