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Neunzehntes Kapitel. Mikes Einfall.

Am dreizehnten Dezember tagte der Kranz wieder einmal bei Anna und nachdem der Kaffee getrunken war, saßen die vier mit glühenden Wangen und zusammengepreßten Lippen leidenschaftlichen Eifers voll bei der Arbeit.

Diesmal taten alle dasselbe, das heißt sie hatten sich zu Hause ein Stückchen übriggebliebenes Inlet schenken lassen und bestickten seine weißen und roten Streifen mit verschiedenfarbigen Seidenfäden. Daraus entstanden dann hübsche, mit Band eingefaßte Arbeitstäschchen. Form und Größe war nach gemeinschaftlicher Beratung bestimmt, Farbenzusammenstellung und Stichart blieb dem Geschmack der einzelnen überlassen.

Drei fertige, an denen gemeinsam gearbeitet worden war, lagen auf dem Tisch, die sollten als Kränzchengruß an Grete, Rose und Else geschickt werden. Die jetzt in Arbeit befindlichen durften in Amsel bleiben und zwar stickte Mike für Anna, Anna für Emmy, Emmy für Lili und Lili für Mike.

Eine Ueberraschung war freilich nicht dabei, aber die Aufregung der Beratung, die Wahl und die Lust der gemeinsamen Ausführung übertrafen nach vierstimmig einstimmigem Urteil die Ueberraschungsfeierlichkeit.

Sie saßen, schwiegen und stickten.

Plötzlich hob Mike den Kopf, sah triumphierend im Kreise umher und rief: »Ich – bin – ferrrrrtig!«

»O! o! o!« klang es rings um den Tisch, und Anna fügte hinzu: »Ich hab's auch gleich, und nun bist du mir doch über.«

»Zeig erst mal,« ließ sich Lili vernehmen und legte das Köpfchen schief. »Du hast gewiß etwas vergessen.«

Alle lachten und machten sich an die Prüfung des fertigen Täschchens, das sehr niedlich rot und blau bestickt war, mit ebensolchem Zwirnband eingefaßt, mit Knopf und Oese versehen, tadellos dies Examen bestand.

»Fabelhaft! Mike hat nichts vergessen.«

»Ich glaube, sie hat nur so geeilt, um wieder reden zu können,« neckte Emmy, denn sie hatten sich Schweigen gelobt gehabt bis zur Vollendung.

Während die andern ihre Arbeit von neuem mit verstärktem Eifer aufnahmen, lehnte sich Mike wie eine Prinzessin in ihren Stuhl zurück, faltete die Hände und sah gedankenvoll durchs Fenster hinaus in die wirbelnden Flocken.

»Mike, du bist unheimlich,« sagte Lili, da das Schweigen nun doch einmal gebrochen war.

Mike fuhr zusammen. »Ich? Warum denn?«

»Du hast fünf Minuten still gesessen, ohne dich zu rühren, ohne ein Wort zu sprechen, da muß Schnepperchen krank sein.«

»Ihr werdet wahrscheinlich einen andern Namen für mich ausdenken müssen,« erwiderte Mike sehr würdevoll. »Ich fühle lebhaft, daß das viele Reden nicht mehr für meine Jahre paßt.«

»Schlüssel klappern auch, liebe Schlüsselblume,« neckte Emmy; Lili lachte, Anna aber warf ihr Täschchen in die Luft.

»Hurra! Fertig! Und nun ganz und gar fertig mit allen und sämtlichen Weihnachtsarbeiten.«

Stolz sah sie sich im Kreise um; Mike aber, ohne ihre Würde aufzugeben, legte die Hände wieder seufzend zusammen.

»Darüber freust du dich? Das ist es gerade, was mich melancholisch macht. Schon fertig, und heute ist der Dreizehnte. Die Baumgeschichten sind auch schon so weit wie noch nie; es wird mir gar nicht zu Mute sein wie Weihnachten, wenn nicht die Hetze bis zum letzten Augenblick andauert.«

Wieder lachten alle; Mike war zu einzig in ihrer Melancholie.

»Ich dachte eben, daß es schön wäre, einmal nicht von Mama den Tadel zu hören, daß man jedes Jahr zu spät anfange und nie rechtzeitig fertig werde,« sagte Anna.

Und Lili rief: »So fange doch noch etwas an, Mike; jemanden, der's nimmt, findest du allemal.«

Mike warf Lili einen Blick zu, der etwa sagen mochte: Du redest, wie du's verstehst, und von diesen Verhältnissen verstehst du wieder einmal gar nichts.

Zur Aufklärung des mangelhaften Verständnisses holte sie dann ihr Geldbeutelchen aus der Tasche, kippte es um und sah andächtig zu, wie vier Fünfer herausrollten und auf dem Kränzchentisch Purzelbäume schlugen.

»Schau her, Lili, und dann rede! Diese vier Fünfer sind mein ganzes Gut. Numero eins heutiges Kränzchengeld; Numero zwei für den Neunzehnten; Numero drei für den Sechsundzwanzigsten; bleibt einer Rest für unvorhergesehene Unglücksfälle. – Was sagst du nun?«

»Daß du eine Verschwenderin bist, Mike.«

Mike lachte und zeigte ihre weißen Zähne.

»Das sagt Kläre auch. Sie hat noch eine Mark fünfzig Pfennige. Aber bei mir ist alles fort, obwohl ich vorahnend im November, in dem ich sehr geizig gewesen bin, zwei Mark gespart hatte. O, wenn ich noch Geld hätte – dann wüßt' ich was!«

»Was denn? Was denn?«

»Dann würde ich einem kleinen Mädchen, das gar nichts kriegt, bescheren; ich würde ihm etwas zum Anziehen nähen, etwas zum Spielen machen, das Bäumchen putzen – «

»Wißt ihr was,« fiel Anna ein, »die Idee ist gut; ich habe auch nichts mehr zu tun, und wenn's zu Hause auch noch ein paar Scheuertage absetzt, im Kranz bleibt uns doch Zeit. Wir wollen zusammen einem kleinen Mädchen bescheren.«

»Für fünf Pfennige?« fragte Mike und ließ ihren überzähligen Fünfer auf dem Tische tanzen.

»Ich habe mehr übrig,« rief Lili, »wir schießen zusammen.«

»Bravo!« stimmten die andern bei. Emmy, die mittlerweile auch fertig geworden war, packte das Täschchen, das nun elf Tage lang vergessen werden sollte, sorgfältig ein und Lili ließ Arbeit Arbeit sein; sie stürzte ihr Beutelchen. In buntem Durcheinander rollten große und kleine Silberstücke, Kupfer- und Nickelmünzen über Tisch und Boden.

Während sie lachend und scheltend dem Gelde nachlief, erklärte Mike, das würde ihr natürlich keinen Spaß machen, wenn sich eine mit fünf Mark und eine andre mit fünf Pfennigen beteilige.

Anna tröstete dagegen, dafür sei die Idee von Mike, was mindestens fünf Mark wert sei. Emmy schlug vor, Mike drei Mark zu borgen, in zehn Jahren zahlbar, aber Mike gefielen nur ihre eigenen Einfälle.

Plötzlich hatte sie wieder einen, schrie laut auf vor Entzücken, warf den übriggebliebenen roten Garnknäuel in die Ecke und rief: »Ich hab's! Nicht wir bescheren dem kleinen Mädchen, sondern das Kränzchen! Wozu haben wir die Sammelbüchse? – Um uns ein Vergnügen zu machen! Kann es einen größeren Spaß geben, als solch kleinem armen Wurm, das nichts vom Bescheren erfährt, als richtiger Weihnachtsengel in die Bude zu schneien?«

»O Mike,« jammerte Lili, »nun drückst du etwas so Hübsches so roh aus.«

»Deshalb bleibt es ebenso hübsch. Wartet mal! Das Geld für die nächsten Montage zahlen wir voraus, dann sind es« (sie nahm die Finger zu Hilfe) »fünfunddreißig Wochen. Fünfunddreißigmal zwanzig Pfennige sind sieben Mark, dazu die Strafgelder, etwa drei – sind zehn – Hurra! es geht!«

»Ja – aber – die Fahrt nach Köln?« wandte Lili ein wenig zaghaft ein.

»Wißt ihr was – die sparen wir uns lieber von dem eigenen Taschengeld. Das wird mein Anlagekapital,« sagte Mike sehr ernsthaft und steckte den Fünfer für unvorhergesehene Unglücksfälle in den Beutel zurück.

Darüber lachten wieder alle. Emmy wollte Mike einen Kuß geben, wogegen die sich lebhaft wehrte, und Anna holte die Kasse herbei.

Dort fand sich die erwartete Unsumme, zehn Mark holte Anna heraus, der kleine Ueberschuß blieb als Stamm. Der Bescherbeschluß aber wurde zu Protokoll genommen, als für ewige Zeiten gültig; wenn sie später alte Jungfern wären und keine Freude mehr am Ulk fänden, könne aus diesem schüchternen Keim ein sehr schöner und achtbarer Beruf für das Montagskränzchen zum Besten armer Kinder herauswachsen.

Anna war sehr stolz auf »die erhabene Fassung«, die sie diesem Protokoll vom dreizehnten Dezember gab, las es zweimal vor und fügte dann hinzu:

»Zwar haben wir viel Mängel,
Jedoch als Weihnachtsengel
Ein Stündchen lang recht bieder uns zu zeigen,
Dazu wird schon der gute Wille reichen.«

Nachdem diese schöne Nachschrift gemacht war, wandten sich die vier Weihnachtsengel zur Beratung des wichtigsten Punktes: dem kleinen Mädchen, das sie zu beglücken dachten.

Es gab das wiederholtes Kopfschütteln und langes Nachdenken.

»Das Mädchen müßte natürlich sehr arm sein,« begann Emmy.

Pause.

»Sonst freut es sich nicht über unsre kleinen Gaben.«

Mike saß zerstreut da und kaute an ihrem hölzernen Nadelbüchschen.

Lili zappelte mit den Händen. »Ich weiß so viel, so viel – aber die sind alle, alle noch nicht arm genug.«

Anna hatte sich nicht gerührt, plötzlich rief sie: »Ich hab's!«

»Anna, du? Kennst du denn jemand? Wen denn? Schnell, schnell!«

»Besinnt ihr euch auf die Fischersfrau, bei der wir den Franzel getrocknet haben?«

»Aber natürlich.«

»Die meine ich, das heißt, deren kleines Mädchen.«

»Es war ja ein Junge.«

»Der sich an uns drängte voll himmelblauer Neugier, ja. Es saß aber ein Ding von etwa zwei Jahren im Hof, erst hatte es wohl im Bettchen gelegen.«

Lili besann sich auf das Mädchen.

»Sind die denn so arm?«

Anna nickte eifrig; da sie gerade einen Zwieback zerbiß, konnte sie keine andre Antwort geben. Inzwischen warf Emmy die Frage auf, wie man am heiligen Abend da hinauskommen wolle, und Mike war eben dabei, auseinanderzusetzen, daß es eine Kleinigkeit sei, die Sachen auf einem Handschlitten nach der Fischerhütte zu fahren, vielleicht auf dem Flusse mit Schlittschuhen, wie die Holländer, oder schlitternd die Landstraße entlang. Ehe sie jedoch die Schönheit eines solchen Weihnachtsspaziergangs gründlich ausgemalt hatte, war Anna mit dem Zwieback fertig und fiel ein: »Sie wohnen ja hier.«

»Ach!? –«

»Nicht mehr am Wehr? Fischen sie hier auch? Wo haben sie den Kahn? Woher weißt du das? Werden sie auch im Sommer nicht wieder hinausgehen?«

Als Anna endlich zum Antworten kam, erzählte sie, was sie von der Fischersfrau wußte.

Während Emmys und Mikes Reise hätte sie eines Morgens eine Frau getroffen, die ihr bekannt erschienen wäre, nur habe sie sich erst in das hagere, blasse Gesicht und das schwarze Kopftuch finden müssen, dann sei ihr plötzlich eingefallen, das müsse die Fischersfrau von draußen sein. Auf ihre Ansprache habe sie wie damals mürrisch Bescheid gegeben, aber doch endlich erzählt, daß ihr Mann ein paar Wochen nach Franzens Sturz gestorben sei. Davon sei sie in Schulden gekommen, habe die Pacht für das Häuschen nicht zahlen können, habe den Kahn unterm Wert verkaufen müssen und sei in die Stadt gezogen, um sich und die drei Kinder durchzubringen. Sie schleppte einen sehr schweren Korb voll Wäsche nach der Trockenwiese, der eine Junge trug ihr Leinen und Klammern, und der andre war zu Haus beim Schwesterchen, paßte auf und sollte das Essen kochen.

»Der kleine Junge?« rief Mike entsetzt.

»Ja, aber es war nicht so schwer, wie ich merkte; ich ging von der Frau fort, in die Wohnung. Sie ist hinten am Felsen in der Tischlergasse in einem feuchten Hof: ein ganz kahles Zimmer. Der Junge hatte nur alte Kartoffeln in einem Topf, und die Nachbarin erlaubte, daß er sie mittags bei ihr aufstellte, weil es der Fischersfrau an Feuerung fehlte. Dafür mußte sie der Nachbarin etwas waschen. Das kleine Mädchen aber saß auf der Erde, biß in eine Brotrinde und krähte vor Vergnügen. Als ich ging, sagte sie Tante Anna zu mir. Mama hat nachher der Frau Wäsche gegeben und gesagt, sie mache es ordentlich. Aber sie sind sehr arm, ich glaube, deshalb ist sie immer so verdrießlich.«

Nach diesem Bericht wurde einstimmig beschlossen, Kirsts Ida zu bescheren, eigentlich war sie ja eine alte Bekannte.

Schwieriger war die Beratung über das Was? Es ging daher eine Gesandtschaft an Annas Mutter ab, um deren Rat zu erbitten.

Die feine, kleine Mama der großen Anna kam gutwillig und setzte sich zu Rat und Hilfe an den Kränzchentisch. Einen kleinen Baum versprach sie für alle drei Kinder aus eigenen Mitteln zu stiften und außerdem noch einen warmen Rock. Dann ergab die eifrige Beratung noch ein wollenes Jäckchen, einen Muff (die Mike sofort zu stricken begann, nachdem sie Anna einen roten Wollknäuel aus dem Nähtisch stibitzt hatte) und Strümpfe.

Eine Puppe wurde für unumgänglich notwendig erklärt, und wenn sich Lili auch von Wachskopf und echten Locken abbringen ließ, so bestand sie doch darauf, aus ihrem Fleckchenpack Seidenreste nebst Spitzen auszuwählen und versicherte, in den Puppenstaat lasse sie sich von keiner kalten Vernunft dreinreden. Man beriet weiter. Daß für die beiden Jungen auch noch Pulswärmer abfallen mußten, und für die Mutter ein warmes Tuch, wurde immer deutlicher. Mike phantasierte auch von gestrickten Schuhen und beschloß, »Kläre so lange um den Bart zu gehen«, bis diese ihr einen Probeschuh zurecht mache, den zweiten würde sie dann mit Spaß selbst zusammenkriegen.

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Mike führte einen Jubeltanz auf über den Sieg ihres himmlischen Einfalls.

Mit gutem Rat und einem großen Merkzettel ausgerüstet, stürmten die Mädchen dann hinaus in das Schneetreiben, ebenso lustig, munter und übermütig wie die Flocken, machten mit anerkennenswerter Eile ihre Einkäufe und waren in Gefahr, ihre besten Freunde und die achtunggebietendsten Mitbürger auf der Straße zu übersehen.

Glücklicherweise behielt Emmy das Köpfchen auf dem rechten Fleck und rettete den Montagskranz vor dem Rufe schändlicher Unhöflichkeit.

Hochatmend und glühend brachten sie dann die gekauften Stoffe zu Krauses und legten sie der Mutter zur Prüfung vor.

Alles wurde gut befunden. Anna hatte gehandelt wie ein ausgelernter Wochenmarktkäufer und sehr »weise getan«; der Erfolg war günstig für Kirsts Ida, und Mike führte einen Jubeltanz auf über den Sieg ihres himmlischen Einfalls.

Nun hatte auch inzwischen die gute Mama Krause einen köstlichen Einfall gehabt; sie hatte durch die Köchin bei den Eltern der drei Freundinnen anfragen lassen, ob die Mädchen zum Abendbrot bleiben dürften, nach eingegangener Erlaubnis Tee gekocht, und während die Freundinnen mit herrlichem, durch die Kälte verdoppeltem Appetit die feinen Brötchen vertilgten, nähten sie in Gedanken und mit Worten bereits an den Kleidern ihres kleinen Schützlings.

Nach dem Essen waren sie auch in Wirklichkeit noch sehr fleißig und so vergnügt, daß Mike beim Abschied zu Emmy sagte: »Du, ich glaube, das war das allerschönste Kränzchen.«

 


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