Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Sechstes Kapitel. Leipziger Allerlei.

Zwei Tage nach dieser Unterredung versammelte sich das Kränzchen bei Lili, deren Stübchen sehr niedlich aufgeputzt war. Sie hatte aus dem reichen Vergißmeinnichtflor ihres Kärtchens für jede einen Strauß gepflückt, eine Rose dazu gespendet und dies niedliche Geschenk jeder Kränzchenschwester auf den Teller gelegt.

»Schade, daß ich Vera nicht einfach mitgenommen habe,« dachte Melanie, »es wäre das Bequemste gewesen, und sie hätte heute sicher einen guten Eindruck empfangen!« Das nächste Kränzchen war bei Mike Hennings, dort durfte sie natürlich nicht anfangen: bei gutem Wetter die Hoflaube und bei schlechtem das Wohnzimmer – was würde die verwöhnte Vera zu Hennings einfacher Einrichtung sagen? Denn wenn Herr Hennings auch Gerichtsrat war, arm waren sie doch, und das merkte man ja gleich.

Besser also noch acht Tage warten, dann war Anna Krause an der Reihe, die konnte sich schon eher sehen lassen; bei Krauses waren doch wenigstens Portieren im Zimmer und das Gymnasium, in dem der Professor Dienstwohnung hatte, machte einen stattlichen Eindruck.

Gerade in dem Augenblick, als Melanie ihre törichten Gedanken so weit gesponnen hatte, setzte sich Anna Krause würdevoll zurecht und teilte den lieben Montagsschwestern mit, die faule Grete habe endlich geschrieben. »Aber ausgiebig, wißt ihr,« weshalb ihr die verflossene Bummelei feierlich zu verzeihen sei.

»Liebe Kränzchenschwestern!

»Schon seit drei Sonntagen habe ich mir heilig, fest und unaufschiebbar vorgenommen, Euch nun endlich einmal einen Gruß zu senden, aber die Sonntage sind so merkwürdig kurz, daß es immer schon wieder Abend ist, wenn man kaum ›guten Morgen, Feiertag‹ gesagt hat.

»Im Laufe der Woche aber, du meine Güte, da brennt mir's immer auf den Nägeln, und ich brauche in meiner Dummheit soviel mehr Zeit zu allem, als nötig wäre, daß ich nicht rechts noch links sehen darf, um nur überhaupt zu stande zu kommen.

»Onkel sagt indessen, es werde besser werden, und schilt nicht, wenn ich einmal den Kopf verliere.

»Um sieben Uhr des Morgens kommt schon der dicke Peter und schließt das Bureau auf, um acht gehe ich hinüber (wir wohnen geradeüber vom Geschäft, und wenn ich Kaffee trinke, kann ich unsern riesigen Hausknecht vor der Türe hantieren sehen). Dann ist Herr Flips schon da. An Herrn Flips würde Anna ihre Freude haben, sie hätte ihn längst besungen, und wenn ich überhaupt im stande wäre, Reime zu schmieden, auf Herrn Flips wären mir gewiß welche eingefallen.

»Er hat ein kleines, spitziges Gesicht, breite, eckige Schultern, etwas schlenkrige Arme, die so lang sind, daß er ohne Leiter Pakete erreichen kann von einem Regal, zu dem meine recht guten Augen beinahe den Operngucker brauchen.«

»O, o,« rief Lili und hielt sich die Ohren zu, »schneiden Sie nicht so auf, Fräulein Sonderstädt!«

»Zu albern!« bemerkte Melanie, etwas nervös in dem Gedanken, was Vera zu einem solchen Brief sagen würde.

Anna fuhr unbeirrt fort: »Wenn ein Herr in das Bureau kommt (Ihr wißt doch, daß Onkel ein Speditionsgeschäft hat), dann zieht er die Augenbrauen bis zu den Haaren hinauf, spitzt die Lippen, legt den linken Arm hinter den Rücken, als müsse er sich stützen, und bildet sich, glaube ich, ein, ungeheuer würdevoll auszusehen.

»Wenn eine Dame kommt (geschieht leider nur selten), dann springt er mit einem großen Satz von seinem Bock herab, sein ganzes Gesicht zieht sich ins Breite, die Mundwinkel treffen mit den Ohrläppchen zusammen, der Rücken biegt sich wie ein Taschenmesser, das zusammenklappen will, und die Hände reiben sich so heftig gegeneinander, daß ich ihm einmal, als eine Dame sehr lange blieb, weil sie Onkel erwarten wollte, beinahe zugerufen hätte: ›Herr Flips, das ist aufreibend!‹

»Onkel kommt erst später, er sitzt dann in einem durch eine Glaswand abgeteilten Kabinett, durch einen Vorhang verborgen, durch den er selbst jedoch ganz gut sehen kann, und ich habe ihn einmal ganz leise lachen hören (ich habe nämlich Mausohren), als Herr Flips eine Dame, die Onkel nicht empfangen konnte, abweisen mußte und sich dabei entsetzlich bemühte, seine aufreibende Höflichkeit mit dem nötigen sachlichen Ernst zu vereinigen.

»Von dem großen Peter und dem naseweisen Laufjungen ›Carl‹ erzähle ich Euch ein andermal, sonst wird dieser Brief so dick wie ein Buch, und das Bücherschreiben überlasse ich unsrer Anna, wenn es schon überhaupt nötig ist, daß sich eine vom Montagskränzchen an so etwas wagt.«

»Solch ein Taugenichts! – seht mal an,« rief Anna, als bei dieser Stelle Lili und Mike sich vernehmlich räusperten, »wer hätte das hinter Greten gesucht. Leipzig bildet wirklich noch heutzutage seine Leute.«

»Weiter im Text,« riefen die andern, »sonst werden wir nicht fertig.«

»Leipzig gefällt mir sehr gut,« fuhr die Vorleserin fort. »Es gibt große, liebliche Wälder ringsum, und man kann wandern und wandern und sich immer freuen über Busch und Baum, die sanften grünen Ufer der drei Flüßchen, denen man auf jedem Wege begegnet, und die weiten Aehrenfelder dazwischen.

»Ihr werdet denken, das alles haben wir in Amsel auch, aber die schönen Läden, die stattlichen, großen Gebäude haben wir doch nicht, und das Menschengewimmel ist hier noch ärger als bei uns zur hohen Saison im Kurgarten; besonders wenn über Plätze und Promenaden die Meßbuden geschlagen sind, dann möchte man den ganzen Tag herumlaufen und die Augen aufsperren.

»Wenn aber wochentags unsre Bureautüre geschlossen ist mit den eisernen Stangen, und wir darauf Abendbrot gegessen haben, so ist es über acht und der Spaziergang, den Onkel dann noch mit mir und Base Jettchen unternimmt, ist leider allzukurz.

»Base Jettchen ist auch den ganzen Tag über auswärts, sie besucht ein Institut, in dem Kindergärtnerinnen ausgebildet werden, und ist schon haarsträubend gelehrt; Ihr werdet Euer blaues Wunder sehen, wenn sie in den Ferien einmal mitkommt – ach! aber wie lange kann das noch dauern!

»Am ersten Sonntagnachmittag waren wir in einem Konzert bei Bonorand im Rosental; ich lernte dabei zwei Freundinnen Jettchens kennen und den Bruder der einen, einen jungen Herrn mit langen Haaren und einem fliegenden Mantel (trotzdem es warm war), wie ihn in Amsel der alte Hauptmann »ade« trägt. Ihr wißt schon!

»Er ist sehr genial (nicht der Hauptmann, sondern der Bruder), studiert Musik am Konservatorium bei dem berühmten Komponisten Reinecke und wird eine große Oper komponieren, deren Heldin Maria Stuart ist; damit wird er sehr viel Geld verdienen, er rechnete mir gleich vor, wieviel Richard Wagner mit dem Tannhäuser verdient hat, aber ich habe es wieder vergessen.

»So nebenbei lernt er auch noch Klavier- und Geigenspielen, und vielleicht kommt er einmal mit der Sommerkapelle nach Amsel; Papa soll ihn dem Kapellmeister empfehlen, dann könnt Ihr ihn auch anstaunen.

»Angestaunt habe ich ihn nämlich sehr, gefallen hat er mir weniger, denn es lag auf dem genialen Mantelkragen und auf dem schönen, zerknüllten Filzhut ein bißchen zu viel Staub, und die Haare werden wohl auch nur alle vierzehn Tage gekämmt – aus Zeitmangel.

»Ich sollte nur seine Schwester sein, da würde er etwas Ordentliches zu hören bekommen! Denn wozu hat man Brüder? Um einen bildenden Einfluß auf sie auszuüben.

»Am zweiten Sonntag regnete es leider; da kamen zwei Tanten zum Kaffee, und Jettchen übte zwei Stunden Klavier, das war nicht so hübsch, aber am Morgen waren wir in der neuen Peterskirche gewesen, ich sage Euch, Ihr lieben Amseler Blumen, solch schöne Kirche kann man sich gar nicht vorstellen – riesengroß, und doch versteht man alles ganz deutlich, was im Altar oder von der Kanzel gesprochen wird.«

»Der Kölner Dom wird wohl noch größer sein,« bemerkte Melanie, »den hat die Sonderstädt natürlich nie gesehen.«

Anna ließ sich nicht stören.

»Heute morgen hat mich Jettchen mit ins Museum genommen, das war beinahe das Allerschönste. – Habt Ihr schon ein Museum gesehen?«

»Natürlich,« sagte Melanie geringschätzig.

»Lauter Bilder, eines immer schöner als das andre, ein Napoleon mit dem wütendsten Gesicht von der Welt, denn er hat gerade irgend einen schrecklichen Frieden unterzeichnet, und ein Friedrich der Große, fabelhaft klug und nett; den möchte man gleich Onkel nennen. Schafe, sage ich Euch, jeden Augenblick dachte ich, sie würden zu blöken anfangen, und Gewitter und Stürme, Regen und Sonnenschein, Feuersbrunst und Schlachtgetümmel, man denkt, man steht mitten drin, – zu wunderbar –. Ich mußte immer denken, ob unser ehemaliger Zeichenprofessor auch so etwas könne.

»Ich war ganz drehend davon; Jettchen lachte mich aus, aber sie muß mich bald wieder hinführen.

»Und nun, liebe Kränzchenschwestern, lebt wohl, eben sind die Freundinnen der Base mit dem Komponisten gekommen, und da das Wetter sich geklärt hat, will Onkel mit uns spazieren gehen, Tante ist es zu naß.

»Adieu, adieu; schreibt bald einmal, was das Kränzchen treibt, ob Ihr schon einen gemeinsamen Spaziergang unternommen habt, ob Ihr vergnügt seid, ob viele Fremde in Amsel sind. Bitte, schreibt recht viel und denkt freundlich Eures Gänseblümchens

Grete Sonderstädt.«

»Na, da stand doch was drin!« sagte Anna befriedigt, als sie den Brief wieder in den Umschlag steckte. »Ich möchte die Adresse des Komponisten wissen, ich würde ihm eine Bürste schicken mit dem Sinnspruch:

Benutze mich,
So schmück' ich dich!«

»Ich möchte Herrn Flips sehen, Herr Flips würde mir gefallen,« sagte Mike, »ich würde zu ihm sagen, wenn er die Hände mir zu Ehren riebe: Herr Flips, wenn Sie mich bezaubern wollen, mich, des Montagskränzchens Schlüsselblume, so legen Sie die Hände hinter den Rücken, denn eine stramme Haltung ziert den Mann.«

Emmy nickte Mike schelmisch zu, dann nahm sie den Brief und betrachtete ihn aufmerksam. »Acht Seiten und so fein und zierlich geschrieben! Der muß gründlich beantwortet werden; womöglich sogleich!«

»Unsinn!« rief Mela heftig, »das hat Zeit, wir haben Wichtigeres zu tun.«

Das sah nun freilich keine ein, aber nach längerem Hin- und Herreden wurde beschlossen, zu warten, bis irgend etwas Besonderes geschehen sei, weil sie Melanie das Leid nicht antun wollten, nur von dem großen einen Erlebnis: der Schwimmstunde zu reden.

Anna nahm den Brief, um ihn in die Aktenschale zu legen, und als er vom Tische verschwand, wurde Melanie wieder guter Laune. Sie machte einen Vorschlag, der ihr vorhin eingefallen war, als Grete nach dem gemeinsamen Spaziergang fragte.

»Mittwoch ist Illumination,« sagte sie, »werdet ihr da in den Kurgarten gehen?«

»Illumination? Mittwoch? Ach das wäre fein! Aber von uns geht nie jemand mit,« riefen die Mädchen durcheinander.

Melanie war sicher, daß ihre Eltern nach dem Garten gehen würden, um die Festlichkeit mitzumachen; sie forderte daher die Kränzchenschwestern auf, unter dem Schutz ihrer Eltern mitzukommen.

»Herrlich!« war der erste Ausruf aller, dann wurden sie bedenklich, was wohl Schönbachs zu dieser großen Töchterschar sagen würden, Melanie aber lachte diese Besorgnis fort, das verwöhnte Kind wußte genau, daß die Eltern ihr diese Bitte mit Freuden gewähren würden, sie war eigentlich in ihrem anspruchsvollen, kleinen Herzen davon überzeugt, daß sie den gütigen Eltern gar kein größeres Vergnügen bereiten könnte, als durch immer neue Wünsche.

Sie versprach, den Freundinnen Botschaft zu senden, zu welcher Zeit man sich an dem großen Tage versammle, und freute sich der günstigen Gelegenheit, Vera mit dem Kränzchen bekannt zu machen, denn Vera war nun schon der tägliche Gast in Schönbachs Haus und bei Schönbachs Ausflügen.

 


 << zurück weiter >>