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Vierzehntes Kapitel. Unterwegs.

»Wie schön ist die Welt!«

Behaglich saß Mike der geliebten Emmy gegenüber, Doktor Olfers blies am andern Coupéfenster leichte Rauchwölkchen in die Luft und draußen flogen Dörfer und Burgen, alte hochtürmige Städte und dunkle Wälder vorüber, die zur Rast luden. Der Zug aber jagte über luftige Brücken, bahnte sich pfeifend und fauchend den Weg durch die unübersteigbaren Berge, eilte durch blühendes, fruchtprangendes Land und Mike saß staunend da: So schön war die Welt!

Das war der erste Reisetag, und jeder folgende schien ihr wieder ein erster zu sein.

Schon nach Verlauf einer Woche hatte Mike wieder helle Augen und die Wangen begannen sich zu bräunen, aber Krafttouren gab es trotzdem nicht; Doktor Olfers heilte gleichmäßig durch Bequemlichkeit und Freude.

»Nun, was ist heute los?« fragte er eines Morgens beim Kaffee.

Die Mädchen sahen fragend zu ihm auf.

»Ein Mahnbrief von Großmama ist gekommen – Buchberg wartet auf euch, und auf mich in Jena die Arbeit – also vorwärts – heute, denk' ich, fahren wir bis Weimar.«

Ein zweifacher Freudenruf unterbrach ihn.

Doktor Olfers lächelte verschmitzt. »Ich glaube gar, ihr freut euch auf Weimar? Ist denn da etwas zu sehen?«

»O Papa, Papa, du bist himmlisch gut!« rief Emmy und fiel ihm um den Hals, »nun werden wir in Weimar sein. Ob es noch ganz dasselbe Pflaster hat, auf dem Schiller gegangen ist?«

»Hoffentlich nicht; aber ein und das andre Steinchen, das er mit seinen Sohlen berührt hat, findet sich schon noch; lauft nur die Winkel und Ecken gründlich ab. In einer halben Stunde geht der nächste Zug – wer kann da fertig sein?«

Die Mädchen flogen davon. So flink hatten sie sich noch nie eingestellt wie heute, und fünf Minuten früher, als nötig war, standen sie auf dem Bahnhof.

Die Fahrt wurde in einem etwas fieberhaften Zustand zurückgelegt, den Mike für »wonnevoll« erklärte, daß aber Doktor Olfers seine tatendurstigen Mädchen nach der Ankunft in dem ersehnten »Dichternest« (so respektwidrig nannte es der immer zum Necken bereite Papa) in den Hotelomnibus packte, das war »nüchtern«.

Als sie darauf jedoch in dem freundlichen Garten des Hotels Chemnitius beim Mittagsmahl saßen, waren ihre Mägen doch sehr einverstanden mit dieser nüchternen Einrichtung.

»Nun laßt uns einen Schlachtplan entwerfen,« sprach der Doktor, »was wollt ihr alles in Weimar sehen?«

O, was kam da alles zu Tage! Schiller- und Goethehaus, Park und Einsiedelei, Fürstengruft und Belvedere, Museum und Denkmäler.

Papa hielt sich die Ohren zu.

»Halt, halt!« rief er, »für dies Heer von Wünschen langt ja ein Menschenleben nicht aus, da müssen wir etwas Außerordentliches wagen.«

Die beiden Mädchen waren natürlich neugierig auf dies Außerordentliche, aber Papa spielte den Geheimnisvollen, und über der herrlichen Gegenwart vergaßen sie den kommenden Tag. Die Feierlichkeit des Goethehauses machte ihnen beinahe ein wenig bange; sie wagten kaum aufzutreten, nur im Arbeitszimmer fanden sie die beiden vorhanglosen Fenster, durch die des Gartens grüne Zweige freundlich hereingrüßten, behaglich, und das kleine Zimmerchen daneben, in dem der große Mann gestorben war, stimmte sie sehr nachdenklich.

Vom Goethehaus ging es zum Schillerhaus, gleich beim ersten Blick in den epheuumsponnenen Hof jubelte Mike auf: »Mein herzallerliebster Schiller!« und hier hatte Papa große Mühe, seine beiden Enthusiasten überhaupt wieder fort zu bekommen. Mike lief von dem alten Spinett zu dem mächtigen Schreibtisch und dann wieder zurück zu dem Spinett, sie hätte am liebsten jeden der eingerahmten Briefe gelesen und saß auf jedem der geheiligten Stühle Probe.

»Es ist paradiesisch, Emmy,« flüsterte sie, »hier hat er wirklich gestanden, hier auf derselben Diele, der herrliche Mann, der uns die wundervollen Gedichte gemacht hat,« und als sie zu dem Seitenfenster hinaussah, durch das der Himmel auf den Dichterschreibtisch herabschaute, deklamierte sie leise ihre Lieblingsstelle: »Eilende Wolken, Segler der Lüfte ...«

Emmy war still, sie wurde hier den Gedanken an Franzens Unfall nicht los.

Um so heiterer wurde sie dann in Belvedere; nach allen Enden und Ecken durchstreiften sie den Park.

Einmal rief Mike sehr eifrig: »Sieh dort hin! Die junge Dame! Ich glaube, sie malt.«

Aber Emmy buchstabierte gerade an einer verwitterten Inschrift, um sie in das Merkbüchelchen zu schreiben, das sie immer bei der Hand hatte, und als die Mädchen später wieder nach der Malerin ausschauten, war sie verschwunden.

»Schade!« sagten sie einstimmig.

»Ich habe noch nie eine lebendige Malerin gesehen.«

Papa lachte und meinte, wahrscheinlich hätten sie nicht viel versäumt, die Bilder wären ihm meistens lieber, als die Malerinnen – aber die Mädchen blieben bei ihrem Bedauern.

Am andern Morgen eröffnete ihnen der Vater das Geheimnisvolle.

»Hört zu, meine Töchterchen. Zuerst gebt mir das Versprechen, daß ihr euch, was auch kommen möge, benehmen werdet wie verständige junge Damen.«

»Ja, ja!« riefen sie eifrig.

»Ein ganz ernsthaftes Versprechen.«

»Ja, ja!« wiederholten sie mit lebhaftem Feuer.

Papa war zufrieden.

»Also ich kann mich auf euch verlassen. Die Sache ist die: Meinem Versprechen zufolge muß ich heute in Jena sein, Großmama hab' ich unser Kommen für morgen angemeldet. Da ihr nun ohnedem wenig Freude von unsrer gelehrten Partie haben würdet, so will ich euch hier lassen und euch erst morgen wieder abholen, damit ihr in dieser Zeit das wunderbare Weimar noch recht tüchtig durchschnüffeln könnt.«

Erst waren sie starr vor Entzücken, dann gebärdeten sie sich von Herzen unvernünftig, gar nicht wie junge Damen, sondern wie richtige Kindsköpfe. Papa neckte sie über die Freude, ihn los zu werden. Mike wurde dunkelrot, Emmy fiel ihm um den Hals und sagte zärtlich: er sei unbeschreiblich gut.

Mit dem Gastwirt hatte Herr Olfers schon gesprochen, alles war wohl vorbereitet und mit einer letzten Ermahnung fuhr er nach Jena.

»Mike, ich finde es hinreißend,« sagte Emmy, als Papas Zug ihnen aus den Augen war, »wir reisen heute ganz selbständig. Nun laß uns die Stadt gründlich besehen, auf jedem Plätzchen hat ein berühmter Mann gestanden, es ist ein herrliches Gefühl.«

Mike nickte bedächtig, sie fühlte sich heute um viele Jahre erwachsener geworden und ging unwillkürlich langsamer und würdevoller.

Sie verbrachten einen ungetrübten Vormittag, dankten es lediglich dem verlangenden Magen, daß sie die Mittagsstunde nicht versäumten und aßen nach Papas Anordnung ein »großartiges Menü« auf ihrem Zimmer ab, mit dem Benehmen kleiner Prinzessinnen.

Sowie jedoch der letzte Bissen verschluckt war, eilten sie aufatmend nach dem Park, den sie den ganzen Nachmittag durchstreifen wollten. Arm in Arm wanderten sie die herrlichen Alleen entlang, bewunderten den von Goethe angelegten Stern, sein kleines Gartenhaus, die Schillerbank, die Einsiedelei, Lusthäuser und Teeplätzchen der Großherzogin Amalie und das römische Haus. Endlich regte sich Kaffeedurst.

Beim Ausmarsch hatten sie am Schloßplatz eine Konditorei mit einer Aristolochialaube bemerkt, dort beschlossen sie, ihren Durst zu löschen und machten sich auf den Rückweg.

Leider hatten sie im Entdeckungseifer wenig auf den Weg geachtet, Stadtplan und Bädeker lagen im Hotel in guter Ruhe, und so kam es, daß sie lange kreuz und quer liefen, ohne das Ende des Parkes zu finden. Auch waren die herrlichen Schattengänge völlig menschenleer, nur einmal sahen sie von fern einen jungen Burschen die Allee entlang schlendern, hatten aber keinen Mut, ihn in der stillen Einsamkeit um den Weg zu fragen.

Plötzlich hemmte Mike den Schritt und deutete über den Rasen hinüber.

»Dort,« sagte sie, »hinter dem Gebüsch sitzt jemand, es muß eine Dame sein, die wollen wir fragen.«

Nun sah Emmy auch; es war ziemlich weit dahin, wenigstens mußten sie eine langgestreckte Wiese umschreiten, aber das Helle da drüben war unzweifelhaft eine Dame.

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»Ach,« flüsterte Mike, »es ist die Malerin von gestern.«

Also setzten sie ihre müden Füße in Bewegung, eilten voller Furcht, die ferne Gestalt möchte den Platz verlassen, ehe sie ihn erreichten, auf dem gewundenen Wege vorwärts und gelangten atemlos ans Ziel.

»Ach,« flüsterte Mike, als die letzten trennenden Büsche umschritten waren, »es ist die Malerin von gestern.«

Wirklich, es war die Malerin vom Belvedere. Nun sie ihnen doch nicht mehr entwischen konnte, standen sie still und betrachteten sich die Interessante. Sie war »wunderschön« nach Emmys Ausspruch, »süß, aber schrecklich blaß« nach Mikes Entscheidung.

In der Tat hatte sie ein liebliches, feines Gesicht, sah aber leidend aus. Sie trug ein graues Leinenkleid mit seinen Säumen, ein großer Hut lag neben ihr im Grase, und der Pinsel, den sie in der Hand hatte, glitt eifrig über die Leinwand. Sie sah nicht auf, sie hatte die Schritte der Freundinnen nicht gehört und achtete nur auf ihre Arbeit.

»Sie selbst wäre das allerschönste Bild,« flüsterte Emmy.

»Reizend,« platzte Mike heraus, ganz laut. Die Malerin blickte auf, bemerkte die beiden Mädchen, und ein leises Lächeln glitt um ihre Mundwinkel.

Nun mußten die Freundinnen heran. Mike voraus, voller Verlegenheit, die aber tapfer unterdrückt wurde. Ein höflicher Gruß und die Bitte um Auskunft über den Weg kamen ganz geschickt zu Tage, ein Paar sanfte graue Augen sahen sie an (»gerade ins Herz hinein sahen sie mir,« behauptete Mike später), und sie erhielten einen freundlichen Bescheid.

Ein gut Stück Wegs blieb ihnen da freilich noch, sie hätten sich sehr gern ein wenig auf die Bank gesetzt, die nahe der Malerin an einem schattigen Plätzchen einlud, hätten auch um alles gern das Bildchen betrachtet, das beinahe fertig zu sein schien, aber sie stammelten nur ein paar Dankesworte, versuchten eine sehr nette Verbeugung zu machen und gingen auf dem bezeichneten Wege Hand in Hand davon.

Hätten sie gewußt, daß die Malerin dachte: Das sind ein paar liebe Mädchen; es tut so wohl, wenn einmal jemand keine aufdringliche Neugier zeigt, so würden sie sehr stolz beglückt gewesen sein; da sie es aber nicht wußten, so empfanden sie ein leises Bedauern darüber, daß sie am Ende doch zu hasenfüßig gewesen seien, und nun erst, als sie nach einem scharfen Marsch in der Veranda der freundlichen Konditorei saßen, sagte Mike tief atemholend: »Emmy, das war das Wundervollste! Eine lebendige Künstlerin hat mit uns gesprochen, es ist einfach himmlisch!«

Als sie ausgeruht und gesättigt draußen auf dem schmalen Platze standen, überlegten sie ernstlich, ob sie nicht noch einmal nach dem Platz wallfahrten sollten. Emmy entschied nach längerem Besinnen mit einem Nein. »Wir müssen uns wie ordentliche Reisende benehmen und dürfen uns nicht von einer plötzlichen Laune verwirren lassen; wir haben noch drei Denkmäler, die Fürstengruft, das Wieland- und das Herderhaus zu suchen. Unser Programm müssen wir ausführen, wozu hätte uns Papa sonst dagelassen.«

Mike sah es zwar ein, fand es aber bedauerlich und hatte heute einiges an dem großartigen Weimar auszusetzen.

Als die beiden Mädchen jedoch, ihrer Absicht gemäß, die Kirche umschritten, in welcher Herder, auf Goethes Veranlassung nach Weimar berufen, als Hofprediger gewirkt, wurde ihre Programmtreue belohnt. Gerade als sie aus dem schmalen Schlupf hinter der Kirche wieder heraustraten, kam die Malerin an ihnen vorüber; ein Knabe trug Staffelei, Feldstuhl und Malkasten hinter ihr drein und, o Freude, sie erkannte die beiden Freundinnen und erwiderte freundlich lächelnd deren höflichen Gruß.

Die Mädchen standen noch in glücklichem Nachgenießen dieses zweiten Teiles ihres Abenteuers, als der Knabe, seiner Sachen ledig, zurückgeschlendert kam.

»Pst, pst!« rief Mike, und ehe Emmy ihr erschrocken die Hand auf den Mund legen konnte, stand der Junge schon neben ihnen.

»Sie sin wohl fremd?« fragte er. »Soll ich führen? Ich kenn' mich aus.«

»Nein,« antwortete Mike zögernd, durch Emmys Schrecken verlegen gemacht, »ich möchte nur wissen, wie die Dame heißt, die Bilder malt und die du eben nach Hause begleitet hast!«

»Ach so!« Der Junge war etwas enttäuscht. »Das weiß ich selber nich. 's is eine Fremde und wohnt drüben Nummer sechs im Hof zwei Treppen, da hat sie bei Klausens 'ne möblierte Stube. Seit acht Tagen trag' ich ihr's Zeug naus; da macht sie Schkizzen, sagt Klausens Lene, da werden im Winter, wenn einem beim Draußensitzen die Beine abfrieren täten, in der Stube die großen Bilder draus gemacht. Lene weiß es, bei Klausens gibt's immer Malers, mal kurz, mal lang, mal zahlen sie, mal brennen sie durch. Die hat mich morgen wieder bestellt.«

Der Junge schwieg, blieb aber stehen und sah Mike erwartungsvoll an. Mike wurde noch verlegener und sah Emmy an. Emmy zog ihr Beutelchen und drückte dem Jungen zwanzig Pfennige in die Hand. Nun verzog er sein Gesicht zum Schmunzeln, sagte: »Guten Abend auch,« ging fort und pfiff sich eins.

Die Freundinnen sahen sich an und lachten. »War diese Nachricht zwanzig Pfennige wert?« Sie lachten sich noch einmal aus, wanderten an Klausens Nummer sechs vorüber, natürlich ohne etwas von der nach dem Hofe wohnenden Malerin zu entdecken und lachten sich wieder aus.

Dann schob Mike ihren Arm in den Emmys, und sie schlugen den Weg nach dem Hotel ein; sie hatten den heutigen Abend für einen Brief an die verwaisten Kränzchenschwestern daheim bestimmt.

Auf diesem Weg aber kamen sie an einem Blumenladen vorbei, in dessen Schaufenster frische Rosen ausgestellt waren.

Unwillkürlich blieben sie stehen, sahen sich an und nickten sich verständnisvoll zu.

»Morgen reisen wir ab,« flüsterte Mike.

»Wir werden sie nicht wiedersehen.«

»Sie wird nie erfahren, woher die Blumen gekommen sind.«

»Ja, ja,« stimmten beide zusammen, »so soll es sein, sie ist gar zu süß.«

Dem Blumenladen gegenüber fand sich eine Buchbinderei, dort kauften die Mädchen ein feines Goldschnittkärtchen. Emmy schrieb darauf: »Einen Gruß von zwei unbekannten Verehrerinnen.«

Mike schrieb die Adresse: »An die Malerin bei Frau Klaus, Nummer sechs, zwei Treppen.«

Mit dem Kärtchen gingen sie in den Blumenladen, kauften sechs Rosen, an die noch kein mörderischer Draht gekommen war, ließen sie mit einem himmelblauen Bande zusammenbinden und schickten den Gärtnerburschen mit einer genauen Beschreibung zu »Klausens«.

Heimlich folgten sie ihm; er ging in das richtige Haus und kam nach fünf Minuten ohne Blumen zurück; nun liefen sie mit glühenden Wangen, völlig ihre Junge-Damenwürde vergessend, nach dem Hotel. Der Kränzchenbrief wurde daraufhin mit Buchstaben geschrieben, die bald über, bald unter der Zeile standen, und dann konnten sie lange, lange nicht schlafen, weil immer eine die andre aufs neue fragte: »Ob sie sich wohl gefreut hat?«

 


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