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Zwanzigstes Kapitel. Weihnachtsfreuden.

Anna, als allgemein anerkannter »Verstandskasten«, war der Auftrag geworden, der kleinen Ida heimlich Maß zu nehmen, und sie hatte sich dieses Auftrags zu einer Zeit, während welcher die Fischersfrau abwesend war, ganz geschickt entledigt.

Mike seufzte, als die Wahl zu diesem Vertrauensposten auf Anna fiel, wagte aber in richtiger Selbsterkenntnis ihres Hurlebusch-Temperaments nicht, sich anzubieten. Ich würde doch alles falsch messen, dachte sie, und vergäße dann jedenfalls auch noch obendrein die Zahlen.

Als aber Anna von ihrer erfolgreichen Expedition zurückkam und viele Geschichten von dem Besuch erzählte, stand Mikes Entschluß fest: auch sie mußte die Bekanntschaft klein Idas noch vor dem Feste machen.

Mit leeren Händen hätte sie nach Annas apfelspendendem Vorgang nicht kommen mögen, der Fünfer sollte noch zwei Wochen lang Notpfennig bleiben, also sparte sie sich an zwei Morgen den Frühstücksapfel am Munde ab, durchwühlte dann noch den »Rumpelkasten«, eine hübsch beklebte Pappschachtel von stattlicher Größe, in die alles gesteckt wurde, was man eigentlich nicht mehr brauchte, was aber doch zu schade zum Fortwerfen war, und da Mike dazu alles »zu schade« fand, hätte die Schachtel eigentlich noch viel größer sein müssen.

In Gedanken an die unbekannte Ida kramte sie nun die Schätze durch; da gab es Perlen und Knöpfe, Bandrestchen und Eisendraht, Blechringe und buntes Papier, alte Kalenderbilder und farbige Karten, Nägel und Flitter, Briefmarken und Wollfäden, Wappen und Siegel.

Aus diesem Chaos wählte Mike den Rücken eines Wandkalenders, den sie seit 1878 aufhob; er war mit einem hübschen Kahnbild beklebt und so fest, daß ihn die zerstörungslustigen Kinderhände nicht gleich entzwei bekommen konnten. Dieses Bild und die Aepfel in der Tasche, machte sie Ida ihren Besuch.

Zuerst war sie schüchtern, als sie in dem großen Zimmer stand, dessen kahle Häßlichkeit selbst die mitleidige Dämmerung nicht völlig verhüllen konnte; ihr Herz klopfte sehr heftig, und erst nachdem sie sich überzeugt hatte, daß die Kinder wirklich allein zu Hause waren, faßte sie Mut.

Diesmal hatte der fünfjährige Wilhelm die Aufsicht. Klein Ida saß auf dem Fußboden, »der Große« war in der Schule.

»Mutter is auf Wasch,« sagte der Junge, dem die stumme junge Dame unheimlich wurde.

»Wiederkommen,« stotterte er hinterher.

Mike faßte sich ein Herz. »Ihr seid wohl immer allein, ihr armen Kinder; Mutter ist wohl alle Tage auf Wasch?«

»Ach nee,« seufzte der Junge, während Ida den Besuch aufmerksam betrachtete, »und dann hat sie kein Geld und wir kriegen nichts zu essen. Jetzt is aber gut, sagt Mutter, Weihnachts haben die reichen Leute alle Wasch.«

Mike seufzte. Nichts zu essen, sagte der Junge! sie war sich in diesen Tagen mit ihrem Fünfer so arm vorgekommen, hatte zehnmal gewünscht, so viel Taschengeld zu haben wie Lili – wie reich war sie aber im Vergleich zu dem armen, kleinen Jungen – nichts zu essen, o Jammer! – Die Unbeholfenheit war verflogen, sie ging schnell auf das Schwesterchen zu, hob sie vom Boden auf und sagte: »Idchen, guten Tag, Idchen! Du mußt nicht auf dem kalten Boden sitzen, da kriegst du den Schnupfen.«

Idchen lachte vergnügt Mikes freundliches Gesicht an, legte den kleinen blonden Kopf schief und griff Mike in die Haare.

Auch der Junge wurde zutraulich.

»Bist du so eine Tante Anna, wie letzthin? Bringst du mir einen Apfel mit?« fragte er.

Mike lachte hell auf. »Du Schlaukopf! Ja, ich hab' einen in der Tasche, aber erst zeig mir, wo die Mutter das Schwesterchen hinsetzt, ehe sie geht.«

Der Junge zog gehorsam eine grobe Decke unter dem Tisch vor und Ida wurde darauf gesetzt; sie patschte behaglich mit den kleinen Händen auf ihren einfachen Teppich, als wisse sie, daß er warm halten solle, und wolle zum Danke ei ei mit ihm machen, und Mike war eben im Begriff, sich den Holzschemel heran zu holen, als der Junge, der schon gelernt hatte, den Augenblick beim Schopfe zu nehmen, sie am Aermel zupfte, und sprach: »Du, kannst du kochen?«

»Natürlich!« antwortete Mike stolz.

»Ach sieh mal, dann koch uns was.«

Nun war Mike doch etwas verlegen – als aber der kleine Mann ihr erzählte, wenn Bruder Ernst um zwölf nach Hause käme, dann müßten sie Kartoffeln im Topf zusammenkochen und fürs Schwesterkind Milch warm machen, da schickte sie sich denn an, das Feuer zu schüren – die Kartoffeln standen abgewaschen im Topf – sie tat Wasser zu und stellte sie auf, denn es mußte bald zwölf sein. Als sie fertig war, setzte sie sich wieder neben Ida.

Der Junge hatte altklug zugesehen, er war zufrieden; ungefähr so machte es Mutter auch, das feine Fräulein ging ebenfalls sparsam mit der Feuerung um. Er nickte weise mit dem blassen Gesicht, setzte sich auch zu den beiden und sagte: »Nu, erzähl was!«

Mike lachte, sie fand den Jungen wundervoll, holte Messer und Aepfel aus der Tasche, gab ihm den einen und schälte den andern für Ida. Die Kerne, die sie herausholte, ließ sie auf der Diele umhermarschieren, das wären Mäuse, sagte sie. Ein Apfelschnitz mußte die Katze vorstellen, und dann erzählte sie eine schöne Geschichte von einem naschigen Mäusevolk und der Katze, die sie, gerade wie sie in der Speisekammer sind, verschlingt.

Als die Aepfel gegessen waren (die Hälfte des seinen hob Wilhelm gewissenhaft für den Bruder auf) und die Mäuse ein ruhmloses Ende im Katzenmagen gefunden hatten, holte Mike das Bild aus der Tasche und erzählte, unterstützt durch seine Farbenpracht, eine zweite Geschichte mit großem Erfolg.

Inzwischen kochte das Wasser die Kartoffeln weich, sie wurden abgerückt, das Feuer verwahrt, daß es weiter brenne, ohne zu viel zu verzehren, und da nun auch der Bruder aus der Schule kam, sagte sie den neuen Bekannten, wie eine gute alte Freundin, lebewohl.

»Du! Du kannst wiederkommen,« meinte Wilhelm anerkennend, »du bist nett!« Und Ida patschte die Hände zusammen und reckte ihr den kleinen, roten Mund entgegen.

Mike wurde dunkelrot, als sei sie sehr gelobt worden und aß von da an keinen Frühstücksapfel mehr selbst. Die wanderten alle zu den Fischerkindern, freilich nie wieder des Vormittags, denn so schön Mike es sich gedacht hatte, nun täglich das einförmige Mittagsbrot der Kinder zu kochen, so war Klara über Mikes Pflichten doch andrer Ansicht.

Als sie an jenem wichtigen Tag kurz vor der Essensstunde nach Hause kam, sah die Schwester sehr verdrießlich aus, und als sie dann, während die Eltern Mittagsruhe hielten, mit den Kindern allein waren, sagte sie: »Das ist gar nicht hübsch von dir, Mike – ich hoffte heute, wo ich keine Schneiderstunde habe, einmal ordentlich bei den Weihnachtsarbeiten bleiben zu können, statt dessen läufst du, die du natürlich mit allem fertig bist, zu Emmy und ich muß die Küche besorgen. Ich möchte nur wissen, was aus der Wirtschaft würde, wenn ich auch den halben Tag bei einer Freundin verbringen wollte.«

Mike wurde dunkelrot und sagte kein Wort darauf; recht hatte Klara ja eigentlich. Sie ging also nicht wieder früh, sondern erst wenn die Dämmerung einbrach und war da den einsamen Kindern beinahe noch lieber, denn sie »graulten« sich nun nicht mehr, sondern freuten sich auf die Huschelstunde.

Viel mehr als daheim in der Kinderstube, fühlte sich Mike hier in ihrem Königreich. Sie hatte gar nicht gedacht, daß es sich so nett mit Kindern spielen lasse, die drei lauschten auf ihre Worte, wie auf ein Orakel; den großen Siebenjährigen überhörte sie das Einmaleins und half ihm mit drolligen Sprüchen, wenn er etwas nicht merken konnte. Wilhelm lernte dabei mit und konnte schon sagen:

»Viermal fünf ist zwanzig.
Zum Leierkasten tanz' ich,«

und

»Zweimal vier ist acht,
Ida ist aufgewacht.«

Auch sah Mike darauf, daß die Jungen sich und dem Schwesterchen die Hände rein wuschen und fand die drei, die nicht gewöhnt waren, daß sich jemand um sie kümmerte, viel williger als Liese und Line daheim, wenn eine derartige Mahnung an sie erging.

Mike seufzte, als ihr das einfiel; sie überlegte nicht, daß sie hier vielleicht freundlicher ermahnte als dort, »weil die armen Würmer es doch nicht besser wußten«, während die Mädel zu Haus schon eigentlich von Natur aus hätten Engel sein sollen und ihre Fehler nur hatten, um Klara und Mike, die beiden Ausbunde von Vortrefflichkeit, zu ärgern.

»Tante Mike,« sagte Wilhelm einmal und sah mit nachdenklichem Blick zu ihr auf, »wir sind doch drei, warum bringst du immer nur zwei Aepfel mit und heute nur einen; kannst du nicht mehr kaufen?«

Mike lachte. »Ich kann gar keinen kaufen, du kluger Mann, denn ich habe kein Geld und deshalb kann ich euch nur mitbringen, was ich zu Hause zum Frühstück bekomme. Heute war es nur einer, aber siehst du, dafür ist er auch besonders groß.«

Wilhelms Augen wurden noch nachdenklicher, er hielt den großen Apfel in der Hand, sah bald ihn, bald Mike an und brach endlich los: »Du, dann ißt du wohl gar keinen?«

»Nein,« antwortete Mike, »sondern ich bringe ihn euch mit, aber,« fügte sie großmütig hinzu, »es tut mir gar nicht leid.«

»Du bist nett,« sagte Wilhelm tiefatmend, während Ernst etwas verlegen an seinem Kittel zupfte, zweifelhaft, ob man das Opfer eigentlich annehmen dürfe.

Sie nahmen es aber an und nur Wilhelm bestand darauf, daß Mike ein Schnitzchen von seinem Drittel esse, und als sie ging, brachte er ihr eine Tonkugel, sein höchstes Gut, um es ihr zu schenken.

Erst als Mike sagte, sie habe zu Hause zu viel zu tun, und wolle lieber hier mit der Tonkugel spielen, trug er sie beruhigt wieder in die Dielenspalte zurück, die er sich zum Kommodekasten ersehen hatte.

– – »Nun sage mir nur, Emmy,« fragte Klara, die gerade an diesem Tage Emmy auf der Straße traf, »was ihr für wichtige Dinge zusammenbraut? So oft ist Mike noch nie bei euch gewesen.«

Emmy machte ein erstauntes Gesicht.

»Ich habe Mike seit dem letzten Kränzchen nur ein einziges Mal gesehen, wo sie's sehr eilig hatte, ich habe das auf Weihnachten geschoben. Wer weiß, was für Heimlichkeiten sie vor hat. Sagte sie, daß sie bei mir wäre?«

Klara besann sich. »Nein, das hat sie freilich nicht gesagt. Ich hab' es nur als selbstverständlich angenommen.«

Emmy schüttelte lächelnd den Kopf, fühlte sich aber doch ein wenig zurückgesetzt. Wenn Mike zu Hause abkommen konnte, täglich, auf lange, so waren doch Olfers die nächsten, die ihren Besuch erwarten durften.

Und Klara, nachdem sie lange hin und her gesonnen hatte, sagte zur Mutter: »Mami, ich weiß nicht, was mit Miken los ist; alle Tage läuft sie in der Dämmerstunde fort, ich dachte zu Emmy, aber die hat nichts von ihr gesehen.«

Frau Hennings wußte auch nicht, was sie denken sollte. Mike fragen mochte sie nicht; wenn eine Weihnachtsüberraschung im Spiel war, wollte sie ihr die nicht verderben. Aber wie sollte ihre Wilde mit den ewigen Geldverlegenheiten zu irgend etwas Besonderm kommen?

Als Mike dennoch am folgenden Tag wieder fortschlüpfte, ging sie ihrem Töchterchen nach. Wie erstaunt war sie, als der Wildfang in die ärmliche Tischlergasse einbog, hier durch den rußichten Hof eines alten Gebäudes eilte und in einer niedern Tür zu ebner Erde verschwand.

Zunächst fragte sie einen vorübergehenden Mann, wer hinter dieser Türe wohne.

»Die Fischerswitwe vom breiten Wehr, aber sie ist aus, sie ist auf Wasch.«

Kopfschüttelnd ging Frau Hennings bis zu dem Fenster, sie entsann sich, daß dies die Mutter jenes Kindes sei, dem der Montagskranz die Bescherung vorbereitete; hing der Besuch damit zusammen?

Sie blickte eine Zeit lang hinein in das Zimmer und trotz Mikes heimlich eigenmächtiger Handlungsweise hatte sie doch Freude an dem, was sie sah.

Das Herdfeuer gab genug Licht, um die Gestalten unterscheiden zu lassen. Mike überhörte den Großen, – zu verstehen war draußen nichts, aber man sah deutlich ihr achtsames und sein andächtiges Gesicht. Dann sangen die beiden Jungen: »Stille Nacht, heilige Nacht.« Mike fiel ab und zu ein, es klang gedämpft und lieblich durchs Fenster.

Nachher kamen die Aepfel aus der Tasche, wurden geteilt und verschwanden.

Der lauschenden Mutter draußen wurde es kalt, sie wartete nicht auf das unermüdliche Töchterchen, so gern sie weiter beobachtet hätte; als diese aber nach Hause kam, trällernd und im tiefsten Herzen vergnügt in das Wohnzimmer trat, zog die Mutter sie an sich und sagte leise: »Ich habe heute mein kleines Mädchen als Kindermuhme gesehen und mich gefreut, was für ein hübsches Talent sie dafür hat. Wirkt denn das aber nur fremden Kindern gegenüber und nicht auch bei den Geschwistern?«

Mike wurde dunkelrot. »O, – Mama – ich – ich glaube, die würden gar nicht wollen – «

»Nun, so lassen wir's auf einen Versuch ankommen!«

An diesem Abend schlug Mama vor, ein Weihnachtslied zu singen. Papa sah erstaunt von seiner Zeitung auf, hatte aber nichts dagegen und Mike mußte anstimmen.

Nach einigen vergeblichen, etwas fürchterlichen Versuchen klang es sehr gut und Line und Lise gingen befriedigt in dem Bewußtsein zu Bett, heute etwas Besonderes erlebt zu haben.

Auch Fredi hatte nebenbei etwas Neues gelernt.

»Siebenmal sieben ist neunundvierzig,
Wer's nicht glauben will, der irrt sich.«

erläuterte Mike die »grauenhafte« Rechenfrage. Worauf er erklärte: so sei die Sache freilich kinderleicht, und nun würde er die »dämliche Sieben« nie wieder vergessen.

Am nächsten Morgen erhielt Mike drei Aepfel zum Frühstück und als die Dämmerstunde heranrückte, nickte die Mutter ihr freundlich zu: »Geh nur!«

Da eilte sie doppelt froh zu ihren Schützlingen.

 


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