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Zwölftes Kapitel. Die Folgen der Hochachtung aller Edeldenkenden.

Der Gesang des Männerbundes war zwar längst verklungen, aber ein Nachhall blieb. Die Nachbarn fanden den »Morgenspektakel« noch acht Tage lang empörend, und von ihnen aus schlug die Bewegung Wellen; ganz Amsel erzählte sich das Ereignis. Einige fanden es drollig, andre nannten es sehr unpassend, daß ein so junges Mädchen, wie Mike, Veranlassung zu einem Ständchen gegeben habe, es sei überhaupt nicht nett, die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich zu ziehen.

Melanie erzählte das Entsetzliche ihrer süßen Vera. Die lächelte altklug.

»Also deshalb hat dieses unweibliche Mädchen mit der eleganten, feinen Olfers, die du stets so gelobt hast, Freundschaft gehalten. Der Bruder ist die Ursache, natürlich – sie ist eine Kokette.«

Die weltkluge, weitgereiste Vera hatte in Schnepperchen die Kokette entdeckt; Mela war zwar überrascht, stellte sich aber, als habe sie das längst gemerkt, und erzählte es weiter. Es kam in der Stadt herum, man wußte nicht recht wie, und obgleich Melanies Bruder es hohnlachend für »grausames Blech« erklärte und gegen niemand ein Wort davon gesprochen hatte, fand es doch auch zur Unterprima seinen Weg und veranlaßt nach einigen mehr oder weniger klassischen Reibereien eine feierliche Rauferei.

Professor Krause fand es diesmal angezeigt, das Ereignis zu ignorieren, bemerkte jedoch zu Haus, Mike Hennings scheine einige Verwandtschaft mit der schönen Helena zu haben und Trojanische Kriege zu veranlassen.

Es war ein Scherz von Papa Krause, aber nur Kurt lachte verständnisvoll im Bewußtsein seiner homerischen Bildung; Anna fühlte sich eingedenk dessen, daß sie dereinst nach der Geschichtsstunde die Helena für »ruppig« erklärt hatten, in der Seele der Kränzchenschwester bitter gekränkt. Sie nahm nach Feierabend den Hut und ging zu Emmy.

»Da hat dein Bruder einen rechten Unsinn angerichtet,« begann sie.

Emmy wußte gleich, was gemeint war. Sie legte die Arbeit auf den Nähtisch (den Schiller hatte sie selbst in den Feierstunden noch nicht wieder in die Hand genommen, obwohl in Papas Schrank ein Zwillingsbruder der zerweichten Gedichte stand) und sagte kummervoll: »Nicht wahr, was die Jungen anfassen, kommt ungeschickt heraus, er hat es gewiß gut gemeint, aber es ist nichts wie Unfug entstanden. Mike ist aus dem Schlaf gefahren und ist erschrocken, der Hauswirt hat gescholten, die grillige Rätin gegenüber hat ein boshaftes Kompliment sagen lassen: man wäre seinen Nachbarn gewisse Rücksichten schuldig. Dein Papa hat eine Rede gehalten, und nun bringt gar noch irgend eine böse Zunge in der Stadt auf: Mike sei eine Kokette. Die gute Mike!«

»O!« rief Anna, »das ist noch nicht alles, heute morgen hat sich die ganze Unterprima deshalb geprügelt. Irgend einer hat die Geschichte mit der Kokette zum besten gegeben, natürlich ist Hans Olfers aufgefahren wie eine Rakete, hat erklärt, er verbitte sich das, er werde Marie Hennings dereinst heiraten, und seine Frau lasse er nicht schimpfen. Darauf hin ist es losgegangen; Papa sagt nun auch schon, um Mike sei der Trojanische Krieg entbrannt. Ich bin schrecklich empört. Unsre lustige Mike, unser liebes, harmloses Schnepperchen mit der greulichen Helena zu vergleichen – sie ist nicht einmal ein bißchen schön.«

Emmy mußte über die letzte Bemerkung der erzürnten Anna lachen, wurde jedoch gleich wieder ernsthaft, faltete die Hände in den Schoß und seufzte: »Was man für Not mit Brüdern hat! Ich muß Hans eine große Predigt halten. Wenn er nur ordentlich zuhören wollte; aber er bildet sich so entsetzlich viel auf seine Unterprima ein und erklärt uns alle für Gänse und Gelbschnäbel.«

»Gib's ihm nur ordentlich, gib's ihm! Es bleibt schon was hängen, wenn du reichlich kommst; sage ihm, das ganze Montagskränzchen sei empört, verachte ihn, verbiete ihm, sich um irgend eins seiner Mitglieder im Guten oder Bösen zu kümmern; wir wären keine Helenas, also prügle man sich nicht unsertwegen; wir hielten überhaupt Unterprimaner für richtige dumme Jungen.«

»O Anna!« rief Emmy bis zu Tränen lachend. »Was denkst du eigentlich von Hans? Nein, so arg komme ich ihm nicht, da würde ich die ganze Sache ins falsche Gleis bringen und tüchtig anrennen. Weißt du was? Bringe die Geschichte in Verse; wenn du deinen Zorn mit Knütteln schlägst, mußt du lachen, und wir haben die tolle Geschichte dann bei den Akten.«

Anna war nur halb zufrieden, dichtete aber bereits auf dem Heimweg an dieser neuesten fatalen Geschichte, und war schon beim zehnten Vers, als der ahnungslose Hans in die Speisekammer trat, gewillt, seiner Schwester, ehe Papa zum Abendessen kam, die Heldentat des Morgens zu berichten und Ruhm und Ehre für seine Ritterlichkeit zu ernten.

Statt dessen begann Emmy, bevor sein Gutenabend ausgeklungen hatte, ihn mit Annas etwas ins Gemäßigte übersetzter Standrede zu begrüßen.

Er war vollständig verblüfft über diese verkehrte Auffassung, und erst als Emmy endete: »Siehst du, Hans, so seid ihr immer; roh und rauh faßt ihr zu und bringt die besten, harmlosesten Menschen durch eure Unüberlegtheit in ein schiefes Licht,« da endlich begriff er, was sie eigentlich wollte.

»So?« platzte er nun los. »Wir bringen die Menschen in ein schiefes Licht? Na, das ist ja recht nett! Und das findet das superkluge Fräulein Emmy, die sich angeblich immer alles so weislich überlegt? Ihr bringt die Sache in schiefes Licht! Mädchen und Frauenzimmer sind's, die immer was zu klatschen haben müssen, die herausfinden, daß Mike eine Kokette sein müsse, weil wir selbstverständlich die Lebensrettung gefeiert haben. Anstandshalber hätte sie die Medaille kriegen müssen! Daß aber die Geschichte ein Mädchen ausgedacht hat, das konnte ich mir gleich denken und Schönbach hat mir's auch gestanden, daß es von seiner Schwester komme. Schönbach ist ein anständiger Kerl, er hat keinen von uns geuzt, und den andern hab ich's gegeben, die werden Mike nicht wieder in den Mund nehmen, darauf kannst du dich verlassen, und treffe ich die Melanie mal, kann sie erleben, wie einer grob wird.«

»O Hans!« rief Emmy kummervoll, »du machst ja das Uebel immer ärger, redest schrecklichen Unsinn, sagst vor der ganzen Klasse, du würdest Mike heiraten, – du bist es doch, der Mike ins falsche Licht bringt, weil sie nun um dieser Rede willen glauben, daß sie deinetwegen zu mir komme.«

Hans wurde feuerrot. »Ich hab' dir's ja schon immer gesagt,« antwortete er trotzig, »es ist mein voller Ernst.«

»Dein Ernst?« klang hier plötzlich Doktor Olfers Stimme dazwischen. Fräulein Thildchen hatte mit Grauen das Gespräch der Geschwister von der Küche aus angehört und endlich den Helfer geholt.

»Dein Ernst? Hans, du bist noch ein gewaltig dummer Junge, aber für derartige Kinderstreiche doch schon viel zu alt. Ich bitte mir aus, daß du Mike Hennings weder im guten noch im bösen wieder in den Mund nimmst! Wenn dich die Mitschüler infolge deiner unüberlegten Rede necken, so hast du das geduldig hinzunehmen, ohne Rauferei. Ich dächte, du müßtest auch empfinden, daß wir Mike jede Rücksicht schulden.«

Hans biß sich auf die Lippe, noch röter werden konnte er nicht. Er hätte sich gern ein wenig verteidigt, doch wagte er nicht, dem verehrten Vater ins Wort zu fallen, und da Vater Olfers kurze Strafreden für die wirksamsten hielt, so wurden Ständchen, Trojanischer Krieg und Heiratsplan nicht weiter erörtert.

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»Ich hab' dir's ja schon immer gesagt,« antwortete Hans trotzig, »es ist mein voller Ernst.«

Zur selben Zeit etwa erzählte Klara der kranken Schwester, sie habe gehört, daß Professor Krause die Jungen, die schon Herren und Ritter sein wollten, gehörig abgekanzelt hätte; nun, das sei ihnen gesund, denn Mike sei ja beinahe lebensgefährlich erschrocken über den sogenannten Gesang.

Mike lächelte mitleidig: »Die armen Jungen! sie haben es gewiß gut gemeint, gerade so gut, wie Franzel mit dem Pferdchen.«

Hätte Hans gewußt, daß Mike die Huldigung des Männerbundes auf dieselbe Stufe stellte wie Franzens verachtetes Opfertier, so würde dies die bitterste der vielen unangenehmen Erfahrungen gewesen sein, die das Ständchen ihm eintrug.

*

Im folgenden Kränzchen teilte Emmy den beiden Freundinnen mit: Hans werde nichts »Dummes« weiter anstellen, ohne auf den Grund und die höhere Macht, die sich gerührt hatte, einzugehen. Dann berichteten sie den auswärtigen Mitgliedern feierlich Mikes Heldentat, und Anna machte einen sehr hübschen Vorschlag.

Sie wollten blaues Zeug kaufen, niedliche Kanten sticken, einen »zauberhaften« Schwimmanzug nähen und diesen Mike im Genesungskränzchen zur Erinnerung an ihren großen Sprung überreichen. Die Eltern würden das gewiß erlauben.

Sie hatten reichlich Zeit, ihren Plan auszuführen, der Anzug war längst fertig, ehe dies Genesungskränzchen gefeiert werden konnte.

Mike hatte sich eine tüchtige Grippe geholt, die heftig auftrat und nur schwer und langsam von ihr wich.

»Man kennt Mike gar nicht wieder,« klagte Klara, »sie ist so geduldig und sanft, sie spricht kaum, liegt still, ist zufrieden, wenn sie ungestört die Wand ansehen kann, und hat gar keine Augen, nur matte Flecke rechts und links von der Nase.«

Acht Tage lang bildete sich Emmy ein, Mike werde sterben und ergab sich im stillen der Verzweiflung. Mike, ihre geliebte Mike, sterben, um Franzels willen, auf den sie selbst nicht aufgepaßt hatte. Allnächtlich weinte sie sich in den Schlaf, und wenn sie morgens aufwachte, nahm sie sich vor, diesmal Papa ganz sicher aufs Gewissen zu fragen, wie es mit Mike stehe – im entscheidenden Augenblick fehlte ihr aber jedesmal der Mut.

Eines Nachmittags, als Klara sie mit dem Bescheid, Mike schlafe, gar nicht in das Stübchen gelassen hatte, glaubte sie, nun sei es ganz aus; sie lief so schnell sie konnte zum Vater und fragte ihn mit tränenerstickter Stimme: »Muß Mike sterben?«

Und erst, als der Vater ihr tröstlich lächelnd versicherte, Mikes Krankheit sei bei der guten Pflege, welche die kleine Tapfere genieße, völlig unbedenklich, faßte sie wieder frischen Lebensmut.

Die Reizbarkeit, die Hans so sehr in Verwunderung gesetzt hatte, verschwand wieder und mit leidenschaftlichem Eifer stickte sie an den Kränzchenskanten zum Schwimmanzug.

Mike war immer noch sanft und geduldig, es bedrückte sie, daß die Ihrigen so viel mit ihrer kleinen Person zu tun hatten, und das Gefühl, sie habe sich die Krankheit durch Unfug zugezogen und verdiene eigentlich gescholten zu werden, verließ sie nie völlig.

So kam zu der Körperschwäche noch das Bestreben, Mutter und Schwester recht wenig zu plagen; sie lag daher oft stundenlang still, ohne sich zu rühren, obwohl sie sich nach einem Schluck Wasser sehnte.

Da hätte sie nun sehr viel Kluges und Schönes denken können, sie sagte sich das auch und gab sich viel Mühe, aber merkwürdigerweise kam immer, wenn sie einen Gedanken recht schön beim Schopf gefaßt zu haben meinte, die wunderliche Welle, die ihr jetzt so oft über Kopf und Augen ging und spülte alles mit weg.

»Ich bin zu gar nichts nütze,« klagte sie dann, »nicht einmal etwas fertig denken kann ich – ob ich immer so hier liegen werde?« – und die Augen suchten alle Gegenstände des lieben Stübchens zu erfassen – aber die Welle kam und schloß sie zu einem unruhigen Halbschlaf.

Lange dauerte es so fort, dann kehrte, erst ein wenig, nach und nach jedoch immer mehr, von dem alten Lebens- und Uebermut zurück. Sie warf schon hie und da im Eifer wieder einmal ein Glas oder eine Tasse vom Betttisch herunter und Emmy durfte jetzt vorlesen, anstatt stumm und ängstlich im Winkel auf die Atemzüge der Kranken zu lauschen.

Als Mike nach fünf Wochen zum erstenmal am offenen Fenster gesessen hatte, ohne üble Folgen zu spüren, ließ Doktor Olfers einen Wagen anspannen, Fräulein Mathilde und Emmy fuhren reich beladen mit guten Ermahnungen bei Hennings vor und holten die Schwestern zur ersten Ausfahrt ab.

Mutter und Geschwister schauten zum Fenster heraus, um den großen Anblick gründlich zu genießen, wie Mike neben Fräulein Mathilde auf dem Vordersitz Platz nahm und, einer Prinzessin gleich, hinaus in die Welt fuhr.

Mike war sehr vergnügt, aber die alte Mike war sie doch noch nicht wieder – ein klein wenig von der schwankenden Welle war immer noch zurückgeblieben und fast empfand die wilde Hummel, der jedes Stillsitzen ein Greuel war, ein leises Bedauern darüber, daß das Zubettliegen und das »Garnichtsdenken« nun ein Ende erreicht habe.

Daran hätte Mike nun wohl merken können, daß sie noch nicht wieder, wie sie glaubte, völlig genesen sei, denn alsdann mußte sich mit dem alten Kraftgefühl auch die alte tatfrohe Mike wiederfinden.

Trotzdem sie am folgenden Morgen die müden Glieder kaum regen konnte, stand sie mit mutiger Selbstüberwindung um sechs Uhr auf und übernahm die alten Morgenpflichten am Herd und am Kaffeetisch; als aber Doktor Olfers um zehn Uhr herüberkam, um zu hören, wie ihr die Spazierfahrt bekommen sei, saß sie blaß auf dem Kinderschemel, den Kopf gegen die Wand gelehnt, schwindlig, als müsse jedes Glied einzeln gestützt werden.

»Mike, Kind, wie können Sie so unternehmend sein!«

Mike errötete: »Wenn ich spazieren fahren kann, muß ich doch auch arbeiten,« sagte sie kleinlaut, »ich bin es nur noch nicht wieder gewöhnt, deshalb macht es mich so faul.«

Doktor Olfers schüttelte halb lachend, halb ärgerlich den Kopf. »Mike, das Spazierenfahren ist ein Stück Kur und mit dem Arbeiten fängt man nach so langer Pause hübsch mäßig wieder an. Jetzt legen Sie sich auf Ihr Bett und schlafen Sie eine Stunde.«

Mike gehorchte kleinlaut und Doktor Olfers hatte indessen eine lange geheime Unterredung mit der Mutter.

Infolge dieser Unterredung wurden in den nächsten Tagen Mike all die kleinen Geschäfte, die sie wieder ergreifen wollte, von andern weggearbeitet, Lise und Klara wetteiferten, sogar Line hatte sich Papas Pantoffelordnung angeeignet. Acht Tage nach der Spazierfahrt erklärte Doktor Olfers Mike für so weit genesen, daß ein Ausgehen nicht mehr tadelnswert scheine, verbot jedoch noch immer Anstrengung und alle Sticheleien.

Klara mußte die Erbschaft der Schneiderstunde antreten.

Ueber diesen Verlust hätte Mike vor Freuden einen Luftsprung getan, wenn es die Kräfte erlaubt hätten, sie drückte also nur unwillkürlich dem verständnisvollen Doktor die Hand, während die Mama ihr wehmütig über das schmale, blasse Gesichtchen strich, das vor sechs Wochen so braun und fest in die Welt gelacht hatte.

 


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