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Dreizehntes Kapitel. Allerlei Aufregung.

»Ich weiß nicht, was ich mache,« sagte Mohrchen am andern Morgen, während er nachdenklich auf dem Fensterbrett in Edus Schlafzimmer saß. »Ich werde doch wohl nach Hause reisen müssen.«

Edu lag noch in den Federn, er genoß die Ferien zunächst in dieser Richtung; jetzt aber war er mit einem Ruck heraus, stellte sich pathetisch vor Mohrchen hin, reckte den Arm drohend empor und rief mit fürchterlicher Stimme: »Du willst vor Anna Krause kneifen? – Feigling!«

Mohrchen seufzte, wühlte sich die Rechte tief in die Strubbelhaare und seufzte noch einmal: »Auch noch der Verdacht!«

»Was soll denn das heißen?« fragte Edu kleinlaut, als seinem Pathos keine Antwort wurde.

»Heißen?« fiel nun Mohrchen mit Wucht ein. »Daß es keine Treu und keinen Glauben mehr auf der Erde gibt, daß Gold die Welt regiert, und schnöde Philösen den solidesten Schulfuchs an die Luft setzen, wenn der Mammon winkt. Hätten wir das je von unsrer sanftsäuselnden Hebe gedacht, wenn sie uns des Abends so gern das tugendhafte Braunbier auf die Bundeslade brachte? Gewinnsüchtig ist sie, sie hat mir heute früh erklärt, in den Ferien könne ich nicht bleiben, da sei sie gewöhnt, mein Zimmer an Kurfremde zu vermieten und selbst, wenn ich ihr denselben Preis – einen wahnsinnigen Preis, sage ich dir! – zahlen wolle, behielte sie mich nicht, denn die Kurfremden ließen auch sonst für Kaffee und Wäsche nett sitzen und seien keine armen Schlucker, die den Pfennig zehnmal umdrehten. Siehst du, da hat mich der Zorn gepackt, ich sagte: ›na dann hadje, aber für immer!‹ packte meine Schätze und ging ab. Nun stehen zwei Kisten vor ihrer Tür. Und das heimatlose Mohrchen steht hier.«

Edu war während dieser langen Erklärung wieder aufs Bett gesunken, jetzt setzte er sich auf die Kante und sprach ingrimmig: »Dagegen ist ja meine Hauswirtin der reine Paradiesvogel! Denn weißt du, Mohrchen, wenn du nicht so erregt wärst, hättest du meinen Zustand längst ergründet.«

»Sieh dich um – ein Trümmerfeld
Ist Eduardos schöne Welt.«

Trümmerfeld stimmte beinahe; ein zerbrochenes Seifennäpfchen und einige halslose Bierflaschen waren das Auffälligste in dem umzugsmäßigen Durcheinander von Kleidern, Büchern, Kommodenkästen und Schreibgerät, das Tische und Dielen deckte.

»Siehst du,« sagte Edu, während Mohrchens Augen Umschau hielten, »das nennt man Ferienfreude. Meine Wirtin hielt mir gestern abend eine ähnliche Rede, wie die deine, nur mit dem Unterschied, daß ich nach langem Hin- und Herdebattieren meinen Schlafkasten behalten durfte; den Tisch dort am Fenster und jenes Bücherbrett aus einem Bodenwinkel hat sie mir noch in Huld und Gnaden belassen, dann ihre sämtlichen überzähligen Besitztümer hier hereingestopft, und ich darf nun Ordnung machen. Drüben scheuert sie; wenn ich lange genug liegen bleibe, kann ich noch beim Morgenspaziergang den Zettel unten hängen sehen: ›Zu vermieten: reizendstes Zimmer von Amsel.‹«

»Und ich hatte mich auf dein Sofa als vorläufigen Ruhepunkt verlassen,« bekannte Mohrchen wehmütig.

»Natürlich; wäre auch gegangen! aber weißt du was? Jetzt werd' ich mich mal schön machen, und dann gehen wir zu Ferry; dieses jungen Mannes Sofa ist zwar etwas härter, aber –«

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»Hurra, Hurra, 's ist Ferienzeit!« rief Ferry den beiden Freunden entgegen.

»Wenn nur –«

»Nein, unser deutscher Dichter wohnt zu weit draußen in der Idylle; die Sorte von Kurfremden, die dort hinauszöge, könnten wir überbieten.«

Edu war ausnahmsweise schnell mit Ankleiden fertig; nach wenig Minuten eilten die Leidensgefährten nach der Vorstadt. Sie hatten das Ziel noch nicht ganz erreicht, als Ferry ihnen hutschwenkend entgegenkam.

»Hurra, Hurra, 's ist Ferienzeit!« – rief er ihnen entgegen.

»Wir aber tragen großes Leid,« antworteten die andern.

Ferry stutzte, sah die beiden prüfend an, um zu ergründen, ob das Ernst oder Ulk sei, und sagte endlich: »Schmerzt mich – ich bin selig – Ferien, um nun mal hier so recht durch Berg und Tal streifen zu können, statt in unsrer alten Sandbüchse herumzukeuchen, das hab' ich mir schon längst gewünscht. Und dazu das Häusliche! Ich sage euch, ich sage euch – jetzt weiß ich erst, wie's einem deutschen Dichter zu Mute ist; weiß, wie sich die Welt von der Dachkammer ausnimmt! – Ideal, bedürfnislos – Nachbar des Himmels!«

»Dachkammer?« rief Mohrchen ahnungsvoll, und Edu fügte hinzu: »Da haben wir den Salat!«

Nach kurzem Hin- und Herreden war alles klar. Ferry, der deutsche Dichter, hatte völlig vergessen, seiner Wirtin mitzuteilen, daß er diese Ferien in Amsel zu verbringen gedenke. Auch sie war am gestrigen Abend erschienen und hatte nach längerer Verlegenheitsunterhaltung angefragt, ob er denn noch nicht reise – morgen mittag käme ihr Fremder. Ferrys Zimmer war schriftlich an einen alljährlich wiederkehrenden Lehrer vermietet.

Nach dem ersten Schrecken und Bedauern hatte sie sich indessen tatkräftig gezeigt und Ferry eine Dachkammer eingerichtet; das Bett war allerdings nur eine auf der Erde liegende Strohmatratze, aber die Dachziegel waren ordentlich mit Holz verschalt; das Fenster ging zu öffnen, und vor ihm regten sich die Zweige eines alten, prächtigen Eichbaums. Die begutachtenden Freunde gaben zu, daß der Raum für Sommerzeiten und Dichtergefühle ganz fein sei, nur leider gab's auch hier weder Platz noch Lager für das heimatlose Mohrchen. War doch nur ein Stuhl vorhanden, auf dem der Verzweifelnde zusammenbrechen konnte – Edu und Ferry ließen sich mit langgestreckten Beinen auf die Matratze nieder.

»Ach, du armes Unglückshuhn,« rief Ferry, sofort wieder emporschnellend, als Birkhahn ihm jetzt endlich berichtete, weshalb sie in Wahrheit großes Leid trügen. »Das ist ja ein schändliches Weib, und ein Trauerspielschicksal. – Aber sei nur ruhig,« fuhr er nach kurzem Besinnen fort, »wir lassen dich nicht im Stich. Heute nehme ich dich mit in mein schwellendes Daunenbett, morgen ruhst du an Edus warmem Herzen, wechselsweise werden wir's schon aushalten, und deine Kisten stopfen wir auch hier irgendwo unter; eine kann, mit diesem Plaid behangen, als Ruhesitz dienen, die andre vor der Tür stehen für die vielen Leute, die wir antichambrieren lassen.«

Ferrys Vorschlag wurde, da es keinen andern gab, angenommen; nachdem die beiden Nüchternen noch seine Semmelreste vertilgt hatten, machten sich alle drei auf, Hans Olfers abzuholen. Besser als mit einem Spaziergang ließ sich der Ferienvormittag unbedingt nicht hinbringen.

Als sie durch die Gartenstraße schritten, trafen sie Emmy und Mela, die eilenden Schrittes hinter Hennings großem Torweg verschwanden.

Dort hatte es von früh an ein geschäftiges Lüften, Putzen, Fegen und Schmücken gegeben. Als Mike am Montagabend aus dem Kranz kam, fand sie eine Karte vor, die meldete, daß der Papa mit Doktor Olfers zusammen Dienstag um sechs eintreffen werde, und strahlender Freude voll empfing sie jetzt die Freundinnen mit der frohen Botschaft.

»Da stören wir dich?«

Nein, es war alles fertig, und bald saßen die drei in einem Winkel und beredeten sich sehr eifrig.

Mela und Emmy hatten nichts aus den Brüdern herausgelistet, nur gab ihnen Hansens Rede: »Der Bund verrät keinen Genossen,« die Gewißheit, daß wirklich ein Bündler die Untat begangen habe. Auch erzählte Max jetzt ohne Zögern der Schwester, wie sie zu den Versen gekommen seien und daß Lili den Kranz verschwätzt habe: und ob es die drei in Hennings Wohnzimmereckchen auch zunächst nicht glauben wollten, alle Zeichen sprachen gegen das Vergißmeinnicht.

Emmy sah ungewöhnlich streng aus und verlangte: »Ausgestoßen muß sie werden!«

»O Emmy!« – Mike sah erschrocken aus die sanfte Freundin. »Denke doch an Anna, wie sie das kränken müßte; Lili stand ihr doch immer am nächsten.«

»Gerade das macht es so schlimm, daß sie Anna verraten konnte, auf die doch jeder gleich als Dichterin schließt!«

»Und dann nichts zu erzählen, nachdem alles heraus war! Sie ist ordentlich verschlagen!« rief Mela.

»Ach nein, das hat sie sich dann nicht getraut, wißt ihr, wir wären doch auch alle auf sie losgefahren, wie die Elstern – und heute kommt Papa, da bin ich so froh, aber wenn ihr ein Kränzchenunglück anrichtet, dann verderbt ihr mir die ganze Freude.«

Mela widersprach Mike Hennings nicht gern, dankte sie doch deren Neigung zu friedlichem Vergeben sämtliche Kränzchen- und Tanzstundenfreuden; sie schlug sich also auf die milde Seite. Emmy war schwerer zu besänftigen, aber Mike gelang endlich auch das.

Sie beschlossen, daß Emmy mit Lili reden solle. – »Eindringlich,« mahnte Mela, »wie ein Bußprediger; denn arg bleibt arg.«

»Ja, aber nicht zu streng, Mi, weißt du, denn Lili ist wie ein Wachspüppchen. – Und Anna wollen wir gar nichts sagen, nicht wahr! Sie hat schon so viel Aerger von der Tanzstunde, von der wir andern so gräßlich viel Spaß haben; wenn sie nichts davon weiß, ist's beinahe so gut, als hätte es Lili nicht getan. Aber Wiedererzählen tut immer weh. Und mit dem Bazar hat Lili auch schon so viel Kummer.«

»Weil sie töricht ist und reich sein möchte,« sagte Emmy streng.

Mela meinte, das begreife sie schon, zumal Lili es doch früher gewesen sei. Mike nickte eifrig dazu.

»Ja, seht ihr, da ist's schon besser, wenn man von Anfang an ein armes Hascherl war; man bildet sich dann nichts ein, man wird ein Realist und hängt sich Illusionen nur alle Jahr einmal an den Weihnachtsbaum.«

»O Mike! Du ein Realist.«

»Jawohl, ich bin sehr nüchtern,« sprach Mike würdevoll; »ich weiß, daß der Tugendbund nur mit mir tanzt wegen der vorjährigen Hochachtung, nicht wegen Anmut und körperlichen Vorzügen; ich weiß, daß ich keinen Mann kriege, sondern mich einmal selbst durch die Welt bringen muß, als Wasch- oder Kochfrau; ich weiß, daß ich zum Bazar keinen großartigen Eindruck als spendeüppiger Wohltäter hinterlasse, sondern daß die Leute sagen werden: ›Na ja, Mike der Trollgast!‹ Aber das Leben ist doch schön.«

Emmy hatte plötzlich das Gefühl, als müsse sie sich ihrer Strenge schämen, sprang auf, gab ihrem Zwilling einen Kuß und rief: »Ich muß zu Lili, lebt wohl, lebt wohl!«

Anna Krause, der die Freundinnen den Schmerz über Lili ersparen wollten, war auf sich selber böse. Warum hatte sie das beinahe Verwundene dem Kränzchen erzählt? Sie wußte ja doch ganz genau, daß kein Tugendbündler den andern verraten würde, und sich selbst hatte sie den bittern Aerger wieder aufgewühlt. Ach, mit einem lieben geliebten Menschen einmal recht ernst und eindringlich über alle Tanzstundenschmerzen reden, das mußte gut tun. Aber nicht mit Mutterchen – die würde sie dann wieder so traurig ernsthaft ansehen, das war gar nicht zu ertragen, auch mit keiner Tanzstundengenossin, die am Ende gar von freundschaftlichem Mitleid überlief, aber mit Hilde, der Allerliebsten, Besten, die einen immer auf etwas Helles, Gutes, Hübsches brachte und einem, ohne daß man's merkte, alle dummen Gedanken vertrieb, die war das einzig Richtige diesen Morgen.

Anna erwirkte sich Urlaub und eilte zu Hilden. Als sie da aber eintrat, saß wiederum das Urbild der Ingeborg im Fenster. Nur hatte Hilde beim Klopfen schon die Staffelei zur Seite gerückt, und Iduna saß nicht gleichgültig da, sondern errötete bei Annas Anblick bis zu den blonden Haaren hinauf, tief und nachhaltig.

Anna stand stumm und stutzig an der Tür. Weshalb errötete Iduna Schmieding bei ihrem Anblick? Das war verdächtig.

Hildes freundlicher Willkomm nötigte sie, neben Iduna Platz zu nehmen, auch konnte das aufmerksamste Mißtrauen heute nicht auf den Argwohn geraten, als komme Anna den beiden ungelegen. Iduna beteiligte sich mit weit mehr freundlichem Anteil an dem Gespräch, als Anna das je von ihr erlebt hatte; ja sie war Anna gegenüber so sichtlich voll Interesse, daß die, wiederum geplagt von einem Mißtrauen, über das sie doch selbst ärgerlich ward, sich fragte: Was will sie nur von dir?

Ich bin ein greuliches Geschöpf, dachte sie schließlich und gab sich Mühe, auch freundlich zu sein. Aber nur kurze Zeit. Als das Gespräch in gutem Gleis war, stand Hilde auf, zog einen Kasten ihres emporgeklappten Pultes vor, entnahm ihm einen Brief und drückte ihn Anna lächelnd in die Hand.

Anna sah den Brief an, wurde dunkelrot, schob ihn hastig in die Tasche, stammelte »danke« und schwieg dann andauernd.

Nun wußte sie, warum Iduna errötet war – schlechtes Gewissen wird rot, den Brief in Hildes Pult hatte sie heimlich gelesen und die Verse verschwätzt, und nun schämte sie sich wenigstens ihrer gewöhnlichen Handlungsweise.

Anna saß noch ein paar Minuten stumm da, antwortete auf jegliche Frage kurz und stoßweis und stand dann plötzlich aus. Iduna bekam eine schiefe Verbeugung, die mehr dem Ofen an der gegenüberliegenden Wand zu gelten schien; Hilde fühlte ihre Hand leidenschaftlich gedrückt, dann war Anna draußen.

»Welch wunderliches unbeholfenes Mädchen,« sagte Iduna nachdenklich. »Wenn ich sie nicht aus der Spielschule kennte, wo sie alle andern Helferinnen übertrifft, und – und auch sonst viel Gutes von ihr hörte –, müßte ich sie für einen rechten Murrkopf halten.«

Hilde schob die Staffelei wieder heran, auf der das beinahe fertige Porträt Idunas stand, schüttelte den Kopf und sagte: »Anna hat eben jetzt allerlei durchzukämpfen. Die Erkenntnis, daß es an Schönheit fehlt, ist nie ganz leicht, zumal, wenn man vorher unbeschränkte Herrscherin gewesen ist und nun plötzlich merkt, daß das Scepter nur über einen sehr kleinen Kreis gebietet.«

Iduna seufzte. »Ich möchte, sie schlösse sich an mich an – unsrer gemeinsamen Arbeit wäre das gut, aber ich werbe ganz umsonst.«

Inzwischen eilte Anna mit Dragonerschritten durch die Anlagen und dachte: Sie soll nur nicht glauben, daß mich so ein paar sanfte Blicke und freundliche Reden blind machen; ich werde ihr tüchtig aufpassen und sie entlarven.

 


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