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Einundzwanzigstes Kapitel. Die Bescherung.

Weihnachten kam mit Windesschnelle heran. Die »Hetz«, von der die Kränzlerinnen gefürchtet hatten, sie könne einmal ausbleiben, beunruhigte pflichtmäßig jeden Haushalt.

Anna putzte mit Hilfe des Bruders, der sich »schmachvoll« anstellte, den Riesenbaum, den Papa, wie alle Jahre, selbst und allein eingekauft hatte; dafür war es aber auch das einzige, was er überhaupt besorgte.

Doktor Olfers brauchte Emmy heute den ganzen Tag, denn er kaufte immer alles erst am vierundzwanzigsten und Emmy mußte dabei sein, während Fräulein Mathilde einen roten Kopf hatte vom Hin- und Herlaufen aus dem Eßzimmer (wo sie aufbaute) nach dem Wohnzimmer, in dem sich die großen Jungen den Spaß machten, Franz zu necken.

»Du kriegst heute überhaupt nichts,« versicherte Hans mit ernsthaftem Gesicht. »Das ist eine bekannte Geschichte: wer im Laufe des Jahres mal im Wasser gelegen hat, der bekommt nichts zu Weihnachten, so ist's in der ganzen Welt und auch bei Olfers.«

»Nein,« sagte Franz weinerlich, »ich krieg' schon was, ich hab' ein Pferd gesehen, es steht in der Speisekammer.«

»So, ein Pferd? In der Speisekammer?« ließ sich Karl vernehmen. »Das wird wohl Tante Mikes gewesen sein, was sich mal wieder hat satt fressen wollen, weil die es hungern läßt und immer haut.«

»Das ist nicht wahr,« heulte Franz, »Tante Mike haut das Pferd nicht, es steht im Glasschrank.«

Karls Hohngelächter und Franzens Geheul riefen Fräulein Mathilde wieder einmal nach dem Wohnzimmer; sie steckte den roten Kopf herein und versicherte Karl in aller Eile, es gäbe nichts Verächtlicheres, als wenn große Jungen die Kleinen neckten, besonders zu Weihnachten, denn wozu stünde sonst in der Bibel: »Und Friede auf Erden.« Dann stachelte sie Franzens Ehrgefühl auf mit der Bemerkung, heulende Jungen seien ein Greuel; wenn er Karl auslache wie ein Mann, so werde der die Lust am Necken verlieren! darauf lief sie wieder hinaus, denn es krachte bedenklich drüben, was seinen Grund in dem sprichwörtlich gewordenen Ungeschick des Stubenmädchens hatte; zwei Tassen lagen am Boden, von der blauen war nur der Kopf, von der roten nur der Teller zerbrochen. Leider tröstete das niemand und Karl wurde, wenigstens in Fräulein Mathildes Herzen, zum Urheber des Unfalls gestempelt.

Da Karl nichts von diesem inwendigen Donnerwetter vernahm, klopfte er Franz versöhnlich auf die Schulter und sagte: »Na, kleiner Mann, heule nicht! Ich werde es dem Weihnachtsengel sagen, daß du nur hast ein Bad nehmen wollen, dann drückt er jedenfalls ein Auge zu und mit dem hungrigen Pferd das war nur ein Spaß. Mike gibt ihm alle Tage für zehn Pfennige Schokoladeplätzchen. Verstehst du?«

»Ja,« erklärte Franz und nahm sich vor, künftig solch albernen Späßen gegenüber ein Mann zu sein. Fräulein Mathilde sollte ihn nicht wieder »uzen«, wenn sie zehnmal lang und groß und alt und weise war, ein Mann war sie noch lange nicht; Karl hatte letzthin zu Emmy gesagt: »Ein Mann wäre sechsundzwanzigmal so viel wert wie ein dummes Mädchen.« Das hatte Karl gesagt und Franz hatte sich's gemerkt, er wußte nun ganz genau, was er wert war.

Während Fräulein Mathilde Karl zur Tugend und Franz zur Mannhaftigkeit erzog, wanderte Rose Flinsch in Ferienstimmung von Blume zu Blume. Zuerst war sie beim »Alterspräsidenten« gewesen, hatte dort drei Stücke an den Baum gebunden und Kurt geneckt; da er aber nicht hinauszuärgern war, sondern flott Vergeltung übte, so ging sie bald wieder und landete nun bei Mike, denn sie hatte etwas auf dem Herzen.

Natürlich »brannte« es bei Hennings auch in allen Ecken. Mama herrschte im Aufbauzimmer, Klara schaffte in der Küche und Mike sollte die Geschwister bei Geduld und Artigkeit erhalten, nebenbei aber auch noch tausenderlei Handreichungen nach allen Seiten tun.

Nun saß Rose zwischen blank zu reibenden Gläsern, schwatzenden Kindern, anzufädelnden Glasketten, die im letzten Augenblick zerrissen waren, aber sie erklärte, das sei reizend, hier gefalle es ihr gerade, denn nun merke sie doch, daß Weihnachten sei. So wartete sie geduldig auf den günstigen Augenblick, um ihre Sorgen los zu werden.

Line und Lise hielten eine feierliche Prüfung ihres Puppenvorrats ab. Mikes Rat, für etwaige neue Sachen durch Aufräumen Platz zu schaffen, beschäftigte sie vollkommen. Fredi wurde als »Dienstmann« benutzt, wenn es etwas hin und her zu tragen gab, ein Posten, der dem kleinen Jungen sehr zusagte, besonders da ihm Mike eine alte Marke an die Jacke gesteckt hatte, die nun für seine Nummer galt und seine Wichtigkeit erhöhte. Jedesmal wurde dieselbe von den Auftrag erteilenden Mädchen geprüft, um sich seiner Echtheit zu versichern.

»Er geht nicht durch, er hat eine Nummer,« sagten sie. Nein er ging nicht durch, er war bei der Sache, und Rose und Mike konnten plaudern.

Bald kam denn auch zu Tage, was Rose bewegte, seit sie gestern abend bei Melanie Schönbach gewesen war. »Du, sag einmal, habt ihr euch sehr gezankt?«

Mike wurde ein wenig rot. »Ich glaube nicht, Rose. Ich weiß es nicht ganz genau. Es ging so – husch husch! Ich hätte nie daran gedacht, daß da jemand weglaufen könnte, ich wollte sie wieder holen im ersten Augenblick; aber die andern meinten, das gehe nicht, denn Mela sei im Unrecht. So viel weiß ich – ich wäre nicht weggelaufen; viel weniger noch würde ich weggeblieben sein.«

»Natürlich du!« pflichtete Rose bei, »das ist ja das Unglück, daß Mela immer einen Knicks besonders gemacht kriegen will; aber sie ist nun einmal so und sonst doch ein gutes Mädel; ich glaube auch, es tut ihr schon lange leid, und sie käme sehr gern wieder. – Hättest du etwas dagegen?«

»Ich? – Bewahre, ich habe gar nichts gegen sie, ich hatte überhaupt gar nie etwas gegen sie, sie war nur so eigensinnig. Die Statuten müssen doch gehalten werden, nicht? Dazu haben wir sie gemacht, und die Russin war ein ... eine Abenteurerin, die Mela nur an der Nase herumführte, sich bei Schönbachs satt aß und sich von ihnen mitnehmen ließ, denn nachher sind sie mit einemmal fort. Ueberall hatten sie Schulden dagelassen, und jemand sagte, Herr Schönbach habe ihnen das Reisegeld geschenkt, damit er sie nur los werde. Die hätte ja den ganzen Kranz blamiert.«

»O weh! – aber du darfst Mela ja nicht damit aufziehen!«

Mike schüttelte heftig den Kopf. »Wie kannst du nur so was denken!« sagte sie. »So mach' ich's doch nicht, wenn ich auch noch so sehr Schnepperchen bin, und wahrscheinlich Schnepperchen bleiben werde, solange ich die Zunge rühren kann.«

»Nein, ich weiß, du bist eigentlich ein famoser Kerl,« sagte Rose und gab Mike einen Kuß, »und ich denke, nun werden wir noch alle wieder einig. Mela wird sich schon überwinden, sauer wird's ihr natürlich, zumal wenn's mit der Russin so schief gegangen ist – aber da kommt dein Papa nach Hause. Adieu! Adieu! Auf Montag – laß dir recht viel bescheren!«

Recht viel, in Rose Flinschs Sinne, bekam Mike freilich nicht beschert. Ihrem unverwöhnten Herzen erschien es jedoch sehr viel, und der Abend verging ihr im vollen Weihnachtsschimmer.

In der Dämmerstunde war sie auf zwei Minuten zu den Fischerkindern gelaufen und hatte jedem einen großen runden Pfefferkuchen gebracht; die hatte Mama ihr heimlich zugesteckt.

Als die Kinder traurig waren über ihr schnelles Fortgehen, tröstete sie sie freundlich: »Wartet nur, wartet nur, morgen früh kommt das Christkind.«

»Kommt es wirklich?« fragte Wilhelm und sah mit seinen großen Augen forschend zu Mike auf. »Mutter sagt, zu uns käme es nicht.«

»Gewiß kommt es,« tröstete Mike. »Wenn du artig bist, geht es nicht vorüber; es kommt zu allen artigen Kindern, zu den unartigen sogar manchmal, wenn es merkt, daß sie sich ganz bestimmt bessern wollen. Mutter weiß es nur nicht, weil das Christkind auch sie überraschen will.«

Diese Verheißung beschäftigte die drei Kinder während des langen Abends, an dem die Mutter sie allein lassen mußte, denn sie war als Aufwäscherin fürs Geschirr drüben im Gasthof gemietet, wo's lustig herging. Sie kam nur einmal herübergelaufen und brachte den Kleinen eine warme Suppe, die hatte die Wirtin ihr gegeben, damit auch sie merken sollte, daß Weihnachten sei.

Aber die Kinder hatten ihre Hoffnung bereits auf morgen gerichtet, und als sie zusammen in dem harten Bett lagen, dessen Decke nirgends recht langen wollte, während wunderliche Schatten und Lichtpünktchen an der Wand spielten, vom Tannenbaum gegenüber und dem verglimmenden Herdfeuer, sagten sie sich Tante Mikes Vers auf und sangen dann ganz leise Tante Mikes Weihnachtslied: »Stille Nacht, heilige Nacht.« Das arme Christkind hatte ja nur eine Krippe zur Nacht gehabt, die war gewiß noch viel härter gewesen, als das Bett, in dem sie lagen, das liebe, gute Christkind wußte, wie's einem armen Schluckerchen zu Mute ist: Tante Mike hatte recht. Wenn Mutter sonst noch so klug war, das wußte jene besser, das Christkind ging nicht vorüber.

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Nun mußten die Kinder singen. Wilhelm stellte sich stolz mitten vor die Freundinnen, Ernst war etwas schüchtern dabei.

Natürlich ging es nicht vorüber, Mike hatte gut prophezeien können – am andern Morgen schickte es seine Boten: vier freundliche, glückliche, junge Mädchengestalten; die brachten einen Tannenbaum voller Aepfel, Nüsse und Pfefferkuchen, brachten einen Stollen, der so süß duftete, daß Ida, der kleine Leckermund, immer mit dem Näschen nach ihm hinschnubberte, ferner warme Strümpfe und Pulswärmer für alle, dem Schwesterchen Kleid und Puppe und Wilhelm ein niedliches Spieltier (es war Franzens abgesetztes Kaninchen, das Emmy »auf neu« gewaschen und mit ihrer himmelblauen Reiseschleife geschmückt hatte). Dem Großen brachte es ein Bilderbuch mit Geschichten, wirklichen, richtigen Geschichten, die er den staunenden Geschwistern würde vorlesen können, wenn einmal keine Erzählerin da war.

Die Mutter stand mit großen Augen, halb scheu, halb froh am Herd, wo sie eben das spärliche Feuer angeschürt hatte. Erst als Anna Krause zu ihr trat und ihr sagte, wie dankbar alle vier an die Hilfe zurückdächten, die Frau Kirst ihnen damals geleistet habe, als Mike und Franz aus dem Wasser gekommen seien, trat sie näher. Unbehilflich streckte sie die Hand nach Mike aus, und ließ sie gleich wieder voll Verlegenheit sinken.

»Ach ja – Sie sind's,« sagte sie, »ich wußte doch gar nicht, von wem die Kinder immer schwatzten und wer ihnen die Verse beibrachte, und das vom Christkind. Sie springen wohl immer zu, wo Sie's nichts angeht, das ist hübsch von Ihnen.«

Die Mädchen lachten herzlich. »Schnepperchen, siehst du, du bist erkannt!« Und Anna fügte hinzu: »Ja, so ist's und Frau Kirst hat recht, eigentlich ist es hübsch von dir, wenn auch dieses Mal auf etwas ungeraden Wegen.«

Nun mußten die Kinder singen. Wilhelm stellte sich stolz mitten vor die Freundinnen, Ernst war etwas schüchtern dabei. Aber selbst Ida sagte gutwillig einen Vers auf:

»Du lieber, guter, heiliger Christ,
Der für uns Kinder kommen bist,
Kehr hier bei uns im Stübchen ein,
Ich will auch immer artig sein.«

Die Mutter betrachtete unterdessen Stück für Stück der praktischen Dinge, die das kleine Kleeblatt erhielt. Im Grunde des Korbes hatte Fräulein Mathilde, »die es nicht nur mit Baumgenäsch« hielt, ein tüchtiges Stück Fleisch und Zugemüse gelegt, – das gefiel der Frau besonders gut.

Sie wäre die Gäste jetzt am liebsten los gewesen, um sich ihrer Sachen recht ordentlich freuen zu können und dieses Mal war es Emmys Herzenstakt, der plötzlich den verlegenen Blick der Armen verstand.

»Nun wollen wir gehen,« sagte sie schnell, »so frühe Gäste stören die Wirtschaft und Frau Kirst muß gewiß Milch holen für Ida.«

Die Frau nickte ehrlich dazu, die Kinder nahmen freundlich dankend, aber ungerührt Abschied, die Geschenke blieben ja da, und nur Wilhelm sagte vertraulich herablassend zu Mike: »Du, komm bald wieder!«

Draußen standen die vier im frischen Morgenwind auf knarrendem Schnee und sahen sich mit leuchtenden Augen an, plötzlich faßten sie sich an den Händen und liefen im Sturmschritt die einsame, feiertagsstille Gasse entlang.

Am Eingang in die Promenade hielten sie inne, sahen sich wieder an, lachten vergnügt auf und Mike, deren Züngelchen seinen Ruf doch nicht verlieren durfte, rief aus: »Das war famos! Ich habe noch nie einen solchen Weihnachtstag erlebt!«

 


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