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Der sittliche Mut

(1917)

Im Rolandslied, das zwar in altfranzösischer Sprache, aber von einem Germanen gedichtet ist und einen uns Deutschen ganz verwandten Geist atmet, kommt gegen den Schluß eine sehr merkwürdige Stelle vor. Wir haben von den größten Heldentaten in Ausdauer, Kühnheit und Todesverachtung gehört. Nun war Roland durch den Verräter Ganelon den Sarazenen ausgeliefert. Nach dem alten germanischen Recht kann der Kaiser nicht über Ganelon das Urteil sprechen, sondern es wird ein Gerichtshof von zwölf vornehmen Herren einberufen.

Diese wissen den schändlichen Verrat, dem Roland, die anderen Pairs und zwanzigtausend der besten Ritter zum Opfer gefallen sind. Aber die Männer, welche in der Schlacht dem Tod ohne Wimperzucken in die Augen sehen, haben hier plötzlich Angst. Sie verurteilen den Verräter nicht zum Tode, sondern erklären, für dieses Mal wollen sie ihn freilassen, und er werde ja wohl eine solche Tat nicht wieder begehen. So würde der schändliche Mensch frei ausgehen und hätte Gelegenheit zu einer neuen Abscheulichkeit, wenn nicht ein Ritter aufträte, der, gleichfalls nach altem germanischem Recht, ihm seinen Verrat vorwirft und ihn zum gerichtlichen Zweikampf herausfordert. Dieser Ritter ist von Gestalt gar nicht ansehnlich und hat sich in der Schlacht noch gar nicht bemerkbar gemacht. In dem Zweikampf wird Ganelon dann besiegt, und so wird die Tat denn doch bestraft.

Unsere alte deutsche Dichtung war bei einer sehr tiefen Welt- und Menschenkenntnis »idealistisch«, wie man das heute nennen wurde; das heißt, sie war echte Dichtung, welche die wirkliche Natur nachbildet; aber sie tat das immer in der höchsten Gesinnung, dabei muß sie denn von selber dahin kommen, daß sie nicht die zufällige, sondern die urbildliche Natur nachbildet, nicht den Eindruck, sondern das Gefüge von Welt und Mensch.

So ist auch der Vorgang von Ganelons Anklage von tiefer und erschütternder Wahrheit: von einer Wahrheit, die nicht zeitlich ist, sondern ewig, weil sie ewige Richtungen und Ziele des Menschenherzens ausdrückt. Die Wahrheit geht so bis ins Einzelne, daß sogar erzählt wird, wie der Mann mit dem sittlichen Mut sich nicht durch besondere Körpereigenschaflen auszeichnet; auch das ist urbildlich und kann immer beobachtet werden; und ebenso ist urbildlich, daß der Schwächere, der die gute Sache vertritt, den Stärkeren besiegt, welcher das schlechte Gewissen hat.

Wir sind von den Zeiten, in welchen das Rolandslied spielt, durch einen sehr tiefen und weiten Raum getrennt.

Lassen wir die Frage aus dem Spiel, ob die damaligen Menschen Barbaren waren und wir Kultur haben. Die Frage läßt sich wohl nicht entscheiden, und ich für meine Person wäre durchaus geneigt, wenn ich die Dichtung betrachte, uns Heutige für die Barbaren zu erklären; und die Kunst ist doch wohl der Ausdruck der Kultur. Aber dieser Unterschied kommt für unsere Betrachtung nicht in Frage; es handelt sich um den Unterschied zwischen Roheit und Zivilisation. Wir Heutigen sind hochzivilisiert, wir haben einen geordneten Staat, regelmäßiges Gerichtswesen, eine alle Teile des Volkes umfassende Volkswirtschaft, in welcher Einer dem Andern dient; wir haben Gleichheit des Rechtes, zuverlässige Beamte, und kurz und gut, alles ist so geregelt, wie es sein kann, um dem einzelnen Bürger Ruhe, Sicherheit, Behagen und das größtmögliche Wohlleben als Entgelt für seine der Allgemeinheit erwiesene Arbeit zu verschaffen. Die rohe Gesellschaft der alten Franken hatte nichts dergleichen. Der Einzelne war wirtschaftlich und rechtlich auf sich und die kleine Gemeinschaft seiner Anverwandten beschränkt und befand sich im Grunde mit allen Anderen in einer dauernden Fehde, die nur zeitweilig durch die höhere Gewalt des Kaisers oder durch Übereinkommen mit den Andern aufgehoben wurde.

Nur sehr selten sehen wir in dieser rohen Gesellschaft Einrichtungen, die unserer Zivilisation ähnlich sind. Eine solche Einrichtung ist der Gerichtshof, der über Ganelon entscheiden soll. Hier aber treffen wir sofort auf die niederträchtigste Feigheit; und zwar bei denselben Männern, welche da, wo sie sich in den Formen ihrer rohen Gesellschaft bewegen, also in der Schlacht, den größten Mut beweisen.

Die Schlacht ist damals eine Anzahl von einzelnen Zweikämpfen, die heute etwa den Fliegerkämpfen entsprechen würden, nicht einer heutigen Schlacht, in welcher der Einzelne eine Art Beamter ist, der seine aufgetragene Pflicht erfüllt. Nun sehen wir heute, wo die Menschheit auf einer hohen Stufe der Zivilisation angelangt und auch das Kriegswesen in den Mechanismus hineingezogen ist, den Mut in der Schlacht viel allgemeiner verbreitet, als er damals war. Heute haben wir Millionen von Helden wie damals Einzelne; und selbst Völker wie die Italiener haben doch ein Heer, welches unerschüttert unter den schwierigsten Verhältnissen bei fürchterlichen Verlusten angreift. In früheren Zeiten waren sie so weit entfernt von Heldentum, daß die altfranzösischen Epen, als sie zu ihnen kamen, ihnen nicht anders als komisch erscheinen konnten. Sogar Strapazen scheinen besser ertragen zu werden als früher, und offenbar können die doch von Natur viel abgehärteteren und stärkeren wilden Völker in den Reihen unserer Gegner nicht solche Leistungen im Erklettern von Felsen, Herüberbringen von Kanonen über Gebirge, Durchwaten von Sümpfen und dergleichen aufweisen wie die Europäer, die doch oft aus Fabriken, aus Stuben und scheinbar ganz verweichlichenden Verhältnissen kommen.

Es scheint demnach so zu sein, daß in der Zivilisation der Mut im Krieg verstärkt wird.

Wie kann man sich das erklären?

Der Wille des Einzelnen wird gestärkt, wenn er zwischen Vielen steht, die in derselben Richtung wollen. Das Geheimnis der dramatischen Wirkung zum Beispiel liegt darin, daß man als Dichter solche Willenskräfte erregt, welche allen Menschen gemeinsam sind; die Vielen, welche das Theater füllen und nun durch den Dichter zu gleichem Willen angeregt werden, fühlen ihren Willen verstärkt, und dadurch kommt etwas seelisch ganz Neues heraus, das man dann dramatische Wirkung nennt. Durch die Zivilisation werden die Menschen eng aneinander geschlossen, ihre Lebensnotwendigkeiten miteinander verflochten, erhalten große Teile ihrer Seele dieselbe Richtung. Das heutige Heerwesen ist selber ein Erzeugnis dieser Zivilisation, wie es die Fabrik oder der heutige Staat ist; es hat verschiedene technische Mittel, um die Gleichheit des Wollens noch zu erhöhen und auch denjenigen Soldaten, die von. Hause aus noch nicht in dem allgemeinen Zusammenhang stehen, das einzuprägen, was für den Krieg nötig ist. So entzündet sich hier Wille an Wille, stärkt sich Kraft an Kraft und erhöht sich Mut an Mut.

Man kann das an einer sehr merkwürdigen Folge beobachten. Früher gab es immer das sehr verbreitete Urbild des Miles gloriosus, des Prahlers, welcher sich nicht nur der Taten rühmt«, welche er begangen, sondern auch solcher, welche er nicht begangen hatte. Die Epen aller Völker, welche sich ja immer mit Kriegshandlungen beschäftigten, sind voll von Zügen solcher Prahlerei; die Leistung wird stets übertrieben, selbst bei Homer, dem harmonischen, selbst bei den ältesten französischen Epen, die so nüchtern sind; ganz zu schweigen von den Taten des Marko Krailewitsch oder Rustem. Heute wird nicht geprahlt. Im Gegenteil herrscht eine Stimmung bei den Beteiligten, die man Bescheidenheit nennen muß, da man kein anderes Wort für die merkwürdige und ganz neue Erscheinung hat. Der alte Krieger fühlt: ich erzähle meine Taten; der heutige weiß: ich war nur ein kleines Rad in einer großen Maschine.

Der seelische Mut muß nun dem körperlichen Mut natürlich zugrunde liegen; aus ihm und einem gesunden Körper entsteht der Mut in der Schlacht; denn wenn Einem beim Angriff die Nerven nicht gehorchen, so nützt ihm der seelische Mut nichts. In der Schlacht also unterliegt der Mann den allgemeinen Gesetzen des kriegerischen Mutes. Aber da, wo der seelische Mut allein, ohne den körperlichen auftritt, wie in jener Gerichtsverhandlung gegen Ganelon, herrschen offenbar andere Gesetze. Der seelische Mut allein ist nämlich jüngerer Herkunft wie der Schlachtenmut. Es fehlt ihm eine Stütze des Instinkts.

Wenn ich mit dem Seitengewehr in der Hand auf meinen Feind losgehe, dann frage ich mich nicht, ob ich zu diesem Vorgehen auch sittlich berechtigt bin. Es sind die Triebe meiner Urahnen in mir erwacht. Wenn ich aber einen Menschen zum Tode verurteilen soll, dann drängt sich mir sofort der Gedanke in den Vordergrund: »Wie? Hast du denn ein Recht, diesen Menschen zu verurteilen? Weißt du denn, wie seine Handlung in seiner Seele eigentlich vor sich ging? Hast du nicht selber oft in der Nähe solcher Handlungen gestanden? Hat dich nicht vielleicht eine bloße Zufälligkeit von ihnen zurückgehalten? Würdest du, wenn du diese und diese Vorbedingungen mit dem Verbrecher teiltest, nicht ebenso gehandelt haben?« Und wenn das alles nicht zutrifft, dann muß man sich doch fragen: »Weißt du, ob der Mensch sich nicht ändern will? Darfst du ihm, auch wenn er es heute nicht will, die Möglichkeit dazu abschneiden?« Der sittliche Mut geht ja nicht bloß auf solche Dinge wie ein Gerichtsurteil; er ist zu fast allen unseren Handlungen höherer Art erforderlich, und bei fast allen unseren Handlungen höherer Art können, nein, müssen wir solche Bedenken haben, wie eben geschildert sind. Als Luther die katholische Kirche angriff, mußte er sich fragen, ob er das Recht dazu hatte; wenn ein Philosoph eine neue Meinung ausspricht, die Menschen irre machen wird, muß er sich fragen, ob er das darf; wenn ein Künstler etwas Neues schafft, dann zerstört er Altes, das Wert hat; als Bismarck das Deutsche Reich begründete, hat er viel Ehrwürdiges vernichtet; wenn ein kleiner Beamter gegenüber seinem Vorgesetzten eine eigene Meinung vertritt, dann rüttelt er doch an den Grundfesten des Staates; und so geht es fort.

Der sittliche Mut besteht also darin, daß man bewußt vor sich selber eine Verantwortung für seine Handlung übernimmt in dem Sinn, daß man sich sagt: ich tue diese Tat mit gutem Willen, aber auf die Gefahr hin, daß sie schlecht ist. Luther und Kant, Bismarck und der kleine Beamte, so viele Menschen, die im kleinen täglichen Leben, und die großen Geister, welche in den geschichtlichen Stunden der Menschheit ihre Entschlüsse fassen: sie alle handeln auf die Gefahr hin, etwas Schlechtes zu begehen. Was unterscheidet die Tat Luthers von den Handlungen Thomas Münzers, die Bismarcks von den Handlungen der Achtundvierziger, die Kants von denen anarchistischer Denker? Sicher nicht die Willensrichtung – vielleicht noch nicht einmal immer eine höhere Einsicht. Der ist kein geistiger Held, den die Menge nicht wenigstens eine Zeitlang dem Blutgerüst oder dem Irrenhaus zuweist.

Indem die Zivilisation die Menschen zusammenschweißt, erhöht sie den Mut in der Schlacht. Aber diesem seelischen Mut muß sie schaden, denn sie stellt dem seelischen Helden nun eine geschlossene Masse gegenüber, die früher nicht da war, die mit den zögernden, zurückhaltenden Trieben seines Innern gegen sein Vorwärtsdrängen paktiert.

Aber noch mehr. Wenn die Menschen durch die Zivilisation zur Gesellschaft zusammengeschweißt werden, dann müssen offenbar diejenigen seelischen Eigenschaften gestärkt werden, durch welche man nachgibt, sich fügt, sich einordnet, seine vorgeschriebene Pflicht tut, und diejenigen Eigenschaften werden unterdrückt, durch welche man selbständig prüft, selbständig entscheidet. So kann eine Bürokratie zwar tüchtige und ehrenwerte Beamte erziehen, aber nicht den Staatsmann, welcher diese Beamten gebraucht. Es entsteht das, was man »subaltern« nennt.

Man kann sich keinen subalternen Bauern vorstellen. Der Mann mag persönlich zufälligerweise die niedrigsten Eigenschaften haben, aber subaltern kann er überhaupt nicht sein, weil er ja in den Angelegenheiten seines täglichen Lebens immer selbständig entscheidet; alles andere empfindet er einfach als Zwang, dem er sich fügen muß. Aber ein Minister kann subaltern sein; er kann sich vor der Verantwortung der selbständigen Entscheidung fürchten.

Wir sehen auch, wie die Folgen aus diesem Umstand gezogen werden.

Die Menschen werden bei zunehmender Zivilisation tatsächlich subalterner und so entsteht nun ein Verfahren in der entwickelten Gesellschaft, die Verantwortlichkeit zu teilen, damit sie dem Einzelnen nicht so schwer aufliegt. Im Staat geschieht das etwa, indem Ausschüsse und Körperschaften Entschlüsse fassen, die ein Einzelner fassen könnte; indem die Untergebenen durch die Vorgesetzten überwacht werden, wo denn der Untere vor sich die Verantwortung auf den Oberen und der Obere auf den Unteren schieben kann. In der Gesellschaft sehen wir, wie an die Stelle der Einzelpersönlichkeit immer mehr die Verbände treten.

Man hat sich oft gefragt, woher es eigentlich kommen mag, daß bei hochentwickelter Zivilisation die Menschen geistig und seelisch unfruchtbar werden. Hier liegt der Grund. Nur der seelische Mut, der die Verantwortung auf sich nimmt, der die Vereinzelung und die Feindschaft Aller nicht fürchtet, nur der erzeugt schöpferische Taten. Das ist ein Grund, weshalb die rohen Völker schöpferischer sind als die zivilisierten, das ist eine der Hauptursachen, durch welche die antike Zivilisation unter die Herrschaft der Germanen kam.

Nun kann man sich einen Ausweg denken. Wenn der allgemeine Druck die Menschen subaltern macht, dann werden sich die wertvollen Menschen in sich selbst verschließen und durch die Anstrengung, mit welcher sie ihr höheres Selbst verschlossen in der untergeordneten Umgebung bewahren, noch vorzüglicher werden. Wenn dann Not ist, dann treten sie hervor. Es entsteht ein ganz neues geistiges Heldentum. Die rohen Völker denken sich den Helden als Jüngling: bei den zivilisierten wird es der Greis sein.

 


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