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Das Theater

(1913)

Zwei Auffassungen vom Theater sind seit alten Zeiten vorhanden, haben sich in der Geschichte abgelöst oder haben sich, gleichzeitig herrschend, vertragen, wie es Gegensätze im wirklichen Leben ja so oft müssen: das Theater als Befriedigung der Bedürfnisse der höheren Sinnlichkeit, wie Goethe, und als moralische Bildungsanstalt, wie Schiller wollte. Größere Gegensätze sind ja wohl kaum zu denken; zu ihnen kommt aber noch, daß nach dem Urteil der Kenner niemals weder das eine noch das andere Leitbild auch nur annähernd erreicht ist, denn immer hören wir die Klage, daß das Theater weit entfernt sei von dem, was es sein solle. In jeder Kunst steht den Menschen ein Leitbild vor der Seele, in keiner Kunst wird es erreicht; aber immer sind doch Werke geschaffen, welche dem Leitbild nahekamen; und wenn sie die Höhe nicht erreichten, so war der Grund immer nur die menschliche Unzulänglichkeit des Künstlers, der nun eben nicht Gott ist. Wenn beim Theater aber, mag man es nun ansehen wie Goethe oder wie Schiller, die Klagen über die Unzulänglichkeit ertönen, so haben sie nicht diesen allgemeinen Grund allein der menschlichen Unzulänglichkeit auch der Besten, sondern noch einen besonderen für sich.

Dieser besondere Grund ist, daß das Theater in grundsätzlich anderer Weise wie jede andere Kunst vom Publikum abhängt.

Man könnte sich vorstellen, daß Lessing unrecht hätte, und daß bei einer Bühne tatsächlich noch der letzte Lampenputzer ein Genie wäre; trotzdem würde das Theater immer noch jenen Zusatz von Gemeinheit haben, der es den höheren Geistern oft so zuwider macht. Der Dichter kann allein auf seinem Zimmer arbeiten, der Maler und Bildhauer auf seiner Werkstatt, ohne daß ihnen von der Mitwelt Anerkennung und Dank wird; im Lauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte erleben an ihren Werken dann die Wenigen, für die sie schufen, das, was sie wollten, daß an ihren Werken erlebt werden sollte. Der Baumeister, wenn er keinen geeigneten Bauherrn findet, wird irgendwie zugrunde gehen, der eine, indem er der Mittelmäßigkeit nachgibt, der andere, indem er überhaupt nicht zum Bauen kommt. Die Bühnenkunst aber, die einerseits nur für den Augenblick da ist, also nicht auf spätere Wirkung rechnen kann, andererseits nicht vom Einzelnen, sondern von der Menge abhängt, ist durch ihre Lebensbedingungen genötigt, aus der Wechselwirkung zwischen Darstellung und Publikum, in welcher sie lebt, immer eine große Menge Publikumsseele in sich aufzunehmen. So ist es nicht verwunderlich, wenn manche ganz strenge Künstler das Theater überhaupt nicht mit zur Kunst rechnen, wenn gerade die Gebildeten nicht ins Theater gehen mögen.

Was man nun aber auch vom Standpunkt der strengsten künstlerischen Sittlichkeit gegen das Theater sagen mag – und schließlich ist selbst der schroffste Vorwurf berechtigt, den man je gegen es erhoben hat –, man kann damit doch nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, daß das Theater die Vorbedingung der höchsten dichterischen Form ist welche es gibt, des Dramas. Die Gesetze des Dramas entwickeln sich aus den Bedürfnissen der zuschauenden Menge; ohne das Theater wäre das Drama nicht entstanden; und wenn auch scheinbar kein Zusammenhang vorhanden ist zwischen den Bedürfnissen einer gespannten Menge und einer Dichtungsform, in welcher man das Verschlungensein von Schicksal und Charakter, Freiheit und Notwendigkeit, das Spielen zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt allein darstellen kann, so möge man an den eigentümlichen Zusammenhang denken, welcher zwischen dem rohen Steinblock und dem Bildwerk ist; wie bei dem guten Bildhauer, der seine Form beherrscht, das Werk sich aus dem Stein entwickelt. Hätte dem Bildhauer nie der Stein zur Verfügung gestanden, sondern etwa nur die Bronze, die Bildhauerei hätte nie ihr letztes, bedeutendstes Wort sagen können. Aber nicht nur, daß das Theater einmal da war, ist für das Drama nötig; es muß immer da sein, auch wenn es so unwürdig ist, daß es dem dichterischen Drama gegenüber versagt; wenn nicht wenigstens die Möglichkeit vorhanden bleibt, daß es aufgeführt werden kann, so entartet das Drama zum Buchdrama; und an die Stelle des höchsten Kunstwerkes tritt die liebhaberische Begabungsäußerung eitler Einzelner.

So wunderliche dialektische Spannungen liegen ja unserem gesamten Leben zugrunde; wir hüten uns nur, sie uns klarzumachen, um uns das Leben nicht allzusehr zu erschweren. Es wäre aber unrecht, wenn der Dramatiker sich über die Vernachlässigung durch die Theaterleiter, der Freund der Dichtung über die Roheit der Aufführungen beklagen wollte. Alles Hohe ist uns ja nur begrenzt zugänglich. Die edelsten Gebäude sehen wir zertrümmert oder wieder hergestellt; wir graben Figuren aus dem Boden, denen nicht nur die wichtigsten Glieder fehlen, sondern die womöglich sogar einige Millimeter ihrer Oberfläche verloren haben; die Gemälde zerfallen von dem Tage an, da der letzte Pinselstrich an ihnen gemacht ist; Dichtwerke sind in fremden Sprachen und haben tausend Voraussetzungen, die für uns nicht mehr gelten; von den Religionen gelingt es uns, einmal ein Stückchen zu empfinden, von den Philosophien, ein Stückchen zu verstehen. Dennoch können wir das alles besitzen, denn unsere Ahnung ergänzt uns alles Fehlende.

Wie mancher, der keinen Fuß zum Theater rühren mag, sitzt abends

allein für sich bei der Lampe, liest still das Drama eines bedeutenden Dichters, und die Gestalten werden vor ihm lebendig, schreiten mit den Schritten, welche der Dichter gewollt hat, des Helden oder des Komödianten, sprechen mit Stimmen, die nur einem Schauspieler zu Gebote standen, und handeln in jenem Räume, welcher nicht die Wirklichkeit ist, sondern jene unwirkliche Welt, welche durch Hintergrund und Kulissen so roh geschaffen werden soll. Wie der Dichter sein Drama nicht ohne das Theater schaffen konnte, so kann dieser Mann das Drama für sich nicht so lesen, wie es gelesen werden muß, wenn er nicht das Theater gesehen hat. Es war nötig für ihn, daß er einmal als junger Mensch von oben herab, nachdem der raumbeherrschende Kronleuchter verschwunden war, in jenen hellen Guckkasten sah, der ihm denn so zauberisch erschien, diese Häuser aus Leinwand, die zu klein sind für die Menschen, diese geschminkten Darsteller, diese falschen Farben, dieses ungeheuerliche Licht, daß er diese unmögliche Sprechweise hörte. Er muß einmal das Theater geliebt haben, um es später zu verachten, durch seine Phantasie zu ersetzen.

Für diesen einsamen Freund des Theaters ist kürzlich ein entzückendes Werk erschienen: »Das Theater«, Bühnenbilder von Karl Walser. Wenn wir an die moralische Bildungsanstalt denken und im stillen eines jener großen Werke in uns aufnehmen wie den »König Öpidus« oder die »Orestie« des Äschylus, so genügt uns ja das Wort des Dichters. Es gibt ein bekanntes Geschichtchen von einem berühmten Schauspieler, der den Ödipus spielen sollte und mit der »Rolle« nichts anzufangen wußte. Er ging zu einem Bekannten, klagte ihm sein Leid und bat ihn um eine »Auffassung«. Der Bekannte suchte ihm das Drama klarzumachen; geduldig hörte der Mime lange den unverständlichen Worten zu; endlich blitzte es über sein Gesicht, und er rief aus: »Nicht weiter! Ich bin orientiert! Tragischer Heuler!« Die Geschichte ist so wahr, daß sie sicherlich erfunden ist. Nirgends wirkt das Theater so abschreckend, wie wenn diese großen Werke dargestellt werden sollen, die in eine Kirche gehörten, nirgends ist es auch so überflüssig, denn das Lesen im stillen Kämmerlein gibt uns diese Werke fast ganz.

Anders ist es bei jenen Dichtungen, welche auf die höhere Sinnlichkeit wirken wollen. Bei ihnen ist das Wort immer gedacht in Begleitung anmutiger Bühnenbilder, unwirklicher Beleuchtungen, märchenhafter und zauberischer Vorgänge, die doch ihre eigene Unmöglichkeit immer zeigen sollen; hier hat ja auch die Verbindung mit der Musik, mag man gegen die heutige Oper noch so große Bedenken haben, immer ihr Recht. Wenige Menschen gibt es, welche eine solche Einbildungskraft haben mögen, sich diese Begleitung der Dichtwerke selber zu schaffen: für sie hat Walser seine reizenden Figurinen gesammelt.

Wir erleben ja heute auf dem wirklichen Theater eine in ihrer Art und in ihren Grenzen reizvolle Darstellung solcher Werke, welche auf die höhere Sinnlichkeit rechnen, und geschickte Theaterleute, welche die Bedürfnisse der Zeit verstanden haben und die Begabung der geeigneten Männer für ihre Zwecke anwenden, haben hier große Erfolge erzielt; man braucht nur die Namen Reinhardt und Gregor zu nennen. Aber wie das Werk des Dichters vergröbert wird auf dem wirklichen Theater und der Gemeinheit nicht entgehen kann, so hat auch der Bühnenmaler zu leiden. Vor allem wird in der Hinsicht fast immer ein unangenehmes Gefühl entstehen: die Dinge auf der Bühne sollen unwirklich sein, aber nicht unwahr, und fast immer werden sie unwahr und nicht unwirklich. Die Lumpen des Bettlers, der Purpur des Königs sollen nicht wirkliche Lumpen, nicht wirklicher Purpur sein: aber die Theaterleute lügen uns unwahre Lumpen und unwahren Purpur vor. Die ästhetische Barbarei unseres angebildeten Großstadtwesens kommt in diesem Punkt zum Ausdruck: man will Wirklichkeit vortäuschen, und macht sich nicht klar, daß man Vortäuschung einer unwirklichen, nicht einer wirklichen Welt zu geben hat. Man macht dem Bühnenmaler scheinbar alle Zugeständnisse, die er verlangt; aber wenn dann alles bis zuletzt scheinbar in Ordnung ist, kommt immer der Komödiant, der mit dem Schein des Scheins nicht zufrieden ist, und nie sich selber vergessen kann; und der schlimme Komödiant von heute nennt sich nicht mehr Schauspieler und tritt nicht mehr mit gespreizten eigenen Beinen vor das entzückte Publikum, sondern er nennt sich heute Spielleiter, steht fettgedruckt auf dem Theaterzettel, von dem er am liebsten den Namen des Dichters verdrängen möchte, und läßt fremde Beine für seinen Ruhm sich spreizen. Wer einmal eine Gesellschaftslehre unserer Zeit schriebe, dem müßte dieses Abstraktwerden des Konkretesten,der Komödianteneitelkeit, doch eigentlich der bezeichnendste Vorgang in dem allgemeinen Ablauf unserer Zeit erscheinen, dem Verflüchtigen alles Wirklichen zur Beziehung, alles Tatsächlichen zur Abziehung.

Die Figurinen, welche Walser in seinem Band gesammelt hat, sind nun Ausdruck des Theaters der höheren Sinnlichkeit ohne den störenden Spielleiter, sie sind reines Theater ohne den Komödianten, Spiel ohne Lüge.

Walser wäre nicht zu denken ohne den vorherigen Aubrey Beardsley. Wie kommt es nur, daß Beardsley immer unrein, ja gemein wirkt und Walser immer rein und edel?

Der Strich Beardsleys ist konventionell, sein Gefühl für den menschlichen Körper gering, aber er hat eine merkwürdige, auf den ersten Blick, ehe man nämlich das Kunstgewerbliche steht, unbegreifliche Schönheit. Auch Walser weiß und empfindet recht wenig vom menschlichen Körper; denkt man sich seine Figürchen ausgekleidet, so sieht man, daß alle Glieder falsch angesetzt sind; sie können nicht stehen, nicht sitzen und nicht gehen. Aber was bei Beardsley als ein Nichtkönnen wirkt, das wirkt hier – man gestatte das so oft mißbrauchte Wort – als Stil: sie sind da wegen der anmutigen Kostüme, wegen der seltsamen Bewegungen, wegen des Zusammenklingens der Farben. Sie sind Theater, das echte, schöne Theater, welches wir in unserer Phantasie haben, das wir uns ausdenken und vorstellen, um die Schwermut unseres Lebens zu überwinden, als Kunst. Beardsley könnte man etwa vergleichen mit unserem unglückseligen Frank Wedekind, wenn Wedekind nämlich Geschmack hatte: er ist ein Clown, welcher tragisch, ein Pornograph, welcher empfindsam ist, ein Artist, welcher nichts kann. Bei Walser aber würde ich an den heiteren, ewig jungen Lesage denken; und wenn er den Fleiß aufböte, welchen er auf diese Figurinen verwendet hat, so würde er uns einen wundervoll bebilderten Gil Blas schaffen können, welcher besser wäre wie der von Jean Gigour oder Deveria, geschweige denn der Chodowieckis.

Die meisten Bilder sind zu »Figaros Hochzeit« und zu »Carmen«. Sollte es möglich sein, daß man die entzückende Musik und die seltsamen Vorgänge nicht nötig hätte, um in Empfindungen zu geraten ähnlich denen beim reinen Genuß dieser Werke, wenn man nur die Figurinen eines Zeichners betrachtet? Es ist möglich, wenn man die Blätter Walsers vornimmt.


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