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Die Kunst und der Bürger

(1912)

Von zwei Klassen von Menschen wird das Wort »Bourgeois« ingrimmig als Schimpfwort gebraucht, von den Arbeitern und von den Künstlern. Beide sehen im »Bourgeois« ihren Feind nicht nur, gegen den sie etwa zu kämpfen hätten, sondern ihren Gegner, dessen bloßes Dasein sie schon verneinen möchten.

Der Klassenkampf zwischen Arbeiter und Bürger ist eine geschichtliche Erscheinung, die, wie alle geschichtlichen Erscheinungen, bestimmt ist, sich in einer höheren Erscheinung aufzulösen; und ich glaube, daß die Zeit nicht fern ist, wo aus den Gegensätzen sich eine neue Einheit entwickelt: könnte nicht auch die Feindschaft zwischen Künstler und Bürger (sie ist gegenseitig, man lasse sich nicht durch die Bildungsredensarten und die Kunstspielerei der bürgerlichen Gesellschaft täuschen) auch nur eine Zeiterscheinung sein? Wenn man sie verstehen könnte, so würde man vieles Merkwürdige im heutigen Kunstleben verstehen.

Die bürgerliche Gesellschaft ist am tiefsten begründet in den germanischen Ländern; schon in Frankreich ist sie mehr Oberflächenerscheinung, Italien ist noch von mittelalterlicher Gesinnung, und Spanien ist kaum ein neuzeitliches Land zu nennen. Hand in Hand mit der bürgerlichen Gesellschaft geht das Übergewicht der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Denkens und die Auffassung, daß die Kunst einen mehr oder weniger überflüssigen Zierat und Luxus des Lebens liefere; so daß folgerichtige Denker sogar zu der Ansicht kommen können, daß eine Zeit bevorstehe, wo die Kunst überhaupt verschwinde, wie, nach ihrer Ansicht, die Religion bereits verschwunden sei. Dort, wo die Gesinnungen der Menschen mittelalterlicher sind, schätzt man die Religion am höchsten ein, gibt etwa die zweite Stelle der Kunst und den metaphysischen Bemühungen, und erst an die dritte Stelle setzt man die Wissenschaft. Wir sind ja geneigt zu dem Glauben, daß unsere heutigen Ansichten richtiger sind als die Ansichten der früheren Menschen, und daß Entwicklung für uns wenigstens auch immer Fortschritt zu Höherem ist: könnte man nicht die verschiedene Schätzung aus den verschiedenen Lebensbedürfnissen erklären und dann vielleicht die Hoffnung schöpfen, daß auch für die Kunst wieder einmal bessere Tage kommen können?

Wir haben bekanntlich nur unsere Empfindungen, aus diesen bilden wir unsere Vorstellungen, deren Gesamtheit wir die Welt nennen; wir sind gezwungen, uns diese als in sich folgerichtig zusammenhängend vorzustellen.

In unseren nördlichen Ländern nun, wo die Natur karg ist, werden die Menschen veranlaßt, sich besonders mit diesem Zusammenhang begrifflich zu beschäftigen; denn wenn sie begrifflich klar die Ursachen erkennen, so können sie vielleicht durch eine Einwirkung auf diese Ursachen Folgen erzeugen, welche ihnen den Kampf um ihr Dasein erleichtern. In einem Topf mit kochendem Wasser entwickelt sich Dampf; dieser hebt von Zeit zu Zeit den Deckel; ein Mensch beobachtet das, macht sich klar, daß das Wasser in Dampfform einen größeren Raum einnimmt, und baut daraufhin die Dampfmaschine. Unendlich lange Zeiten hindurch haben die Menschen nur empfunden, daß in dem Topf ein Treiben und Heben war; sie haben wohl gewußt, daß das irgendwelche Ursachen haben muß; aber sie haben sich mit ihrer Empfindung und mit ihrer Vorstellung des kochenden Topfes genügen lassen. Einmal auf den Weg geraten, ging die nördliche Menschheit immer weiter, Entdeckungen reihten sich an Entdeckungen, die Natur wurde durch sie ihnen immer ergiebiger, die Bevölkerung wuchs, Wunsch nach Gewinn und Furcht vor Not drängten nach. Durch die ungeheure Wichtigkeit, welche auf diese Weise das begriffliche Denken für die Menschen gewann, erschien es als die einzig wichtige geistige Betätigung; es griff sofort über den Nutzen hinaus, verband sich mit älteren geistigen Bestrebungen und erzeugte so die heutige Wissenschaft. Nun haben die Menschen heute ganz kindlich den Glauben, das auf diese Weise begrifflich geschaffene Weltbild sei das wirklich richtige, ein auf andere Weise geschaffenes Weltbild könne nur eine belanglose Spielerei der Phantasie bedeuten oder sei das Ergebnis von längst überwundenen Arten des Denkens.

Nun ist aber der erörternde Verstand nicht die einzige Kraft, die Begriffe nicht der einzige Stoff, durch welche wir die Welt schaffen, und das wissenschaftliche Weltbild ist nicht »richtiger« als das künstlerische. Der Künstler – hier kann man alle Künste zusammennehmen, denn in diesem sind sie alle gleich – hat denselben Stoff wie der Wissenschaftler, seine Empfindungen; wie der Wissenschaftler bildet er aus den Empfindungen Vorstellungen; dann aber schlägt er einen anderen Weg ein: er nimmt diese Vorstellungen zu anderen Vorstellungen in sein Inneres, läßt sie hier zu einem großen organischen, das heißt lebendig zusammenhängenden Gebilde zusammenwachsen, nach einer Richtung, oder sagen wir zu einem Zweck, den sein aus irgendeinem Unbekannten und Unerkennbaren aufsteigender Wille verlangt, und stellt nun dieses Gebilde mit seinen Kunstmitteln dar.

Man glaube nicht, daß der Wissenschaftler sein Bild ohne Willen schafft: nur er meint immer, und sei es in der höchsten Vergeistigung, einen nützlichen Zweck; der Künstler hat keinen nützlichen Zweck, deshalb nennt man sein Werk zwecklos oder schiebt ihm einen sittlichen Zweck, einen Zweck der Ergötzung und dergleichen unter. Beides ist falsch: er hat einen Zweck, aber der ist nicht durch den Verstand zu erkennen und ist nicht »nützlich«.

Man hat gefunden, daß Maler die Verhältnisse ihres eigenen Körpers in ihren gemalten Figuren haben; daß ein Bildnis stets Ähnlichkeiten mit dem Bildnismaler hat; man sieht, daß ein Dichter immer nur sein eigenes Ich formt, sein eigenes Schicksal darstellt, mag er auch einen Jago und eine Desdemona schaffen, die Fabel des Sturms oder die Fabel von Romeo und Julia erzählen: nach dieser Richtung geht, was ich den Willen des Künstlers nenne.

Das Kunstwerk muß wirklich gelungen sein, das heißt, es muß organisch sein, dann gibt es ein Weltbild, welches gerade so »richtig« ist wie ein wissenschaftliches Weltbild. Die Gestalten Shakespeares oder Homers haben nie gelebt, und nur die Kunstfertigkeit der Dichter bewirkt, daß man sich denken konnte, solche Menschen vermöchten auf dieser Erde zu wandeln; aber die von diesen Dichtern geschaffenen Bilder sind so in sich einheitlich, daß das Ganze in sich lebt. Daher sind »Verlogenheit« und »Disharmonie« die schwersten Vorwürfe, welche man gegen ein Kunstwerk richten kann, außer ihnen gibt es aber auch keine.

Das wissenschaftliche Weltbild hat die praktischen Interessen für sich – welche Interessen hat für sich das künstlerische Weltbild? Stellen wir uns vor, die menschliche Gesellschaft käme bis zur höchsten Spitze der sogenannten Beherrschung der Natur. Man brauchte nur auf einen Knopf zu drücken, und alles, was man braucht oder sinnlos wünscht, stellt sich ohne weiteres dar zur gefälligen Verwendung. Offenbar würden die Manschen in diesem Schlaraffendasein das Leben bald als eine unerträgliche Last empfinden, und es würde sich bald herausstellen, nachdem nun der Wahn verschwunden wäre, der die Mittel so lange als Zweck setzte (das ist vor allem die Arbeit), daß irgend etwas da sein muß, weshalb oder wozu die Menschen leben, oder wodurch man über das Unerträgliche des Lebens hinwegkommen kann.

Die höchsten Menschen würden die Lösung in der Religion finden, sie würden die Notwendigkeit ihres zufälligen Daseins als in einem höheren Weltzusammenhang begründet fromm fühlen und durch diese Empfindung über die Leiden des Unbefriedigtseins hinweggesetzt werden. Aber nur wenig Menschen sind ausgewählt, dieser Lösung teilhaftig zu werden. Für die anderen würde es die Kunst und die Metaphysik geben: sie würden sich mit ihrem ganzen inneren Menschen in ein anderes Weltbild retten und sich dadurch befreien können. Befreiung: das ist es, was die Kunst den Menschen geben kann.

Der Bürger hat nun offenbar keine Befreiung vom Leben nötig, er hat noch weniger eine Lösung der Frage nötig, wozu und weshalb er lebt. Er erscheint sich als zufriedener Selbstzweck, und die Wissenschaft gilt ihm als die höchste Betätigung der Menschen. So kann er die Kunst immer nur als ein Vergnügen betrachten, und er wird es nie verstehen, wie Menschen die ungeheuerste Anstrengung auf diese Dinge wenden mögen. Aber es gab Zeiten vor der bürgerlichen Gesellschaft, es wird auch Zeiten nach ihr geben; und schon scheinen ja Bedürfnisse nach Religion, Kunst und Metaphysik dunkel und unverstanden sich neu in der Menschheit zu regen.


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