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Zu Goethes Novellen und Märchen

(1913)

Goethes Werke sind heute in den Händen der Gebildeten in Deutschland; es scheint ein fremdartiger Einfall, aus den Bänden ein Bändchen auszuziehen, welches nur Schriften enthält, die den Gebildeten doch wohl genügend bekannt sind.

Aber wenn man Goetheverehrer hört, wenn man Goethes Einfluß auf unsere Zeit betrachtet, so kann man doch oft Bedenken nicht zurückdrängen, ob denn nicht in Goethes Namen manches Verkehrte geschieht. Es ist eine eigene Sache um den Ruhm, der großen Männern folgt: er ruht nur zu oft auf Mißverständnissen. Auch ein großer Mann hat seine Schwächen, und er ist gewiß nicht durch seine Schwächen groß; die Menschen machen sich das Leben gern leicht; und wenn sie dann endlich nach langem Widerstreben genötigt sind, Größe anzuerkennen, so suchen sie sich gern gerade die Punkte aus, wo der große Mann nicht groß ist, die ja denn freilich ganz mit seiner Persönlichkeit zusammenhängen; und indem sie seine Schwächen bewundern und als Vorzüge hervorheben, wissen sie eine Entschuldigung für ihre eigene Schwäche zu finden und diese durch das große Beispiel noch stärker wuchern zu lassen. Hier liegt der Grund, weshalb bedeutende Menschen so oft Schaden bei der Nachwelt angerichtet haben.

Goethe hatte eine ungemeine dichterische Begabung und eine große menschliche Klugheit, aber er war – immer den höchsten Maßstab angenommen, den allein wir ja in solchen Fällen anlegen dürfen – eine läßliche Natur; er widerstrebte dem Zwang, er floh die letzte Folgerung, er stand dem Leben mehr als aufnehmendes und feinfühlendes Weib gegenüber wie als herrschender Mann. Seine Begabung und seine Klugheit trieben ihn zur großen Kunst; aber große Kunst verlangt Willen zur Form, Zwecksetzung für die Empfindung, Beschränkung der Persönlichkeit; der große Künstler ist kein selbstherrlicher Olympier, er ist der Diener seiner Nation und weiterhin der Menschheit. Die Art von Goethes Begabung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Begabung Homers; aber die homerischen Werke sind geschlossene Schöpfungen, so geschlossen, daß sie sogar Einfügungen von größtem Umfang haben ertragen können; die Werke Goethes sind zu einem großen Teil nicht geschlossen, sie sind eine Reihe von wundervollen Einzelstücken, welche zusammengehalten werden nur durch die Tatsache, daß sie von einem einzigen Dichter geschaffen sind.

Die größte Gefahr für die deutsche Kunst ist immer der Dilettantismus gewesen; durch das Vorbild Goethes haben sich Geringere für berechtigt gehalten, nun auch läßlich zu sein; und heute ist es nun endlich so weit gekommen, daß ganz ernsthaft schon jede bloße Persönlichkeitsäußerung als Dichtung genommen wird mit dem Ende, daß denn nun freilich zuletzt den Leuten Briefwechsel, Tagebücher und Lebensgeschichten wertvoller erscheinen müssen, als solche dilettantischen Schöpfungen, welche mit der Kunst nur das Eine gemein haben: daß sie nicht Natur sind.

Da möchte es an der Zeit sein aufzuzeigen, wie der so übel verwendete Goethe dort, wo es seine Natur vermochte oder wo er einen äußeren Halt fand, durchaus geschlossene und abgerundete Kunstwerke geschaffen hat; es möge aber erst noch eine Stelle aus einem Brief von Schiller an ihn gestattet sein, wo in den Worten, mit welchen solche Männer untereinander verkehren, wohl das eben Ausgeführte gesagt ist.

»Da Sie auf einem solchen Punkte stehen, wo Sie das Höchste von sich fordern müssen und Objektives mit Subjektivem absolut in Eins zerfließen muß, so ist es durchaus nötig, dafür zu sorgen, daß dasjenige, was Ihr Geist in Ein Werk legen kann, immer auch die reinste Form ergreife und nichts davon in einem unreinen Medium verloren gehe. Wer fühlt nicht alles das im Meister, was den Hermann so bezaubernd macht! Jenem fehlt Nichts, gar Nichts von Ihrem Geiste, er ergreift das Herz mit allen Kräften der Dichtkunst und gewährt einen immer sich erneuenden Genuß, und doch führt mich der Hermann (und zwar bloß durch seine reine poetische Form) in eine göttliche Dichterwelt, da mich der Meister aus der wirklichen Welt nicht ganz herausläßt.« Goethe hat eine Anzahl Novellen geschrieben, welche fast alle in größere Werke eingefügt sind, und zwar bekanntlich oft recht äußerlich. Diese Novellen sind nun für eine Sonderausgabe herausgelöst und werden den Lesern in ihrer Reinheit dargereicht.

Die Novelle ist eine feste Kunstform und bietet dem Dichter, der sie zu handhaben weiß, die außerordentlichen Vorteile jeder festen Kunstform. Da sie ihrer Natur nach nicht über einen gewissen Umfang gehen kann, so mußte sie einem Dichter wie Goethe besonders Halt geben; freilich hat er einmal auch diese Form gesprengt, als er die Wahlverwandtschaften schrieb und sich nicht enthalten mochte, sich episch gehen zu lassen – vielleicht deshalb, weil er hier den fruchtbaren Augenblick nicht gefunden hatte, in welchem sich das Schicksal der Personen entscheiden muß. Die Novelle nämlich, und damit ihre Form, verdichtet das lange und ruhige Geschehen, Werden und Entwickeln der Vorgänge in einem einzigen Punkt, in welchem von vorwärts und rückwärts und von den Seiten alles zusammenkommt. Eine Probe, ob der Bau einer Novelle geglückt ist, gewährt die mündliche und schmucklose Erzählung. Wie etwa ein Bild von Giotto durch alle Zerstörungen der Zeit, selbst durch Übermalungen kaum viel verliert, so hält sich auch eine gute Novelle, wenn man sie einfach und ohne jede Ausarbeitung mündlich vorträgt. Nun wird berichtet, wenigstens von den Novellen, welche in die Wanderjahre eingefügt sind, daß Goethe sie gern erzählt habe, ehe er sie niederschrieb; es kommt dazu, daß die meisten der Geschichten nicht von ihm selber erfunden sind, er hat sie nur auf einen höheren, einige von ihnen auf den höchsten möglichen Ausdruck gebracht.

So kommt es, daß diese Prosadichtungen uns eine ganz besondere Freude machen, welche die anderen prosaischen Schriften nicht zu gewähren vermögen; denn zu dem wunderbaren Zauber von Goethes Sprache, zu der großen Klugheit, der Anmut und Liebenswürdigkeit der Darstellung kommt noch das Vergnügen an strengem Aufbau, das Fehlen jener Enttäuschung, die uns so oft befällt, wenn in einem locker gefügten Werk Erwartungen nicht befriedigt, Ereignisse nicht vorbereitet, die einzelnen Teile nicht ausgewogen sind.

Wir schätzen in Deutschland die Novellen Kleists besonders hoch, und mit Recht; in diesen Novellen Goethes haben wir ein merkwürdiges Gegenstück zu ihnen, denn wenn sie ihnen gleich sind durch die vollständige Beherrschung der novellistischen Form, so sind sie ihnen doch ganz ungleich in der dichterischen Darstellung. Kleist, als ein junger Mann, gibt nach Möglichkeit das Wirkliche und den Augenblick, der alte Dichter Goethe suchte das Dauernde zu geben und das was hinter dem Wirklichen liegt. Man könnte sagen, daß Goethes Darstellung abgezogen sei gegenüber Kleists Darstellung; das wäre aber nicht richtig, indem man ihm da einen Vorwurf machen würde. Man sollte verschiedene Grade der Wirklichkeit unterscheiden, verschiedene Grade der Annäherung an den unmittelbaren sinnlichen Eindruck. Unsere Vorstellungen kommen zustande durch den Eindruck und unsere Verarbeitung der Eindrücke; je älter wir werden, desto stärker wird das Geistige in unseren Vorstellungen, desto geringer das Sinnliche; aber nicht so, daß bei einem großen Dichter nun die Vorstellungen unsinnlicher werden; sie haben nur weniger überflüssige Sinnlichkeit, aber dafür mehr eigentliche Gestalt, weil der ältere Mann hinter dem blühenden Fleisch, das er sieht, das Knochengerüst kennt, das er nicht sieht. Um Goethes Novellen ganz zu würdigen, muß man sich das besonders klarmachen; unsere heutige Zeit, welche den sinnlichen Eindruck so hoch schätzt, daß sie sich merkwürdigerweise vorstellt, man könne ihn künstlerisch darstellen, während man doch immer nur seine Vorstellungen darstellen kann, wird wahrscheinlich der Prosa des älteren Goethe nicht leicht gerecht werden können.

Noch ein Zweites können wir uns an dem Vergleich mit den Kleistschen Novellen klarmachen. Bei Kleist geht es immer auf die Darstellung von Leidenschaften, bei Goethe auf das Schaffen möglichst anmutiger Bilder, so sehr, daß als Gipfelpunkt der Novelle oft genug ein solches anmutiges Bild erscheint wie etwa in der »Novelle«. Auch hier liegt ein wichtiger Grund in dem Altersunterschied der beiden Dichter. Der junge Mann erlebt die Leidenschaften noch ungebrochen, er kennt nur sich und seine seelische Bewegung, und alle Außenwelt scheint ihm nur da zu sein für ihn und seine Leidenschaft. Der reife Mann, welcher selber vieles durchgemacht mit Beginnen, Höhepunkt, Widerstand der Außenwelt, Abnehmen und Erlöschen, und die ähnlichen Vorgänge bei vielen Andern beobachtet hat, kann nicht mehr auf dem Standpunkt verharren, wo er allein die wichtige Person ist; er sieht ein, daß die Schicksale aller Menschen ineinander verflochten sind, daß das Leiden des einen für das Glück des andern nötig ist und deshalb nicht die ausschließende Bedeutung hat, wie ihm früher schien; aus der Subjektivität, welche notwendig zu einem tragischen Weltbild führen muß, denn jede Leidenschaft muß ja an Grenzen stoßen und so zu Leiden führen, entwickelt sich nun jene Objektivität, welche das Weltganze zu empfinden sucht und so zu einer Überwindung des Tragischen, zu Harmonie und Schönheit gelangt. Der Ausspruch Goethes über Kleists Kohlhaas ist bekannt: er könne diese Hypochondrie dem Weltlauf gegenüber nicht als berechtigt empfinden. Der Ausspruch ist richtig, aber er ist ungerecht, denn als Jüngling hatte Goethe selber den Werther geschrieben; der Kohlhaas ist ein Jünglingswerk und durch seine Vollendung ebenso berechtigt wie nur ein Werk eines menschlich reifen Dichters.

Das dürfen wir nie vergessen, wenn wir die folgenden Novellen lesen: die älteste von ihnen schrieb er mit etwa fünfunddreißig Jahren, die letzte mit siebenundsiebzig.

Über die einzelnen Stücke bleibt nach dem Vorhergehenden nicht mehr viel zu sagen.

Wir beginnen mit den Bekenntnissen einer schönen Seele. Dieses Stück kann man nicht als eine Novelle im strengen Sinn ansprechen, es ist ein Lebenslauf, in der Art wie solche Sachen wohl zuerst in der Insel Felsenburg geschrieben wurden, unter dem Einfluß der damals neuen innerlichen Frömmigkeit, deren verschiedene Äußerungen man als Pietismus zusammenfassen kann. Aber ein solcher, aus einem Punkt gesehener Lebenslauf hat mindestens eine große Verwandtschaft mit der Novelle; in diesem Band war das Stück auch deshalb wichtig, weil er die Stelle zeigt, von wo die Objektivität und Reife des Dichters sich entwickelt, seine Humanität und sein harmonisches Weltbild. Man bezeichnet ja Goethe als den großen Heiden, und beruft sich da unter Umständen auf eigene Äußerungen; aber man sollte doch nicht vergessen, daß er ein Heide war, den das Christentum gebildet hat; freilich nicht das Christentum, das Sünde und Rechtfertigung durch den Glauben, den Tod von Gottes Sohn und die Versöhnung lehrt, das strenggläubige Christentum, sondern jenes, das von einer mystischen Einheit mit Gott spricht; immerhin, jedenfalls nicht aus dem Altertum, sondern aus dem Pietismus stammt seine Humanität, und wenn man Iphigenien mit der schönen Seele vergleicht, so wird man eine große Familienähnlichkeit finden. Die Heiterkeit der späteren Novellen ist hier entstanden; man vergleiche nur die Novelle vom Kaufmann und seiner jungen Frau in den Unterhaltungen der Ausgewanderten mit ihrer Vorlage; in der alten Erzählung wird die junge Frau nur leiblich von ihrem Fehler zurückgehalten durch das Fasten; bei Goethe bewirkt das Fasten eine sittliche Einkehr. Wenn wir Goethes zierliche und anmutige Erzählung gelesen haben, so erscheint die Komik der alten Novelle plump und roh.

Die Unterhaltungen der Ausgewanderten waren bestimmt, ein Novellenbuch zu werden wie das Dekameron; wie in dem alten Buch die Pest, so sollte im neuen der Krieg einen ernsten Hintergrund abgeben und das Zusammenkommen der Gesellschaft erklären. Aber der Rahmen Goethes ist weniger glücklich, wie der Boccaccios: er enthält zuviel Gespräch, und die Novellen erscheinen als anschauliche Erläuterungen von Gedanken; Boccaccios Rahmen ist wirklich bloß Rahmen; die Geschichten sind im ganzen eingefaßt, dann in zehn Abteilungen getrennt, dann ist noch einmal jede einzelne eingefaßt; die Einführung der einzelnen Geschichte ist inhaltlich belanglos, die größeren Einführungen von je zehn Geschichten geben anmutige Bilder ohne wichtiges Geschehen, und der allgemeine Rahmen hat die furchtbare Schwere, durch welche das ganze Buch zusammengehalten wird. Goethes Rahmen erinnert an ähnliches bei den Romantikern; es schien uns, daß die Geschichten durch ihre Auslösung gewinnen würden.

Ähnlich liegen die Dinge bei den Novellen, welche aus den Guten Weibern genommen sind.

Märchen sind Novellen von einer besonderen Art, nämlich solche, in denen das Wunderbare eine Rolle spielt. Mit dem Knabenmärchen aus Wahrheit und Dichtung hat es eine besondere Bewandtnis: auch hier müssen wir nicht vergessen, daß der Name des Buches lautet: Wahrheit und Dichtung. Ein Sechzigjähriger schreibt ein Märchen nieder, das er als Knabe erfunden und erzählt hat; wir haben also nicht die Dichtung eines Knaben vor uns, sondern die Dichtung eines Mannes: kindliche Fabelgesichte, die sich aus Gelesenem und Kinderwünschen gebildet haben, sind mit der formenden Kraft eines Dichters dargestellt so, daß wir die liebenswürdigsten Eindrücke bekommen.

Die Krone unserer Sammlung sind die Novellen aus den Wanderjahren und die einzelne Novelle. Die Art, wie die Wanderjahre zusammengestellt wurden, ist ja bekannt; hier wird man am wenigsten den Vorwurf der Ehrfurchtlosigkeit erheben können, wenn wir das Geformte aus dem Ungeformten aussuchen, um es zu besserer Geltung zu bringen.

Eigenes Erleben und Verarbeitung älterer Dichtung hat hier die reizendsten Geschichten ergeben; der alternde Dichter, welcher der Liebe nicht entsagen mag und nun überall fühlen muß, daß Ruhm und geistige Bedeutung doch nicht die Jugend ersetzen können, hat schmerzliche Erlebnisse zu heiteren Erzählungen geformt; aus einer dutzendmäßigen französischen Erzählung wird fast nur durch Übersetzung eine Reihenfolge schöner Bilder; ein alltägliches Vorkommnis wird mit heiterer Spannung auseinandergesetzt; ein gerader sittlicher Charakter weiß ein geringes Erlebnis zu der höchsten Bedeutung für sein inneres Leben zu gestalten; die Melusinensage wird ihrer Schauerlichkeit entkleidet, und mit dem Swiftschen Einfall verbunden, zu Lieblichkeit umgebildet; gar ein Dummenjungenstreich wird schön erzählt.

»Der Mann von fünfzig Jahren« und die »Novelle« sind die Höhepunkte; hier ist alles bis ins Letzte hinein verbunden und verknüpft, wird eine Geschichte wirklich erzählt und doch über sie hinausgewiesen auf Höheres, das hinter dem Wirklichen steht, und das nie gedanklich, sondern immer durch das Bild. Damit wir uns klar vorstellen können, wie das Kind den Löwen leitet, wird uns zu Anfang der Geschichte die Örtlichkeit durch die Erzählung der neuen Anlagen dargestellt; und dieses Kind mit dem Löwen ist dann, wenn wir lange Jahre nach dem ersten Lesen an die Geschichte denken, ein heiteres Sinnbild geworden, etwas Unwirkliches, etwas Deutendes.

Von hier muß man auch das Märchen verstehen. Es erscheint vielleicht zunächst allegorisch; aber wenn wir den Dichter ganz kennengelernt haben, so wird uns klar, daß er alles Irdische nur als Gleichnis empfand, daß so das Tote ihm lebend wurde und das Wirkliche bedeutsam; diese Bedeutung ist nicht begrifflich darzustellen, es ist keine Art von Philosophie, die er hier gibt, sondern es ist gleich jenem poetischen Mitleben, für das wir unschuldige Zeiten in den vergangenen Zuständen der Menschheit erträumen.


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