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Der Adel

(1920)

Der Graf v. Tressnau war ein Gelehrter und Schriftsteller, der um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die altfranzösische Literatur studiert hatte und Auszüge alter Romane herausgab, die damals zum größten Teil nur handschriftlich vorlagen. In der Einleitung zu einem solchen Auszug, in welcher er seinen Lesern die alte Dichtung verständlich zu machen sucht, erzählt er folgende kleine Geschichte:

»Ein berühmter Mann, welcher der Achtung und Erkenntlichkeit aller denkenden Leute während eines hundertjährigen Lebens würdig war, sagte eines Tages bei einer Frau von höherem Geist in meiner Gegenwart und vor einer der Freundinnen des Hauses (welche die Musen und Eroten beweint haben und noch beweinen): ›Ich erinnere mich, gelegentlich geschrieben zu haben, und ich bereue es nicht, daß das Naive nur eine Spielart des Niedrigen ist ...‹(dabei war dieser Mann ein Zeitgenosse und Freund von Lafontaine gewesen!) Die Herrin des Hauses und ich schlugen die Augen nieder und wagten dem geliebten und achtungswürdigen Greis nichts zu antworten; aber seine junge Freundin, wiewohl von denselben Gefühlen durchdrungen, konnte ihre erste Bewegung nicht zurückhalten und rief aus: ›Ja, Sie haben recht, wenn Sie an die einzige Art von Geist nicht glauben, die Ihnen fehlt.‹ – Auf diese Worte schlug der Greis seinerseits die Augen nieder und antwortete nicht; die junge Person wurde feuerrot; die Tränen standen ihr sogar in den Augen; sein und unser Schweigen erdrückte sie. Verzweifelt, daß sie den verehrungswürdigen Mann gekränkt hatte, sagte sie leise: ›Was hat mich auch zu dieser Unklugheit bewegen können?‹ Ich antwortete ihr: ›Nun, wer verdiente es mehr als Sie, das Werkzeug der Wahrheit zu sein?‹«

Man spricht so oft von der gesellschaftlichen Gesittung der Franzosen. Sie ist ja heute auch verschwunden; nur ihre Nachwirkungen sind noch immer vorhanden und verursachen die allgemeine Zuneigung der Welt für das französische Volk. Sie war lebendig in der Zeit, als Geist, Vornehmheit und Reichtum in einer Klasse vereinigt waren, und unsere Geschichte ist eine kleine Probe von ihr.

In der kleinen Gesellschaft Tressans stoßen zwei Welten aufeinander: die adlige und die bürgerliche. Der verehrungswürdige Greis vertritt die bürgerliche, die übrigen die adlige Welt. Das Bürgertum hat ja seitdem gesiegt; es hat in dem Maße gesiegt, daß die Leute jetzt überhaupt nicht mehr wissen, was Adel ist; vielleicht ist es heute, wo nun in der Lohnarbeiterklasse auch der niedrigste Teil des Bürgertums sich zu dem, was man Gleichberechtigung nennt, emporgerungen hat, nicht ganz unangebracht, wenn man sich einmal klarmacht, was Adel eigentlich bedeutete.

Adel ist Gesinnung; das ist das Erste. Er ist nur insofern ein Stand, als er eine Gesinnung ist. Er hat das mit dem anderen höheren Stand, dem Priesterstand, gemeinsam. Diese beiden Stände unterscheiden sich also in ihrer Beschaffenheit von dem sogenannten dritten Stand, dem Bürgertum. Man kann natürlich dem Bürgertum angehören und als einzelne Persönlichkeit eine adlige oder priesterliche Gesinnung haben oder sich sonstwie auszeichnen; aber das hat mit der Tatsache, daß man Bürger ist, nichts zu tun. Wenn Man adelig oder ein Priester ist und nicht die adelige oder priesterliche Gesinnung hat, dann wird man aus seinem Stand ausgestoßen; aus dem Bürgertum kann man nicht ausgestoßen werden, denn Bürger ist jeder, der nicht adelig oder Priester ist. Mit anderen Worten: der Adel ist die Ordnung der adelig, und die Kirche die Ordnung der priesterlich Gesinnten. Jede Ordnung ist genötigt, nach äußerlichen Merkmalen zu gehen. Erfahrungsgemäß findet sich adelige Gesinnung am sichersten bei Personen, welche von Eltern mit adliger Gesinnung abstammen und in Verhältnissen leben, durch welche sie irgendwie von der Gemeinheit des Erwerbslebens befreit sind. Bei Männern, welche diese Bedingungen erfüllen, ist also ein günstiges Vorurteil gegeben, und man wird sie in den Ritterorden aufnehmen, wenn sie dieses Vorurteil nicht enttäuschen. Man darf doch auch nicht vergessen, daß die Personen des Standes sich ja alle persönlich kannten und genau wußten, was von einem jungen Mann aus einem bestimmten Haus voraussichtlich zu erwarten war. Es war damit aber nicht ausgeschlossen, daß auch ein junger Mann ohne Ahnen und ohne Vermögen in den Ritterorden aufgenommen wurde; nur hatte er es naturgemäß schwerer, indem ihm kein günstiges Vorurteil half und er erst beweisen mußte, was man bei den Andern ohne weiteres glaubte.

Im Mittelalter war das gesellschaftliche Leben, soweit es eine politische Form angenommen hatte, auf den Ordnungen der Stände, Klassen und Berufe aufgebaut. Indem Adel und Geistlichkeit nun die herrschenden Stände waren, war die Herrschaft im Volk – soweit man damals von Herrschaft sprechen konnte – also in den Händen von Leuten, welche nur insofern in der Lage waren zu herrschen, als sie eine höhere Gesinnung hatten.

Wir müssen uns natürlich immer klarmachen, daß hier nicht von den Zeiten des Verfalls dieser mittelalterlichen Ordnung gesprochen wird, von den Zeiten also, wo Adel und Geistlichkeit als die auf Kosten Anderer bevorzugten Stände erscheinen. Aus diesen Zeiten stammt die demokratische Gegnerschaft gegen den Adel. Eine solche Gegnerschaft ist erst möglich, wenn der Adel kein Adel mehr ist; und nicht die »Demokratie« hat die »Adelsherrschaft« gestürzt, sondern die Adelsherrschaft fiel von selber, als sie nicht mehr Herrschaft der sittlich Besten war. Daß sie sich aber jahrhundertelang gehalten hat, das beweist, daß sie nicht nur vorgeblich, sondern auch tatsächlich einmal adelig gewesen ist.

Eine Gesellschaftsordnung, in welcher die Leitung in der Hand eines Verbandes der Menschen von höherer Sittlichkeit liegt, ist nun offenbar aber eine natürliche Ordnung.

Die natürliche Aufgabe des Menschen ist seine seelische Höherbildung. Alles Andere ist nur ein Mittel für diese Aufgabe; und zu diesen Mitteln gehört vor allen Dingen der Erwerb seines Unterhalts. Seit dem Sturz der Adelsherrschaft haben wir bürgerliche Gesellschaftsordnungen der verschiedensten Art, zu denen auch, wenn sie sich durchsetzen ließen, die sozialistischen und kommunistischen Ordnungen gehören würden. Diese bürgerlichen Ordnungen ruhen nicht auf der Herrschaft eines Verbandes der Menschen von höherer Sittlichkeit, sondern sie sind Einrichtungen zum besseren, ertragreicheren oder gleichmäßigeren Erwerb des Lebensmittelunterhaltes.

Die adelige wie die bürgerliche Gesellschaftsordnung hat als Zweck die Erhaltung des gesellschaftlichen Lebens. Aber im ersten Fall kommt dieser Zweck als Nebenwirkung zustande, im zweiten Fall als einzige Wirkung. Im ersten Fall bleibt die natürliche Aufgabe des Menschen auch im gesellschaftlichen Leben an ihrer Stelle; im zweiten Falle muß sie die ihr gebührende erste Stelle einem Mittel abtreten. Von hier aus kommt das allgemeine Übel der bürgerlichen Gesellschaft, daß die Mittel zum Zweck werden; an diesem allgemeinen Übel ist noch jede bürgerliche Form der Gesellschaft zugrunde gegangen; wie nun vor unseren Augen die kapitalistische Form zusammenbricht, genau so wird auch die sozialistische zusammenbrechen: in Gier, Gemeinheit und Vernichtung jeder höheren Errungenschaft des menschlichen Geistes. Fast sinnbildlich wirkt die Gegenüberstellung der Kriegssitten des Mittelalters und der Gegenwart. Der Krieger des Mittelalters durfte nur so viel Nahrung vom Feld des feindlichen Bauern nehmen, als er von der Landstraße mit der Lanze erreichen konnte; heute wird das feindliche Land ausgehungert. Damals war der Krieg ein Gottesgericht, denn der Stärkste siegte, das war der, welcher der Mutigste war, weil seine Sache die gute Sache war; heute ist er eine Probe dafür, wer die größten Machtmittel in der Hand hat. Einem Ritter, der gekämpft hätte, wie im Weltkrieg gekämpft ist, wären die goldenen Sporen zerbrochen als einem feigen, treulosen und verräterischen Ritter.

Nun ruht aber das, was wir Kultur nennen, auf der höheren Sittlichkeit.

Die Leute wundern sich oft, woher es eigentlich kommt, daß heute die eigentliche Kunst vollkommen außerhalb der Gesellschaft steht, daß die Dichter und Künstler die Gesellschaft verachten und von ihr nicht gekannt werden, während im Mittelalter die Kunst zur Gesellschaft gehörte. Wenn heute ein Fürst oder Präsident einen Bau macht, ein Bild oder eine Figur bestellt, eine Dichtung unterstützt, so weiß man doch im voraus, daß da nur das verächtliche Zeug herauskommt, dessen selbst die große Masse sich nach kaum einem Menschenalter schon schämt. Im Mittelalter traf der Fürst, der Bürgermeister, der Zunftvorstand sogar, der ein Kunstwerk bestellte, unzweifelhaft den besten Künstler, und das elende Lumpenpack der Kitschiers, wie man sie heute nennt, gab es überhaupt nicht. Es ergab sich daraus, daß im Mittelalter jede künstlerische Begabung sich ausleben konnte, während heute Einer nur weniges von dem gestalten kann, was in ihm lebt.

Wir können uns an dem Geschichtchen, das am Anfang unserer Betrachtung berichtet ist, den Zusammenhang klar machen.

Nach seiner Gesinnung gehört der Künstler zum Adel. Wenn die Könige wirklich Könige sind und nicht Philister, welche komödiantisch sich mit dem Königsmantel behängen, dann steht der Dichter neben ihnen. Noch ein Mann wie der alte Kaiser Wilhelm, der als Mensch etwa eine kleinbürgerliche Beamtennatur war, hatte die alte vornehme Gesinnung der Kunst gegenüber. Er wird vermutlich nicht viel von Musik verstanden haben, aber sein königliches Gefühl ließ ihn über Richard Wagner das Richtigste aussprechen, das damals vielleicht über ihn gesagt ist: »Entzückende Sekunden und widerliche Stunden«, und ließ ihn diesem Mann gegenüber, der zu seiner Zeit doch die bedeutendste Kunsterscheinung war, das angemessenste Benehmen innehalten.

Die drei vornehmen Personen in unserer oben berichteten Anekdote »Tressan und die beiden Damen«, schätzten das »Naive« in der Kunst – wir würden heute sagen »die Natur« – richtig ein. Der Bürger kann die Natur nicht verstehen, denn sein ganzes Leben geht gegen die Natur; er findet das Naive eine Spielart des Niedrigen; für ihn gibt es nur die Verlogenheit, die von Menschenalter zu Menschenalter umschlägt, von Empfindsamkeit zu Roheit, von Verstiegenheit zu Plattheit, bei der nichts beständig ist als die Albernheit.

Wie sollte es auch anders möglich sein? Der Künstler ist eng verbunden mit dem Göttlichen, in seinem Werk äußert sich, was der göttliche Wille mit den Manschen ist. Auch der vornehme Mann ist eng verbunden mit dem Göttlichen, in seinem Leben wird das erfüllt, was Gott von den Menschen verlangt. Das Leben des vornehmen Mannes hat dieselbe Beziehung zum Ewigen wie das Kunstwerk; deshalb fühlt der Vornehme, was Kunst ist, ohne daß er einen Kunstrichter braucht, und versteht sich der Künstler mit dem Vornehmen, ohne daß ein Kunsthändler nötig ist. Aber ein Mann, der sein Volk ordnet lediglich nach dem Gesichtspunkt der reichlicheren oder billigeren Erwerbung des Unterhalts, hat doch nicht die geringste Verbindung mit dem Göttlichen. Lloyd George ist gewiß ein hervorragender Mann in seiner Art und sicher viel klüger als der alte Kaiser Wilhelm war; aber der Gemeinheit eines solchen Mannes wird doch die Kunst ewig verschlossen bleiben, und er würde einer Erscheinung wie Wagner ewig ohne Verständnis gegenüberstehen. Der Gelehrte, von dem Tressau erzählt, kann doch keinen Schimmer von Kunstverständnis gehabt haben.

So kommt es heute, daß die höchsten menschlichen Begabungen sich zum großen Teil in fruchtlosen Kämpfen aufreiben müssen und nur weniges von dem, das sie der Menschheit schenken könnten, von ihnen geschaffen werden kann.

Aber die unheilvolle Wirkung einer unnatürlichen Gesellschaftsordnung beschränkt sich nicht nur auf diese Menschen.

In der großen Menge verstreut sind überall die Möglichkeiten höherer Gesittung vorhanden. Diese entfalten sich in günstigen Verhältnissen und verkommen in ungünstigen. Das Volk richtet sich stets nach seinen Führern. In Zeiten adliger Gesittung ist vornehme Gesinnung auch im Volk vorhanden, indem alle Möglichkeiten höheren Lebens zu Wirklichkeiten werden.

Wir können heute die Probe machen. Die Zeit, welche nun zusammengebrochen ist, war gewiß alles andere als vornehm. Aber wenn auch kein König mehr da war, wenigstens der Mantel des Königs war noch auf dem Thron zu sehen. Und es war im Volk, wenn auch keine sittliche Gesinnung, doch wenigstens ihre äußere Form noch vorhanden. Heute ist auch diese geschwunden, die Gemeinheit tritt uns unverhüllt entgegen. Weshalb sollte sie auch nicht? Sie ist ja heute die Herrscherin in unserem Volk.


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