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Der geistliche Tod

(1918)

Wenn man lange genug gelebt hat, daß man eine Reihe menschlicher Schicksale verfolgen konnte, so wird man die Beobachtung gemacht haben, daß das Leben der Seele nicht gleichmäßig läuft mit dem Leben des Körpers. Wir sehen einen jungen Manschen sich innerlich entwickeln weit über seine Jahre hinaus; wir sehen ihn innerlich hinter seinen Jahren zurückbleiben; und wir sehen endlich, was vielleicht das Wunderbarste ist, daß bei den meisten Manschen die Seele bis zu einem gewissen Punkte wächst, dann stehenbleibt und selbst abstirbt, indessen der Körper noch Jahre und Jahrzehnte weiterlebt.

Wer die Lebenserfahrung noch nicht hat, daß er solche Beobachtungen anstellen konnte, der kann die geschichtlich bekannten Persönlichkeiten vor seinem prüfenden Auge vorüberziehen lassen. Er wird am besten tun, wenn er für seine Untersuchung Dichter auswählt, weil die Reihe der Werke eines Dichters die Aufeinanderfolge seiner Seelenzustände darstellt. Er wird dann sehen: dieser Dichter lebte seelisch bis zu seinem zwanzigsten Jahre; indessen er vielleicht noch in seinem achtzigsten Jahre schrieb; jener lebte seelisch bis zu seinem körperlichen Tod.

Unsere Vorfahren haben sich mit den Zuständen der Seele mehr beschäftigt als wir, die wir scheinbar wichtigere Dinge zu tun haben. Sie haben, was sie erforschten, in ihrer Sprache ausgedrückt, die nicht mehr unsere Sprache ist und deshalb leicht falsch verstanden wird. Man muß ihre Forschungsergebnisse in dem großen Lehrgebäude suchen, das wir die christliche Dogmatik nennen. Was in der christlichen Dogmatik der »geistliche Tod« genannt wird, das ist die Erscheinung, von welcher hier die Rede ist.

Dieser geistliche Tod nun findet sich nicht nur im Leben der Einzelnen, er findet sich auch im Leben der Völker.

Wenn man sein Auge geschärft hat für diese Dinge, dann mag einem oft ein Grauen überkommen, wenn man inmitten eines großen

Kreises von Menschen steht, aus deren aller Augen eine gestorbene Seele schaut, wenn man die engsten Beziehungen zu Menschen hat, von denen man weiß, daß sie nur noch als leere Hülsen leben, und die doch selber sich notwendig noch für wirkliche Menschen halten müssen. Aber noch fürchterlicher ist für den, welcher sehen kann, der Anblick toter Völker, die sich selber noch für lebendig halten, noch Taten tun und Wirkungen auf andere ausüben, als ob sie noch lebendig waren.

Wir wollen ein ganz schlimmes Beispiel nehmen.

Nach unsern Kenntnissen leben im heutigen Ägypten die reinen Nachkömmlinge des alten Pharaonenvolkes. Man hat in einer Töpferwerkstatt aus einem sehr alten Herrschergeschlecht Fingerabdrücke im Lehm gefunden, die genau mit den Fingerabdrücken der Leute gegenwärtig übereinstimmen. Als man die erste der bekannten Holzfiguren des sogenannten Dorfschulzen aus dem Nilschlamm ausgrub, riefen die Arbeiter: »Das ist ein Dorfschulze« – die Figur hat den Namen von diesem Ausruf bekommen –; denn die Wirklichkeitsdarstellung zeigte in Haltung, Kleidung, Ausdruck und Körperform ganz das Urbild eines solchen Mannes, wie ihn die Leute noch täglich sehen können. Man dürfte solcher Zeugnisse noch mehrere anführen.

Nun haben die alten Ägypter selbständig eine sehr hohe Gesittung geschaffen und im Wirtschaftlichen und Handwerklichen Entsprechendes erreicht. In einer Kunst, in der Bildhauerei, haben sie das Höchste gewirkt, das Menschen bis heute geglückt ist; wir müssen dabei immer an die Erfüllung der Form denken, denn der seelische Gehalt ist uns bei einer fremden Rasse natürlich sehr schwer zugänglich, und wenn uns ein griechisches Standbild zunächst mehr und Höheres sagt, so kommt das einfach daher, daß der griechische Körper von unserer eigenen Rasse ist. Was wir von der ägyptischen Dichtung wissen, das macht – wir können es nicht ganz verstehen – einen sehr bedeutenden Eindruck, die ägyptische Religion ist sehr ernst und würdig. Im Handwerklichen, das ja bei seiner untergeordneten Natur leichter Vergleiche zuläßt, erstaunt uns selbst heute noch etwa die Bearbeitung des harten Steines in den wunderbaren Schalen schon aus den ältesten Zeiten, die Bewältigung der ungeheuren Masse etwa eines Obelisken.

Nun, im ägyptischen Volk von heute ist von einer höheren Gesittung nichts mehr vorhanden; und selbst das Niedrigste von bloß geistiger Fähigkeit, das mit dem Seelischen schon fast gar nichts mehr zu tun hat, die handwerkliche Begabung, ist völlig verschwunden. Bei den Maschinen des Suezkanals kann man ägyptische Arbeiter nicht gebrauchen, man muß europäische Arbeiter verwenden.

Das Schicksal des ägyptischen Volkes ist besonders furchtbar dadurch, daß es von einer solchen Höhe in eine solche Tiefe gestürzt ist. Gerade dadurch aber kann es uns manches erklären, was wir anderswo – vielleicht auch sogar bei uns selber – noch nicht so deutlich erkennen können.

Ein Volk lebt Jahrtausende, wo der einzelne Jahrzehnte lebt. Bei den Ägyptern können wir die Jahrtausende verfolgen, wenigstens so weit, daß wir ahnen können, wie ihr Schicksal sich erklärt.

Wir erfahren einmal von einem König, dem klar wurde, daß das Volk unter der Umschlingung durch die Priesterherrschaft zugrunde gehen mußte. Er beschloß einen Umsturz, wie er tiefergehend vielleicht nie versucht ist: er wollte einen neuen Gott schaffen, um so, indem mit den alten Göttern die Priester ihre Macht verloren, dem Volk die Möglichkeit einer freieren Ordnung zu geben, eines weiteren und selbständigeren Lebens. Die Priesterherrschaft war, wie der König wohl eingesehen hatte, nur das zweite: das erste war der Glaube des Volkes. Wenn das Volk einen Glauben bekommen konnte, der es aufwärts führte, dann war es gerettet; wenn es den alten Glauben behielt, der früher einmal lebendig gewesen, aber nun tot war, dann starb das Volk. Der König konnte das Volk nicht aufrütteln, der Umsturz mißlang. Nach seinem Tod meißelten die Priester selbst seinen Namen aus den Inschriften, damit er in Vergessenheit geraten sollte. Der König war das Gewissen des Volkes gewesen; es war dem Volk bequemer gewesen, in der alten Weise dahinzuleben, das gedankenlos zu erfüllen, was die Vorfahren mit Geist erfüllt hatten. Wahrscheinlich war, was wir heute »Organisation« nennen, vortrefflich gewesen: wahrscheinlich herrschte Sicherheit des Lebens

und Eigentums, war Reichtum bei den höheren Klassen und Wohlleben bei den niedern. Der Name des Königs wurde ausgemeißelt, es wurde vergessen, daß das Gewissen des Volkes einmal gesagt hatte, daß Ordnung und Sicherheit, Reichtum und Wohlleben nicht Ziele für den Menschen sind, daß der Mensch einen Glauben suchen muß und sich nicht damit zufrieden geben darf, daß seine Vorfahren auch einen Glauben für ihn geschaffen haben: denn eine Religion ist kein körperliches Gut, das man von seinen Vorfahren ererben kann; sondern sie ist ein Ziel, das unendlich weit vor unserm Auge steht, das wir erstreben müssen während unseres ganzen Lebens; und glücklich sind wir, wenn wir es auf denselben Wegen erstreben können wie unsere Vorfahren.

Sehr selten hat es seitdem wieder einmal einen Herrscher gegeben von der Einsicht jenes Königs: vielleicht hatte auch er die Einsicht nur deshalb gehabt, weil es schon zu spät war.

Ein Volk, das nur für Ordnung und Sicherheit, Reichtum und Wohlleben da ist, das nichts davon weiß, daß es täglich neu seinen Gott suchen muß, sondern seine religiösen Pflichten tut, wie es seine Steuern bezahlt; mag es auch ehrlich und redlich arbeiten, mag es seine Pflicht erfüllen und sittlich sein im bürgerlichen Sinn; ein solches Volk kann, wie alle geschichtlichen Beispiele zeigen, seine Unabhängigkeit nicht bewahren.

Es kamen die ersten Eroberer, rohe Barbaren. Scheinbar wurde im wesentlichen nichts geändert; die barbarischen Herren übernahmen einfach die vorhandene Staatsmaschinerie, und alles ging seinen alten Gang. Das nationale Bewußtsein erstarkt wieder unter der Fremdherrschaft, die Fremden werden vertrieben, und es wird wieder ein nationaler Staat begründet. Aber dieser bedeutet nur eine weitere Zersetzung. Wenn die Seele eines Volkes leer ist, dann fließt von außen, von andern Völkern, Geistiges und auch Seelisches in sie hinein. Aber diese Fremdstoffe können nicht verarbeitet werden; sie wirken nur als Gift. Als im Ausland sich eine genügend bedeutende geistige Macht entwickelt hatte, verfiel ihr Ägypten rettungslos; wir können in der Bildhauerei am deutlichsten verfolgen, wie die griechische Gesittung auflösend und vernichtend wirkt.

Die bloße Lebenskraft des Volkes ist noch vorhanden. Als im Orient sich jene Gesittung zweiter Hand entwickelt, welche wir als hellenistische Kultur bezeichnen, da steht Ägypten wieder im Vordergrund. Die Formensprache in den bildenden und schmückenden Künsten war griechisch, und die gesprochenen und geschriebenen Worte, die Begriffe und Ideen in Philosophie und Wissenschaft waren griechisch; aber der Boden, auf dem die hellenistische Kultur wuchs, war größtenteils ägyptisch. Es kommt das Christentum. Es ist in Ägypten mit besonderer Inbrunst aufgenommen, und eine seiner wichtigsten Erscheinungen, das Mönchtum, entstand bei den Ägyptern. Es kommt die Lehre Mohammeds; und das Volk, das seine alten Götter verlassen hatte für den hellenistischen Olymp, und diesen für den christlichen Gott, nahm nun den Glauben an Allah an. Und noch jetzt war seine Lebenskraft nicht erloschen. Wie es die griechische Formensprache gelernt hatte, so lernte es nun die Formensprache der Araber und baute, schnitzte und goß die schönsten der arabischen Kunstwerke.

Heute ist auch diese Fähigkeit erloschen. In die neuzeitliche Maschinentechnik kann sich das Volk nicht mehr hineinfinden. Aber die Fellachen bebauen noch immer ihre Äcker, sie erzeugen Kinder, und auch deren Kinder haben Kinder; in Arbeit, Schlaf und Essen vergeht ihr Leben.

Die Urahnen haben in ihrer Bildhauerei eine Form gefunden, durch welche sie das höchste Seelische ausdrücken konnten. Die Ahnen haben die heitere Zierkunst von Herkulanum und Pompeji geschaffen; die Väter haben die Kalifengräber bei Kairo gebaut; die Söhne können nicht die Arbeit eines englischen Schlossergesellen machen. Man muß die Jahrtausende beobachten können, wenn man das Leben eines Volkes verstehen will; die Jahrhunderte genügen nicht. Seit Goethes Tod und dem Zusammenbruch der Hegelschen Philosophie hat Deutschland kein seelisches Leben mehr gehabt. Es ist möglich, daß die deutsche Seele nur schlummert, und daß sie nach dem Erwachen gestärkt um so Besseres gibt. Wir wissen es nicht, aber wir müssen es glauben, denn Deutschlands Seele ist die Rechtfertigung für das Bestehen von Europa; Europa müßte zugrunde gehen, wenn die deutsche Seele nicht wieder erwachte. Vielleicht ist dieser Krieg geschickt, um sie wieder zu erwecken: das wäre seine Rechtfertigung.


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