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Bestreben und Forderung

(1917)

Es gibt einen Ausspruch von Goethe: »Vor der Revolution war alles Bestreben, nach der Revolution verwandelte sich alles in Forderung.«

Der tiefe Ausspruch kann manches erklären von den oft so unheimlichen Erscheinungen der Gegenwart; und vielleicht, wenn wir Erscheinungen richtig erklärt haben, dann können wir sie besser einordnen, und sie verlieren etwas von ihrer Unheimlichkeit.

Bestreben wie Fordern sind beides Urtriebe, sie stehen in einem gewissen Gegensatz zueinander. Es verändert sich alles, Dinge wie Menschen. Es verändert sich von innen heraus durch Weiterbilden und Entwickeln, wie der Keim aus dem Samenkorn, die Pflanze aus dem Keim, die Blüte aus der Pflanze und die Frucht aus der Blüte hervorwachsen. Geschieht das Hervorwachsen in einem selbstbewußten Wesen, wie der Mensch ist, dann erscheint es als das Ergebnis des Bestrebens, denn was in der unbewußten Natur dumpfes Geschehen ist, das ist im Wünschen bewußtes Wollen. Aber dieselbe Veränderung kann man auch als eine Veränderung von außen her betrachten. Wenn der Same seinen Keim in den Boden senkt, so nimmt er von außen aus dem Boden fremde Stoffe auf, paßt die sich an und verwendet sie zu seinem Aufbau; so wird Pflanze, Blüte und Frucht gebildet durch von außen geholte anorganische Bestandteile. Wenn man diesen Vorgang aus der unbewußten Natur in das menschliche Leben versetzt, so erscheint er als das Ergebnis eines Forderns. Ohne das organische Sichentwickeln und das anorganische Sichaneignen gibt es also keine Veränderung in unserem Sein, das ja nur Veränderung ist; und das Bestreben ist so notwendig wie das Fordern.

Man kann verstehen, daß der Dichter, der ja im höchsten Maße organisch fühlt, den Vorgang immer wird von der Seite des Bestrebens beobachten wollen, und daß ihm das Fordern als etwas Unheimliches erscheint; man wird auch verstehen, daß die Männer, welche ein Volk in den äußeren Dingen leiten, die Politiker, den Vorgang immer von der Seite des Forderns betrachten werden, indem sie das Bestreben, wenn sie es überhaupt bedenken, für eine selbstverständliche Folge der erreichten Forderung auffassen, für ein Verarbeiten des Erreichten.

Die Zeiten innerer Sammlung und äußeren Kämpfens lösen sich naturgemäß ab; in den einen herrschen die Dichter, waltet das organische Bestreben vor; in den andern herrschen die Politiker – das Wort im weitesten Sinne genommen: nicht die Staatsmänner, sondern die Volksführer, die Publizisten, die Männer der Volksvertretung und andere – welche anorganisch fordern. Ist man in dem einen Zeitalter groß geworden und hat eine Bildung von seinen Eindrücken empfangen, so ist verständlich, daß man nur mit tiefster Besorgnis das andere Zeitalter betrachten kann, dessen Anbruch man eben erlebt. Wer in einer organischen Zeit aufwuchs, der wird Auflösung aller Ordnung und Natur in dem neuen Zeitalter sehen, und wer in einer anorganischen Zeit aufwuchs, der wird Stillstand und Rückbildung zu erblicken glauben. Das menschliche Leben ist zu kurz, der Geist selbst des Größten ist zu eng, um beides gleich verstehen zu können: man kann im günstigsten Fall das eine verstehen und das andere sich verstandesmäßig klarmachen. Aber man muß sich, wenn auch nur verstandesmäßig, sagen, daß beides gleich notwendig ist.

Wir leben nun offenkundig in einer anorganischen Zeit, in einer Zeit des Forderns. Diese Zeit beginnt mit der Französischen Revolution. Gefordert wird die allgemeine Gleichheit aller Menschen in allen Dingen. In diesem Kriege geht offenkundig eine neue Welle dieses Forderns durch die ganze gesittete Welt.

Organisch fühlende Menschen fragen mit Recht, was denn bis nun aus der bereits erreichten Gleichheit herausgekommen sei: und man wird ihnen ehrlich antworten müssen, daß das nicht viel Erfreuliches ist. Aber man muß seinen Blick so einstellen, daß er einen weiteren Zeitraum umfaßt; zu diesem Zeitalter des Forderns gehört notwendig ein Zeitalter des Bestrebens, dessen erste Anfänge man vielleicht jetzt schon beobachten kann.

Man denke an die geschichtliche Ähnlichkeit der Reformation. Die Reformation hatte gefordert. Was war das Ergebnis? Nach hundert

Jahren zeigte es sich, daß hundert Bildungsansätze zerstört waren, daß alle Gelegenheit vernichtet war, wo Einzelne und Gesellschaften hatten nach Höherem streben können, daß der Friede verschwunden war, in dem allein eine Höherentwicklung möglich ist; die Menschen müssen doch damals das Gefühl einer völligen Auflösung gehabt haben. Diese Auflösung fand ihren Höhepunkt in dem fürchterlichen Dreißigjährigen Krieg, der das Land endgültig zu verwüsten schien, von welchem die Reformation ausgegangen war. Aber dann kam das Zeitalter des Bestrebens, das seinen Höhepunkt fand in unserem deutschen klassischen Idealismus: dieser ist doch nur möglich als Ergebnis der Reformation, als das Aufbauen zu einem Organismus, Aufbauen jener anorganischen Stoffe, die damals durch Forderung zusammengekommen waren.

Unsere frommen Vorfahren sagten: Wir stehen in Gottes Hand,, Gott wird alles zum Besten fügen. Wir Heutigen haben eine andere Ausdrucksweise als unsere Vorfahren: aber wenn wir glauben, daß der Einzelne den Weltenlauf nicht überschauen kann, daß von einem höheren Standpunkt, als der ist, den der Einzelne einnehmen kann, alles geschichtliche Geschehen sinnvoll erscheint, dann glauben wir in Wirklichkeit dasselbe wie unsere Alten. Wir können in derselben Sicherheit, in demselben Vertrauen leben wie sie.

Man kann die göttliche Bedeutung der verschiedenen Völker erkennen durch eine solche Einsicht.

Damit die Reformation möglich war, mußte es ein deutsches Volk geben; damit die Revolution möglich war, mußte ein französisches Volk da sein. Man kann das eine Volk lieben und das andere sehr wenig schätzen; aber für die gesamte Menschheit sind beide Völker wichtig, jedes hat seinen eigenen Beruf zu erfüllen.

Wir können ruhig davon sprechen, daß wir in einer Zeit leben, in welcher die Begehrlichkeit der Massen erwacht ist; und wir können, wenn wir auf die Länder sehen, wo die Massen am meisten erreicht haben, was sie wollten, zu dem Schluß kommen, daß die Begehrlichkeit sich selbst betrogen hat. Würde ein gebildeter italienischer Katholik über das Deutschland der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts anders geurteilt haben? War etwas von evangelischer Freiheit in den damaligen

kleinlich durchzankten Landeskirchen zu sehen? Dennoch stand damals die ganze Welt im Bann der deutschen Gedanken, auch die katholische Welt. Es ist heute ebenso mit den Gedanken der Französischen Revolution. Wollen wir ehrlich sein, so müssen wir sagen, daß sie uns lächerlich erscheinen; dennoch stehen wir selber in ihrem Bann. Die Franzosen haben den Mut gehabt, diese Gedanken zu gestalten; was sie endgültig für die Menschheit bedeuten, das werden wir erst sehen können, wenn das Zeitalter des Bestrebens aus ihnen nun etwas Organisches geschaffen hat – vielleicht sind es nicht die Franzosen, denen diese Aufgabe zufallen wird.

Denn hier zeigt sich nun der Wert der einzelnen Völker außer jener Bedeutung.

Die Deutschen mit ihrer religiösen Revolution forderten doch nur Seelisches; die Franzosen mit ihrer politischen forderten im Grund Materielles. Das Seelische, das nur erst durch Forderung angeeignet war, kann allmählich durch Bestreben zum wirklichen Eigentum gemacht werden; das Materielle ist erworben durch die erfüllte Forderung und kann nicht näher und tiefer angeeignet werden; es ist nur möglich, daß aus dem Materiellen sich wieder Seelisches bildet.

Das aber scheint bei den Deutschen vor sich zu gehen.

Die Franzosen haben in ihrer Revolution dem Adel seine erworbenen Rechte geraubt und einen Kleinbauernstand geschaffen, der in Besitz und Erwerb sein Genügen findet und bei Nüchternheit, verständigem Sinn und bürgerlicher Bescheidenheit mit dem kleinen Lebensgenuß zufrieden, als Grundlage für ein Volk von kleinen Rentnern dient. Mit einem Wort: die Franzosen haben jetzt, was sie wollen. Vielleicht erklärt sich der Unsinn ihrer Beteiligung am Weltkrieg daraus, daß ein unbewußtes Gefühl sie treibt, daß ein solches Leben nicht genügt, und so halten sie sich die hohlen Worte von Ruhm und Freiheit vor ihr Philistertum als Deckung. Bei den Deutschen gilt Besitz und Erwerb nur als ein Mittel der Höherbildung. Das wird ja durchaus nicht immer bewußt, und in der Wirklichkeit treffen wir oft genug eine rein sinnliche Verwendung; die Höherbildung wird oft genug ganz oberflächlich gefaßt als ein Erwerb von Wissen und Steigen auf eine höhere gesellschaftliche Stufe; aber der Grundtrieb ist jedenfalls eine Befreiung und Bildung der Seele; und vielleicht liegt es nur an dem Fehlen einer großen Schauung heute, welche einen solchen Trieb in Bewegung setzen könnte, daß wir in der Wirklichkeit so viel von jenem Unerfreulichen sehen. Sehr lehrreich ist der Vergleich des Wortlautes der Marseillaise in den beiden Sprachen, wie es da im Deutschen schließlich darauf hinauskommt, daß »Der Feind, der uns umlagert« – »Der Unverstand der Massen« ist: rührender kann doch in einem Revolutionslied, das diese Massen selber singen, das geistige Streben nicht ausgedrückt werden.

Es fehlt heute die große Schauung: in dem Augenblick, wo wir sie haben, werden in unserem Volk tausend Kräfte ihr zuströmen, welche sich in der Zeit des Forderns gebildet haben. Diese Schauung kann nicht von den Fordernden geschaffen werden, die muß aus anderen Bezirken des Volkes kommen. Darum, wenn uns heute das Herz oft schwer wird gegenüber dem Anorganischen, Begehrlichen, Zügellosen: wir müssen uns immer sagen, daß für die höheren Geister des Volkes gerade nun eine Aufgabe gestellt ist, die scheinbare Auflösung in eine neue Bildung zu verwandeln, indem ihr ein großes sittliches Ziel gegeben wird. Es ist ein altes Bild, daß man sich ein Volk als einen Körper denkt. Nun, dieser Körper ist sehr erstarkt, er weiß nicht, was er anfangen soll mit seinen strotzenden Kräften. Im Sitz seiner Seele müssen ihm Betätigungen gewiesen werden: dann wird ein Segen sein, was Vielen von uns heute, und gewiß nicht den Schlechtesten, oft genug als ein Fluch erscheinen mag.


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