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Der Wert der Worte

(1918)

Wir haben die Worte, von denen wir annehmen, daß wir allgemein feste Begriffe mit ihnen verbinden; durch diese Worte verständigen wir uns mit unseren gleichzeitig lebenden Mitmenschen; durch sie glauben wir unsere Begriffe der Zukunft zu überliefern und die Begriffe der Vergangenheit kennenzulernen.

Die Ansicht, daß wir allgemein feste Begriffe mit den Worten verbinden, ist aber grundfalsch. Die Worte verändern in der Zeit unmerklich oder merklich ihren Sinn, und sie bedeuten auch für die Zeitgenossen durchaus nicht immer dasselbe.

Aus diesem Umstand ergeben sich sehr große Schwierigkeiten für das gesellige Leben der Menschen; sehr viele Kämpfe sind nur durch ihn entstanden.

Wir wollen ein grobes Beispiel nehmen, bei welchem der Begriff, welcher durch das Wort ausgedrückt wird, sich merklich geändert hat. Wr gebrauchen heute allgemein das Wort »Herr« vor dem Eigennamen eines Mannes, wenn wir ihn anreden oder über ihn sprechen. Im Mittelalter drückte das Wort vor dem Namen einen bestimmten gesellschaftlichen Rang aus. Wer das nicht wüßte, der würde ganz falsche Schlüsse ziehen; man weiß das aber allgemein, und so ist man zu irrtümlichen Ansichten nicht versucht. Es gibt noch heute Gegenden, wo man Männer aus den niedrigsten Schichten nicht mit »Herr« anredet; man weiß aber, daß deshalb nicht etwa ein Arbeiter in Berlin ein vornehmerer Mann ist als ein Arbeiter in Oberbayern.

Ein Beispiel von gerade entgegengesetzter Art wäre etwa das Wort »Gott«. Wir müssen wissen, daß das Wort in jedem Jahrhundert etwas Anderes bedeutet hat und heute gleichzeitig bei jeder Art Menschen, ja, unter den Höchststehenden, bei jedem Einzelmenschen, etwas Anderes bedeutet; wir müssen das wissen, wir wissen es auch; aber es ist doch nicht zu leugnen, daß wir uns oft genug Mühe geben, es zu vergessen.

In der Mitte zwischen den beiden äußersten Punkten liegt ein Wort, bei welchem gerade heute die Begriffsverschiebung große Folgen hat: das Wort »Arbeit«.

Alles Seelische, das wir mit dem Wort Arbeit verbinden, verbinden wir mit dem Wort, insofern es einen Begriff ausdrückt, der heute immer mehr verschwindet, dadurch entstehen eine Menge schiefer Urteile und Gedanken und sehr viel Haß und Feindschaft unter den Menschen.

Wenn man heute einen selbständigen kleinen Bauern beobachtet, der nicht von Schulden gedrückt wird und nicht vom Geldteufel geplagt ist, dann kann man eine Vorstellung davon gewinnen, was früher Arbeit war – wohlgemerkt, die schwerste Arbeit. Diese Arbeit ist nicht wesentlich verschieden vom Spiel des Kindes: nur ihre Zwecksetzung ist verständiger als das Spiel. In den natürlichen Verhältnissen wachst das Kind auch von selber aus dem Spiel in die Arbeit hinein; da bei den Frauen die natürlichen Verhältnisse sich allgemein am längsten gehalten hatten, so war das bei ihnen am deutlichsten durch das Spielen mit Puppen und mit Puppenküche; es ist sehr bezeichnend für unsere Zeit, daß diese alten Madchenspiele zurückgehen und abgezogeneren Spielen Platz machen.

Diese alte Arbeit war eine Betätigung der geistigen wie körperlichen Kraft zum unmittelbaren Erwerb der Nahrung, Kleidung und Wohnung; sie ging immer unmittelbar auf den Bedarf, und dieser wurde unmittelbar durch sie befriedigt; sie wechselte beständig ab und nahm alle Seiten des Menschen in Anspruch; Trägheit und Fleiß zeigten sich in ihren Folgen unzweideutig; und wenigstens in unseren Breitegraden entsprach sie durchaus dem Bedürfnis des Menschen, der bei uns sich ja regen muß. Manches von dem, was früher Erwerbsarbeit war, haben wir heute als Vergnügen, wie etwa die Jagd, die Bienenzucht, die Gemüsegärtnerei, ja, das Holzhacken. Der Fluch, der in der Geschichte vom Sündenfall auf die Arbeit gelegt ist, entspricht den Verhältnissen ganz anderer Völker. Wir haben immer das Bewußtsein gehabt, daß die Arbeit ein Segen ist, und unsere Religion hat sie auch immer so aufgefaßt, trotz der Überlieferung jenes Fluches aus den jüdischen Glaubensbüchern.

Im Lauf der Zeit haben sich Arten von Arbeit abgespalten, welche unter ganz anderen Bedingungen geschehen. Auch unter ihnen gibt es solche, die als Segen, ja, als leidenschaftlich erfaßtes Glück erscheinen. Die Arbeit des Künstlers oder auch des Gelehrten ist von der Art.

Vielleicht bezeichnet nichts tiefer den Unterschied der neuen Zeit von der älteren, als das Entstehen zunächst einer neuen Art von Arbeit, welche immer nur als Last, ja als Fluch aufgefaßt werden konnte, und die Neigung, diese Art von Arbeit die gewöhnliche und allgemeine werden zu lassen, indem auch die Manschen, welche noch in den alten Verhältnissen arbeiteten, ihre Arbeit der neuen Art anähneln mußten. Indem wir uns die Begriffsverschiebung nicht klarmachen, haben wir immer noch nicht das rechte Verständnis für diesen neuen Anstand gewonnen und bilden uns immer noch falsche Gedanken über ihn.

Ein Mann, der zwölf oder auch zehn oder auch acht Stunden in einer Fabrik steht und eine Anzahl mechanischer Spindeln beaufsichtigt: er hat nichts zu tun als aufzupassen, ob ein Faden reißt und einen gerissenen wieder anzuknüpfen; ein Mann, der eine solche Arbeit Tag für Tag zu verrichten hat, der fährt ein nervenzerrüttendes Leben und muß seine Arbeit als eine fürchterliche Qual empfinden. Es wird ihm selber vielleicht nicht klar, wodurch er leidet; vielleicht wird es ihm selbst heute noch nicht klar, wo Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung ihn, wie sie es nennen, aufgeklärt haben. Er fühlt nur, daß er unbefriedigt ist, daß er etwas suchen muß, etwas, das er für Glück halt, und das vielleicht Alkohol, Ausschweifung, Vergnügen, Aufregung, Streit, Leichtfertigkeit – irgendeine der Erscheinungen ist, durch welche sich bei den Proletariern das Leben auflöst. Der Außenstehende gibt dem Mann die sittliche Schuld; der Tieferblickende sucht die Schuld in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in der Wohnungsfrage, in der Hoffnungslosigkeit seines Daseins, in vielen anderen ähnlichen Dingen: die Schuld liegt darin, daß die Arbeit, welche für den Menschen das höchste Glück bedeuten soll, indem sie eine Äußerung aller seiner Kräfte ist, eine Qual für ihn geworden ist.

Das Schlimme ist ja nicht die Maschinenarbeit an sich; sie ist sicher etwas Unseliges gegenüber der natürlichen Arbeit; aber wenn die Menschen eine andere gesellschaftliche Ordnung hätten, wenn sie nur ausnahmsweise geleistet werden müßte von Menschen, welche im übrigen naturgemäß leben können, so wäre sie durchaus erträglich. Das Schlimmere ist, daß sie verbunden wird mit der allgemeinen seelenlosen Hast des heutigen Erwerbslebens, bei dem es nicht mehr darauf ankommt, daß ein ensch für sich oder auch für einen andern ein vernünftiges Bedürfnis befriedigt, sondern wo die Absicht ist, daß ein Reingewinn entsteht, der immer bedroht ist von Mitstrebenden, immer durch größere Hast wieder erobert werden muß. So hat sich denn das Seelenlose der Maschinenarbeit überall sonsthin in unserem Leben verbreitet, auch wo nicht mit der Maschine gearbeitet wird; und überall ist denn das Ende, das beim Arbeiter an den Spindeln sich zeigte: daß die Menschen erschöpft werden, ohne doch ihre eigentliche Kraft ausgegeben zu haben, und daß nun das Bedürfnis entsteht nach allen jenen Äußerungen, die wir schon beim Arbeiter sahen. Diese Äußerungen selber aber nehmen dann gleichfalls wieder das Wesen des Maschinenmäßigen an, und wenn es etwas gibt, das den Zuschauer trauriger stimmen kann als die Arbeit der Menschen von heute, dann sind es ihre Vergnügungen.

Was hier gesagt ist, das ist ja gewiß nicht neu; es ist seit Beginn der gegenwärtigen Zeitläufte von vielen Leuten schon gesagt, immer ohne Erfolg. Es wird auch heute noch ohne Erfolg gesagt, denn wir können ja täglich sehen, wie Menschen, welche noch in natürlichen Zuständen leben, sich freiwillig in das Getriebe des heutigen Lebens begeben, in welchem sie notwendig unglücklich werden müssen. Gerade das unglücklich Machende ist es, das anzieht, das Erregende, Beunruhigende. Man kann über die Erscheinung von den verschiedensten Gesichtspunkten aus nachdenken. Wäre nicht ein Gesichtspunkt, von dem aus man sie einmal untersuchen sollte, die Macht des Wortes?

Wir machen uns die Macht des Wortes selten klar, weil wir immer dunkel die Vorstellung haben, daß die Worte sich mit den Begriffen, und diese sich mit den Erscheinungen decken. Wie wir sahen, ist das durchaus nicht der Fall; wir wissen das auch gedanklich; bei gewissen Verhältnissen auch praktisch; bei gewissen Verhältnissen treibt es uns, so zu handeln, als wüßten wir es nicht; bei den allermeisten Verhältnissen aber gehen wir nach jener dunklen Vorstellung, die ja dem Menschen natürlich sein muß, denn wenn er sich jede Regung überlegen wollte, dann könnte er ja nicht leben.

Urtümliche Völker haben den Glauben an eine zauberische Kraft der Worte. Uns heute erscheint ein solcher Glaube unverständlich, weil wir den Gedankengang dieser alten Völker nicht mehr verfolgen können.

Der Gedankengang ist aber ganz richtig. Diese Völker empfinden das Leben frischer als wir, und es sind ihnen deshalb auch die Widersprüche deutlicher, die wir aus Gewohnheit nicht mehr sehen. Sie wissen, daß die Wirklichkeit etwas Anderes ist als das Wort, und daß das Wort uns zwingt, so zu leben, wie das Wort will, und nicht, wie die Wirklichkeit verlangt. Man kann sagen: unser gesamtes gesellschaftliches Leben heute wäre anders, wenn die Menschen für die heutige Arbeit ein Wort gefunden hatten, das von dem Wort für die frühere organische Arbeit verschieden wäre.

Von dem alten dänischen Singspieldichter Heiberg liegt ein reizendes kleines Werk vor, das auf diesem zauberischen Wesen des Wortes ruht.

Ein Mensch, so, wie so Menschen zu sein pflegen, stirbt, und seine Seele macht sich auf den Weg ins Jenseits. Sie findet zwei Tore; über dem einen steht »Himmel«, über dem anderen »Hölle«. Da er so war, wie Menschen zu sein pflegen, so ist er natürlich überzeugt, daß er in den Himmel gehört. Er klopft an, Petrus sieht aus dem Pförtnerfenster und begrüßt ihn. Es entwickelt sich ein Gespräch, und im Verlauf dieses Gespräches fragt die Seele: »Nun, was treibt man denn eigentlich im Himmel?« »Oh«, erwidert der heilige Petrus, »man hört gute Musik, Bach, Haydn, Händel« ... »So?« fragt erstaunt die Seele. »Man liest gute Bücher, Homer, Sophokles « ... »Soo?« fragt noch erstaunter die Seele. »Man arbeitet sehr fleißig ...« »Sooo?« fragt noch erstaunter die Seele und fährt fort: »Nun, ich will doch auch einmal an der anderen Pforte fragen. « Am andern Tor erkundigt sie sich gleichfalls, was man drinnen tut. »Oh«, erwidert der öffnende Teufel, »wir haben hier Weinstuben, Bierstuben, Cafes; da sitzt man, es ist wunderschöner Tabaksrauch überall, man liest Zeitungen, man spielt Karten, man trinkt, man spricht über die Verhältnisse seiner Mitmenschen« ... »Da gehöre ich hin«, ruft jubelnd die Seele aus und geht in die Hölle.

Heiberg war ein Dichter, und eine Hauptaufgabe des Dichters ist es ja, die Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Wort immer wieder ins Gleiche zu bringen. Er hat es hier mit Himmel und Hölle getan, indem er den Leuten zeigt, daß das Wort Himmel den Zustand des guten Menschen (das brauchen nicht gerade die bürgerlich-braven zu sein) bezeichnet. Ich glaube, daß das Singspiel mehr nützt als viele Predigten: vielleicht würden unsere Zustände heute besser sein, wenn wir Dichter hätten, welche in solcher Weise den Worten ihren wahren Wert geben könnten.


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