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Die Kunst und das Volk

(1913)

Die heutigen Menschen sprechen so viel über die Kunst, forschen so viel über sie und haben so viele Einrichtungen für Kunstbetrieb, wie wohl selten Menschen früherer Zeiten; dennoch wird man wohl sagen können, daß die Kunst für das Leben der Völker heute nicht so viel bedeutet wie in manchen Zeiten der Vergangenheit, in welchen viel weniger Geräusch mit ihr gemacht wurde.

Man kann nun wohl im allgemeinen behaupten, daß die Förderung, Unterstützung und Verbreitung der Kunst, Erziehung zur Kunst, Kunstbelehrung und Erklärung jeder Art der eigentlichen Kunst selten oder nie zugute kommen; durch diese Betätigungen aber wird der größte Teil des heutigen Kunstgeräusches erzielt. Für die Betätigungen hatte man in früheren Zeiten etwas, das uns immer mehr abhanden kommt: die Erziehung durch die Kunst. Wenn man in unseren höheren Schulen Homer und Sophokles, Horaz und Ovid, Schiller und Goethe liest, so liegt zum Teil da noch der alte Gedanke zugrunde, daß die Dichtungen erzieherisch wirken; aber es ist ja klar, daß diese Art der Erziehung im Absterben ist und eine neue sich herausbildet; die Erziehung durch die Dichtung kann immer nur bildend wirken, nie uns Wissen verschaffen oder Fähigkeiten und Fertigkeiten erzeugen; und so erleben wir denn gerade bei diesen Überbleibseln aus früheren gebildeteren Zeiten das Schnurrige, daß die heutigen Leute sie anders wenden möchten; nicht durch die Kunst, sondern zu ihr möchten sie erziehen und neue Fachleute da züchten, wo man früher Persönlichkeiten schuf.

Diese Erscheinungen hängen damit zusammen, daß die Mitmenschen heute nicht wissen, was die Kunst für ein Volk bedeutet, was sie überhaupt bis jetzt für die ganze Menschheit bedeutet hat. Diese Unwissenheit ist ja nur möglich dadurch, daß in unser allgemeines Bewußtsein so ungeheuer viel frühere Kunstarbeit übergegangen ist, welches uns denn nun als selbstverständliches allgemeines menschliches Gut gilt, daß wir unser tägliches Leben mit ihr bestreiten können; aber wir dürfen nicht vergessen, daß ein Schatz abnimmt, welcher nicht vermehrt wird, und daß durch die Weiterentwicklung der Kunst, welche nicht durch beständige Aufnahme begleitet wird, eine immer tiefere Kluft zwischen der Gesittung und der Nation entsteht, so daß am Ende die heutigen Völker in Roheit versinken müßten.

So sonderbar es erscheinen mag: die Erziehung durch die Kunst beginnt schon bei den Wahrnehmungen.

Der Mensch ist ein in allen seinen Handlungen zweckbedachtes Tier; was ihm nichts nutzt, das tut er nicht. Wahrnehmungen sind aber auch Handlungen; so geht der rohe Mensch blind durch alle Wunder der Schöpfung und bemerkt bloß, was ihm wirtschaftlich bedeutend ist. Erst der Künstler nimmt uneigennützig wahr, und indem er das Wahrgenommene darstellt, öffnet er den andern die Augen, vielmehr, zwingt er sie, mit seinen Augen zu sehen. Sie sehen nun, was sie bis dahin nicht sahen; und hier schon beginnt die ungeheure Wirkung guter und schlechter Kunst. Unendlich viel Verschrobenheit, Albernheit und Unsinn der Menschen entsteht dadurch, daß sie die Wirklichkeit mit den Augen schlechter Künstler sehen, unendlich viel Freude, Kraft und Verstand wird erzeugt, wenn sie durch die Augen guter Künstler blicken.

Was der Spießer so Naturgenuß nennt, das ist ja immer etwas Dummes; denn von Genuß ist da zunächst überhaupt keine Rede. Der Künstler »genießt« nicht, wenn er wahrnimmt, sondern er schafft; wer dann später wirklich mit seinen Augen sieht, der schafft nach: er erweitert und vertieft sein Weltbild. Das ist eine jener Tätigkeiten, welche dem Leben erst Wert, Inhalt und Bedeutung geben; und da dem Philister der Genuß als das einzig Wertvolle im Leben erscheint, so hält er naturgemäß eine solche Tätigkeit für einen Genuß, den er dann, so gut es geht, nachzumachen sucht. Nun ist es ja mit dem Genuß eine eigene Sache; in den weitaus meisten Fällen genießen die Menschen wirklich, wenn sie die Einbildung gewonnen haben, daß sie genießen; und so kann es denn geschehen, daß am Ende der Reihe der Philister etwa eine Luststimmung mit wahrem Genuß betrachtet, die zu ihrer Zeit die Verzweiflung des guten Malers ausmachte, welcher sie als erster darzustellen suchte.

Die Erweiterung und Vertiefung des Weltbildes: sie ist immer und überall die erste Folge der Beschäftigung mit der Kunst. Der rohe Mensch hält jeden für einen Schurken, der andere Bestrebungen hat wie er selber: wie ungezählte Jahrtausende muß die Dichtung gearbeitet haben, bis es dem Menschen klar wird, daß der andere genau ein solches Wesen ist wie er, bis er versteht, daß er nur eine Welle ist neben anderen, daß hinter seinem Willen etwas Allgemeines vorhanden ist, das auf Gott zurückgeht! Die Religion zieht die Folgen aus diesen Einsichten; ebenso wie bei der Naturbetrachtung ist das Verhältnis hier umgekehrt, wie das ungeschulte Denken vermutet.

Mit der künstlerischen Wahrnehmung eng verknüpft ist die künstlerische Empfindung: der Künstler nimmt ja nur deshalb feiner wahr, weil er feiner empfindet; feinere Empfindung ist aber tiefere und gerechtere Empfindung, denn sie entsteht dadurch, daß der Künstler imstande ist, seine Seele außer sich und von seinem Nutzen losgelöst zu halten, sie in die fremden Dinge zu versenken.

Man hat sich oft gewundert über die zarte Menschlichkeit bei Homer und hat angenommen, daß seine Zeit doch von einem merkwürdigen Hochstande des Menschentums gewesen sein müsse. Aber wenn man genauer zusieht, so merkt man, daß die Zeit es etwa für richtig hielt, wenn heimkehrende Krieger eine wildfremde Ortschaft aus bloßer Raubsucht angreifen, die Männer ermorden, Frauen und Kinder als Sklaven mitschleppen. Hat der Odysseus, von dem das berichtet wird, in Wirklichkeit die Empfindungen gehabt, welche Homer so oft von ihm erzählt? Homer hat sie ihm nur geliehen aus seiner Dichterseele, und mit solchem Erfolg, daß wir heute, nachdem mehr als zweiundeinhalbes Jahrtausend verflossen sind, seit er dichtete, das Furchtbare gar nicht mehr bemerken, das er so gelassen und ruhig erzählt, denn wir vergessen es über der zarten Gesinnung des Dichters. Das ganze griechische Altertum wird ja auf diese Weise für unser Gefühl verklärt; was für grausige Taten geschahen im Peloponnesischen Krieg, auf dem Höhepunkt der griechischen Kultur – Taten, wie wir sie etwa von den Indianern erwarten würden; und welche Höhe der Menschlichkeit nehmen für unsere Vorstellung diese Leute ein; wir übertragen eben die Leitbilder der Dichter auf sie.

Wenn aber einmal Einer die Empfindung eines Dichters nachempfunden hat, so ist seine ursprüngliche Roheit schon geschwächt, und je mehr der Einfluß der Dichter gewinnt, desto mehr werden Empfindungen des Dichters die Empfindungen der anderen Menschen.

Wahrnehmungen und Empfindungen sind immer an irgendwelche Darstellung geknüpft. Die künstlerische Darstellung hat die Eigentümlichkeit,

daß sie sich dem Geist der Menschen tiefer einprägt als der größte Teil der Wirklichkeit; dadurch kommt es, daß ein großer Teil der Vorstellungen, welche die Menschen haben, irgendwie aus der Kunst stammt. Jede Vorstellung aber, welche aus der Kunst stammt, ist klarer, richtiger und im höheren Sinn vernünftiger als entsprechend die Vorstellung aus der Wirklichkeit; sie ist auch reiner losgelöst von allem Selbstischen und wirkt dadurch unmittelbar veredelnd.

Auch hier wieder ist natürlich immer nur von guter Kunst gesprochen; schlechte Kunst schafft falsche und unvernünftige Vorstellungen; aber schlechte Kunst, welche ja überhaupt erst entstanden ist in unserer geschäftlichen Zeit, kann man eigentlich gar nicht als Kunst bezeichnen, da sie in allen wesentlichen Merkmalen etwas Anderes ist, wie man einen elenden Ersatz ja auch nicht mit dem Namen des Dinges belegt, welches er ersetzen soll. Aus den Wahrnehmungen, Empfindungen und Vorstellungen nun bildet sich ein großer Teil der Gesinnungen der Menschen und ein großer Teil ihrer Willensantriebe.

Es ist natürlich nicht gemeint, wenn unmögliche – im höheren Sinne unmögliche – Charaktere und Handlungen, die in braver erzieherischer Absicht geschrieben sind, zur Nacheiferung reizen sollen. Die Erfahrung zeigt, daß solche Absichten nie erreicht werden. Aber jedes wirkliche Kunstwerk wirkt auf unmittelbare Weise veredelnd auf die Gesinnungen der Menschen und ihre Willensantriebe, schon allein dadurch, daß ja das Selbstische, die unmittelbare Leidenschaft ausgeschaltet sind. Es kommt dazu, daß unbeabsichtigt im Lauf der Zeit die bedeutende Kunst eines Volkes eine Reihe Leitbilder dessen schafft, was in dem Volk nach Ausdruck ringt, daß diese Leitbilder dann wieder Ursachen für die Einzelnen abgeben, sich nach ihnen zu bilden, denn in der noch bildungsfähigen Jugend ist der Einfluß der Kunst ja am größten.

Wenn wir die Bildung des protestantischen Teils unseres Volkes verfolgen, soweit wir sie vernünftigerweise verfolgen können, nämlich bis zum Schluß des Dreißigjährigen Krieges, wo alles neu werden mußte, so sehen wir nach dem wüsten Durcheinander und furchtbaren

Arbeiten der ersten Geschlechter als wichtigstes Bildungsmittel die durch die Bibelgesellschaften verbreitete und überall fleißig gelesene Bibel. Das Religiöse und Erbauliche herrschte wohl vor, aber alles Dichterische, das sie enthält, wirkte doch in überraschender Weise: die Urvätergeschichten, die Gleichnisse, die Psalmen, so vieles, was man für geschichtlich hielt und das in Wirklichkeit Dichtung war. Aus diesem Boden ist unsere klassische Literatur und Philosophie erwachsen. Mancher wird vielleicht beklagen, daß der Einfluß der Bibel zu früh aufgehört hat; vielleicht ist der bemerkbare Rückgang unseres geistigen Lebens, der etwa mit Goethes Tod ganz klar wird und noch heute andauert, dadurch verursacht. Heute beginnt an die Stelle der Bibel unsere klassische Literatur zu treten; unzweifelhaft dringt sie gegenwärtig ins Volk, die Unmengen von billigen Klassikerausgaben werden nicht nur gekauft, sie werden doch auch gelesen, und im Laufe der Zeit wird man die Wirkungen davon verspüren. Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Gesittung doch ganz jung ist; wenn wir hören, daß ein Kuli in China mit seinen Klassikern vertraut ist, so dürfen wir nicht vergessen, daß in China die Gesittung sich fast ununterbrochen entwickelte, wenigstens im Vergleich zu uns. Sollten uns einige Jahrhunderte ruhiger Weiterentwicklung beschieden sein, so wird auch ein deutscher Fabrikarbeiter Goethes »Iphigenie« lesen und ihren Empfindungs- und Vorstellungsgehalt in sich aufnehmen.

Und hier sollten wir nach zwei Richtungen ernste Gedanken fassen.

Die Einen sollten sich sagen, daß die Kunst nicht bloß jener Luxus ist, als welcher sie einer nicht sehr hochstehenden Zeit erscheint, welche die Kunst immer nur als Kunstgewerbe verstehen kann, sondern die ernsteste Angelegenheit eines Volkes, denn sie stellt dessen künftigen seelischen Gehalt dar; und die Anderen sollten sich sagen: jedes Wort, das wir dichten, muß einst seine Wirkung haben zur Veredelung und Vergeistigung unseres Volkes.


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