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Geheimer Ausspruch Bismarcks über Goethe

(1918)

Die Lehre von Marx, wie sie volkstümlich dargestellt wird, behauptet eine »Herrschaft« des Adels, der eine »Herrschaft« der Bourgeoisie gefolgt sei, die ihrerseits wieder von einer »Herrschaft« des Proletariats abgelöst werde.

Mit dem Wort »Herrschaft« ist etwas Anderes gemeint, als das Wort sonst ausdrückt. Marx will sagen, daß die Klassen, welche er nennt, in bestimmten Zeiten ihre Klassenziele als allgemeine Ziele der Gesellschaft durchsetzen. »Herrschaft« der Bourgeoisie hat es nie gegeben. In den bourgeoisen Zeiten ist die Herrschaft in der Hand der Beamtenwelt, die ihrerseits mehr oder weniger von den Parlamenten abhängig ist; denn darauf kommt der Zustand tatsächlich hinaus; man muß freilich »Regierung« und »Verwaltung« unterscheiden, und es gab außerdem nicht nur parlamentarische, sondern auch monarchische Regierungen; aber wer die Verwaltung hat, der hat denn tatsächlich auch die Regierung, er ist ein Herrscher, dessen Herrschaft nur in einer gewissen Abhängigkeit von dem anerkannten Herrscher steht. Wie die Herrschaft des Proletariats aussehen würde, davon mag Rußland ein Bild geben; sie würde als Herrschaft der Volksbeauftragten durch Beamte, Geheimpolizei und Rote Armee erscheinen.

Wenn man so nach dem Marxschen Schema die »Herrschaft« der drei Klassen betrachtet, dann macht man sich nicht klar, daß die Herrschaft des Adels etwas ganz Anderes ist als die der beiden andern Klassen. Beim Adel ist der Herrscher Selbstzweck, bei den anderen Klassen nur Mittel für die Zwecke der ganzen Gesellschaft, wie sie nun einmal aufgefaßt wird. Bei aristokratischer Gesellschaftsordnung ist die Vorstellung, daß es gewisse Menschen gibt, die nur für sich selber da sind, und andere, welche für andere Menschen leben; bei den andern Gesellschaftsordnungen leben alle Menschen für die Andern und keiner für sich. Bei der aristokratischen Gesellschaftsordnung hat man Diener oder ist selber Diener; bei den andern Ordnungen ist man ein nützliches Glied der Gesellschaft, ist also auf jeden Fall Diener.

Was jeden Menschen von Geist gegen die »Herrschaft« des Proletariats empört, das ist die Zumutung, daß es unter ihr nur noch nützliche Glieder der Gesellschaft geben soll, denn er weiß, daß man notwendig die Leute mit Geist nie zu diesen nützlichen Gliedern rechnet, wenigstens nicht, solange sie leben. Grundsätzlich denkt die bürgerliche Gesellschaft ja ebenso. Aber in ihr gibt es für die Männer von Geist doch immer irgend welche nicht vorhergesehene Möglichkeiten, sie können irgendwo unterschlüpfen und unbeachtet leben; das ist unter dem unbarmherzig nützlichen Proletariat nicht mehr möglich. Goethe ist der große bürgerliche Dichter – soweit ein bürgerlicher Dichter groß sein kann – und bei ihm kann man denn den Anspruch auf den gesellschaftlichen Nutzen ganz deutlich sehen, man kann auch sehen, wie der Anspruch die dichterische Welt zerstört, die nun eben einmal nicht »nützlich« ist.

Faust strebt nach Selbstvollendung: so sehr, daß er sich dem Mephistopheles übergeben will, wenn er nur einmal rastet, wenn er zum Augenblick nur einmal sagt: »Verweile doch, du bist so schön«. Dieses Streben nach Selbstvollendung muß doch wohl bewirken, daß der Mensch ganz auf sich allein ruht, daß er nicht andere braucht, auch nicht als Zweck. Und was ist das Ergebnis, als er in das hohe Alter eintritt, wo er die Früchte dieser Lebensarbeit ernten würde? Er schafft Land, damit Menschen auf ihm wohnen können. Gibt es nicht schon Menschen genug? Müssen es noch mehr werden? Muß selbst dem Meer Boden entrissen werden, damit dort, wo die Wogen einsam rollten, nun Menschen wimmeln können, die stolz sagen, daß sie tätig sind, wenn sie für ihre Bedürfnisse sorgen? Ist das der Zweck dieses mit ungeheurem Aufwand geführten Lebens gewesen? Nicht: ein Mensch soll höher kommen, sondern: es sollen Dutzende, oder Hunderte, oder auch Tausende von Dutzenden mehr leben? Wozu sollen sie leben? Wird etwas anders durch ihre erhöhte Zahl?

Um Wilhelm Meister zu bilden, ist ein Lebensgang durch alle Gesellschaftsschichten nötig, muß eine geheime Gesellschaft bestehen, welche diesen Lebensgang mit überlegner Klugheit leitet. Wozu? Es gibt zu wenig Chirurgen, Chirurgen sind aber nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft. Also als Ergebnis des Aufwandes ergibt sich ein tüchtiger Chirurgus.

Welch ein reizendes Wesen ist Philine! Sie ist das verklärte Bild eines Dirnchens, das sich und Andern zum Vergnügen lebt und sich nicht durch töricht überflüssige Gedanken beschwert. Ein Dirnchen denkt natürlich nicht an seine Zukunft; sie ist ein Schmetterling, der ein paar Stunden im Sonnenschein gaukelt und dann irgendwo still vergeht: wenn sie von einem guten Dichter gedichtet ist, nicht zu häßlich und nicht zu empfindsam, sondern wie ein Wesen verschwinden muß, das eben nur Jugend hat und haben kann. Aber bei Goethe wird sie zur Damenschneiderin, wie sie in die gesetzten Jahre kommt, eine zierliche, gefallsüchtige und geschickte Damenschneiderin, aber doch eben ein nützliches Glied der Gesellschaft.

Ja, was ist denn diese Gesellschaft, der nun Faust, Meister und Philine zum Opfer gebracht wurden? Nichts weiter als die Summe all der Menschen, die sich für die Gesellschaft geopfert haben, also immer Einer für den Andern, mit dem Ergebnis, daß nun lauter Landwirte, Chirurgen und Damenschneiderinnen herauskommen.

Ist denn das ein Zweck für das Leben, lohnt sich da das Leben überhaupt? Mit der bürgerlichen Gesellschaft kommt es auf, daß die Wünschen zwecklos schaffen und arbeiten, nur um zu schaffen und zu arbeiten. Niemand hat etwas von der Arbeit; nur, daß mehr Menschen ihr Brot finden, deren einziger Lebenssinn eben ist, daß sie ihr Brot finden.

Die bürgerliche Gesellschaft unterscheidet sich von der proletarischen ja nur dadurch, daß die Organisation, durch welche dieses herrliche Ziel erreicht wird, anders ist. Beim Bürgertum hat man Bourgeoisie und Proletariat, freien Wettbewerb und wöchentlichen Arbeitslohn. Im Kommunismus hat man an Stelle des Bourgeois den Beamten, der die Bücher führt; und da Jeder das Recht auf Auskommen hat, auch wenn er nichts tut, so hilft man mit Maschinengewehren nach, wenn die Leute die Folgerungen aus diesem Recht ziehen. Mir scheint ja die bürgerliche Ordnung, einmal den dummen Zweck angenommen, die vernünftigere und weniger rohe Form zu sein. Aber wenn sie es auch nicht wäre, wenn wirklich im kommunistischen Zukunftsstaat die Menschen nun jene Engel würden, die aus bloßer Sittlichkeit nützliche Mitbürger sind, der Unterschied ginge doch nicht auf das Wesentliche. Das Wesentliche ist, daß bei beiden Gesellschaftsformen der Mensch für die Gesellschaft da ist, nicht die Gesellschaft für den Manschen. Ameisen und Bienen leben ja auch und sicher sind sie für ihre Gesellschaften nützlich; müßten denn die Menschen mit ihren höheren Fähigkeiten nicht höhere Ziele haben?

Ein Volk wird von seinen Dichtern gebildet. Niemals noch war der Einfluß von Goethe so tief und so breit, wie in der Zeit vor dem Kriege, in welchem die bürgerliche Gesellschaftsordnung zusammenbrach,

weil die Bürger nicht wußten, wie man das Zusammenbrechen verhüten konnte. Goethe hat unsere höhere Schicht gebildet, die so anständig war und so pflichttreu, und so unbeschreiblich mittelmäßig.

Ein Bekannter, dessen Vater viel in der Nähe Bismarcks war, erzählte mir einmal einen Bismarckschen Ausspruch, den ihm sein Vater unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit überliefert hätte: mein Bekannter erzählte ihn mir wieder unter dem Verschwiegenheitssiegel, denn ihn schauderte, als er berichtete, und er meinte, dergleichen Geheimnisse seien nicht für den offenen Markt: Bismarck hatte gesagt, Goethe sei doch auch nur so eine Schneiderseele gewesen.

In Bismarck war eine Herrschernatur, die auf Befehlen eingerichtet war und auf Gehorchen, auf Treue und auf rücksichtslosen Freiheitssinn. Er lebte in einer bürgerlichen Zeit, er konnte ja nichts anderes sein, als ein bürgerlicher Staatsmann. Aber wie hat er das Bürgertum verachtet! Er ist sein Leben lang der stolze Mann gewesen, der wußte, daß Andere für ihn da waren und nicht er für Andere, der bewußt ein Diener seines Herrn war, weil er als Diener stolz sein konnte und sein Herr ein Herr war.

Also den kleinen Übergang von der bourgeoisen Ordnung zur proletarischen sollen wir nun erleben. Wie wird es werden? Man wird natürlich Faust nicht ein so langes unnützes Leben führen, Meister nicht so kostspielig erziehen lassen und Philine gleich von Anfang an auf die Schneiderin ausbilden. Der Unterschied ist wohl nicht so sehr groß.


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