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Unmittelbare und vermittelte Wirkung der Kunst

(1916)

In den beiden letzten Menschenaltern ist in der Erziehung des Volkes eine grundstürzende Veränderung eingetreten. Zunächst drangen mit den billigen Ausgaben unsere Klassiker und Nachklassiker in einer Weise ins Volk, die wir uns, obwohl wir den Vorgang vor unseren Augen sich abspielen sehen, doch schwer vorstellen können. Dann kamen die billigen Wiedergaben klassischer Gemälde und Bildhauerwerke, die gleichfalls eine tiefe und weite Verbreitung gefunden haben. Endlich scheint jetzt auch die klassische Musik in neuer Weise durchzudringen.

Es haben hier allerhand wohlgesinnte Unternehmungen gewirkt; die Hauptsache aber ist doch wohl von selber gekommen, und jene Unternehmungen konnten ja nur wirken, weil der allgemeine Zug vorhanden war.

Diese Entwicklung ist ganz unabhängig von dem augenblicklich lebendigen Schrifttum vor sich gegangen. Im achtzehnten Jahrhundert, in der vorklassischen Zeit, war offenbar ein merkwürdiger Zusammenhang zwischen dem lebendigen Schrifttum und dem Volk; dieser Zusammenhang riß etwa um 1780. In der bildenden Kunst war er kaum je vorhanden gewesen, wenigstens wenn man die Betrachtung, wie man ja muß, mit der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg beginnt, in der Musik scheint er länger gedauert zu haben. Heute ist der Zustand nun so, daß die lebendige Kunst weniger Beziehungen zu dem lebenden Volk hat als je, daß aber die Kunst der früheren Geschlechter

die Menschen in früher unbekannter Weise zu beherrschen beginnt. Es ist doch gewiß höchst merkwürdig, wenn man in der Wohnung eines Arbeiters ein Bücherbrett mit Schiller und Goethe, Lessing und Hebbel antrifft, einen bemalten Gipsabguß nach Donatello und Wiedergaben von Rembrandtschen oder Dürerschen Bildern. Der Gipsabguß ist schlecht, die Wiedergaben zeigen eigentlich nichts von dem Namentlichen, und dem entspricht wahrscheinlich, daß der Mann die dichterischen Klassiker nur bedingt auffassen kann: aber irgend etwas muß doch von diesen Dingen auf ihn wirken, denn sonst würde er einen gefälligeren billigen Prunk vorziehen.

Die Volkstümlichkeit, wenn wir diesen hier nicht recht passenden Ausdruck gebrauchen wollen, geht unter Umständen bis recht nahe an das Lebende heran. Etwa Böcklin schien eine Weile überall verbreitet zu werden; Gottfried Keller und vielleicht auch Liliencron würden es sein, wenn ihre Werke schon billig waren; mit Menzel und Leibl wird es länger dauern.

Was bedeutet dieser merkwürdige Vorgang?

Der Begriff »Volk« ist etwas ungemein Schwankendes. Im achtzehnten Jahrhundert lebte die Landbevölkerung in den weitaus meisten Gegenden von Deutschland offenbar noch ein Leben für sich, mit alten Märchen, Geschichten und Liedern; die Landbevölkerung war auch noch nicht so schroff abgestuft wie heute in Besitzende und Besitzlose. Wenn wir in dieser Zeit von Volk sprechen, dann denken wir immer unwillkürlich an die Handwerker in den Städten. Diese aber hatten bei den eigentümlichen deutschen Verhältnissen sehr viele verwandtschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen zu den Standen, die man heute die gebildeten nennt; die Juristen und vornehmeren Mediziner standen für sich, die übrigen Studierten aber kamen oft aus dem Volk, und ihre Kinder gingen oft wieder ins Volk. Unser vorklassisches und klassisches Schrifttum war aber ein Schrifttum des heute sogenannten gebildeten Mittelstandes; dadurch kam die Wirkung einerseits auf den kleinen Adel, andrerseits auf die Handwerker: das erscheint uns heute als »Volk«.

Das deutsche Volk besteht heute nicht nur aus einer viel größeren Menge von Menschen als damals, es ist auch einerseits einheitlicher, indem durch Aufhebung der Leibeigenschaft, Schulzwang, Heeresdienst, Freizügigkeit die Unterschiede zwischen Stadt und Land viel geringer geworden sind; und andrerseits abgestufter, indem neue Klassen entstanden und zwischen den alten höhere Mauern gezogen sind. Es sind also einerseits die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Klassen sehr viel geringer wie früher, andrerseits geht infolge des ungemein erstarkten Lebens des Staates doch eine einheitliche Gesamtstimmung durch das Volk. Das Volk ist heute atomisiert; aber die Atome werden wieder in eine neue Einheit zusammengefaßt.

Das bedeutet für die Kunst, daß eine unmittelbare Wirkung immer schwieriger sein wird, daß aber die vermittelte Wirkung eine immer größere Bedeutung bekommen wird: das ist der Grund für die starke Verbreitung der wertvollen älteren Kunst in der heutigen Zeit, Um uns den Unterschied zwischen der unmittelbaren und der vermittelten Wirkung klarzumachen, wollen wir des schärferen Gegensatzes wegen einen Vergleich aus einer anderen Zeit holen. Ein Zeitgenosse von Grunewald, der etwa in Kolmar oder Aschaffenburg lebte, konnte die Bilder des großen Malers sehen; Grunewald stand gesellschaftlich nicht wesentlich höher als ein einfacher Handwerker seiner Zeit; die Handwerker, welche ihm örtlich nahe lebten und seine Bilder sahen, haben vielleicht ein unmittelbares Verständnis für sein Wollen und Können gehabt. Aber über die örtliche Nähe ging nicht viel hinaus: ein paar Kenner und Liebhaber und ein paar Maler wußten im übrigen Deutschland noch von ihm. Das war die unmittelbare Wirkung. Grunewald ist ja nicht leicht zu verstehen, und sein Wesentliches ist durch Nachbildungen nicht wiederzugeben. Aber man könnte sich doch denken, daß eines der volkserzieherischen Unternehmen durch Beschreibungen, Untersuchungen und Erklärungen seine Werke den Leuten verständlicher machte, und daß gleichzeitig farbige Wiedergaben seiner Bilder wenigstens etwas von ihm den Leuten nahebrachten; solche Wiedergaben könnten dann weit eher verbreitet werden, und die vermittelte Wirkung von Grünewalds Kunst würde eintreten.

Hier stoßen wir aber nun auf etwas Merkwürdiges.

Diese vermittelte Wirkung ist ganz etwas Anderes wie jene unmittelbare. Sie geht notwendig wenigstens teilweise durch den Verstand.

Es ist mit den großen Kunstwerken ja wie mit der Natur. Jeder nimmt sich etwas Anderes aus ihnen heraus. Schon bei der unmittelbaren Wirkung würde man verwundert sein, wenn man wußte, wie Verschiedenes die Manschen vor demselben Werk empfinden und denken; durch die zeitliche Entfernung und die Vermittlung wird aber zu alledem noch etwas ganz Neues hinzugebracht. Es geht auf der einen Seite von dem Sinnlichen des Kunstwerks unendlich viel verloren; auf der anderen Seite kommt das Geistige des Kunstwerks erst jetzt ganz zum Vorschein.

Kommt es wirklich zum Vorschein? Geht nicht etwas Anderes bor sich? Das ist eine Frage, auf die es wohl keine Antwort gibt. Was unserem Volk heute die Klassiker sind, das war ihm im achtzehnten, noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Bibel. Die Bibel ist eine Sammlung der verschiedensten Schriften, die zu einer Zeit zusammengestellt wurde, als diese Schriften klassisch geworden waren. Wir heute vermögen sie wieder so zu sehen, wie sie gemeint waren, als sie niedergeschrieben wurden: da ist Geschichte, Mythos, Liebeslied, Märchen, Predigt, Sage, Naturlyrik, Theologie, philosophisches Grübeln – ungefähr alles, was das höhere geistige Leben der Menschen ausmacht. Da sind alle Leidenschaften: Haß, Liebe, Hingabe an Gott, Grausamkeit, Geiz, Verehrung, Streben zum Höchsten und so fort. Unsere Vorfahren aber lasen die Bibel als ein Buch, das sie in allem zu Gott führen und sittlich veredeln sollte. Und sie hat beides getan.

Könnte nicht bei der gegenwärtigen Aufnahme unserer bedeutenden Kunst der Vergangenheit etwas Ähnliches vor sich gehen? Daß etwas ganz Anderes als Wirkung herauskäme, als die Künstler zu ihrer Zeit gedacht haben?

Goethe ist manchem ernsten und achtenswerten Manne seiner Zeit als ein unsittlicher und irreligiöser Schriftsteller erschienen. Haben wir ein Recht, einfach über einen solchen Mann zu lächeln? Damals hätte man zu seiner Verteidigung nur sagen können, daß wirkliche

Künstler deshalb nie unsittlich sein können, weil sie alles auf eine Daseinsebene heben, wo der Gegensaß von Sittlichkeit und Unsittlichkeit nicht mehr vorhanden ist. Eine solche Verteidigung macht erfahrungsgemäß wenig Eindruck. Heute ist es doch in manchen Kreisen schon so weit, daß man sich an Goethe religiös und sittlich erbaut.

Dieser Vorgang ist aber nun nicht etwa eine Eigentümlichkeit unserer Zeit.

Wir stellen uns Homer wohl am besten vor als einen Mann wie Ariost, der an den Höfen der kleinasiatischen vornehmen griechischen Herrn seine heiteren Werke dichtete. Es gehört eine nicht allzu kühne Einbildungskraft dazu, sich Männer zu denken, die gewiß nicht die schlechtesten ihres Volkes waren, die zu seiner Zeit den Dichter der Liebesgeschichte von Ares und Aphrodite und so manches skeptischen Verses für unsittlich und irreligiös hielten: die späteren Griechen betrachteten die Homerischen Gedichte als Religionsurkunde. Als sie das taten, dichtete Äschylus. Die Athener klagten ihn der Gottlosigkeit an und hätten ihn vielleicht hinrichten lassen, wenn nicht sein Bruder, der in der Schlacht bei Salamis den Arm verloren, für ihn eingetreten wäre. Heute erscheint uns Äschylus gerade als ein religiöser Dichter.

Welche Folgen muß es nun für die Kunst haben, wenn die unmittelbare Wirkung immer mehr verschwindet, und die vermittelte, die spätere, immer wichtiger für sie wird? Unzweifelhaft muß das die Kunst geistiger machen.

Wir müssen schon oft Zeiten einer derartigen Kunst gehabt haben; nur wird es uns heute schwer, die zu erkennen. Die orphische Dichtung der Griechen, die mystische Lyrik der Perser muß hierher gehören, vielleicht auch die byzantinische Kunst. Vielleicht erklären sich schwer verständliche Erscheinungen in der jüngsten Kunst, denen allen ja ein Überwiegen des Verstandes über die Sinnlichkeit zu eigen ist, wenn man an solche Gedanken denkt: die Künstler würden den Abstand, welchen sonst die Zeit schafft, schon selber in ihr Werk legen und eine Wirkung auf die Mitlebenden erzielen wollen, die sonst nur auf die Spätergeborenen eintritt.


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