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Dostojewskis Weltanschauung

(1913)

In der großen Ausgabe von Dostojewskis Werken ist als zwölfter Band eine Anzahl von Aufsätzen erschienen, die früher in Deutschland noch nicht bekannt waren. Für den Kenner von Dostojewskis Dichtung enthalten diese Aufsätze wohl nichts Neues; wie jeder große Dichter, so war auch Dostojewski in allen seinen Werken und immer derselbe, und was er in diesem Bande sagt, das hat er oft genug als Dichter gestaltet. Dennoch ist das Buch äußerst wertvoll, denn für die meisten Menschen wirkt ja das Grundgefühl eines bedeutenden Gebens ganz anders, wenn es gedanklich, als wenn es künstlerisch ausgedrückt wird: es macht sicher nicht den tiefen Eindruck, aber es geht deutlicher ins Bewußtsein über und wird, da ja meistens das verstandesmäßig Dargestellte überschätzt wird, ernsthafter genommen. So wird, aus Gründen der Zweckmäßigkeit, wenigstens heute wohl jeder Dichter, der mehr ist als ein bloßer Ästhet, das Bedürfnis haben, sich auch begrifflich zu äußern.

Der Ausdruck »Weltanschauung« ist recht irreführend bei einem Dichter, man sollte lieber den Ausdruck »Lebensgefühl« nehmen; immerhin gibt er eine volkstümliche Vorstellung von der Aufgabe, um welche es sich handelt.

Wenn man sich im heutigen Schrifttum umsehen will, so wird man am besten tun, auf die klassische deutsche Dichtung zurückzugehen, das letzte große Schrifttum Europas; von ihr aus kann man die Romantik, den Naturalismus und die hervorragenden völkischen Literaturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstehen, die norwegische und russische, die sich nicht so leicht wollen in das Gesamtbild der allgemeinen Entwicklung einfügen lassen.

Ibsen und Björnson haben als Voraussetzung Sören Kierkegaard; Kierkegaard aber ist eine Persönlichkeit von der Art, wie wir sie im Deutschland der vorklassischen Zeit hatten, die wir allgemein als Pietisten auffassen mögen. Der deutsche Pietismus entstand im Gegensatz gegen die Orthodoxie, er wollte das orthodoxe feste Verhältnis von Gott und Mensch in ein bewegliches Verhältnis verwandeln, ähnlich wie es die alte Mystik getan; aber er drang nicht wie die alte Mystik bis zur Metaphysik der Religion durch und belud sich zuviel mit der Sittlichkeit, es fehlte ihm der letzte religiöse Schwung. So ist der deutsche Pietismus, wie es denn wohl auch den Verhältnissen entsprach, kleinbürgerlicher Art.

Man wußte in unserer klassischen Zeit nichts von der alten Mystik; unsere großen Geister suchten über die Enge des Pietismus hinauszukommen mit Hilfe von Spinoza. Das waren keine gedanklichen Vorgänge, das waren Gefühlsvorgange; wenn man Goethes Iphigenie liest und an die Bekenntnisse einer schönen Seele denkt, so mag man sich ungefähr klarmachen, wie alles Edle und Freie, das im Pietismus war, von dem Engen und Kleinbürgerlichen befreit wird und sich nun klar und schön gestaltet in dem, was man Humanität nannte, fast ohne sichtbaren Zusammenhang mit der recht ärmlichen damaligen Welt. Wenn wir heute an die damalige Zeit denken, dann denken wir eben nur an Goethe und Schiller, Kant und Lessing und einige andere Männer und vergessen, daß außer ihnen an geistigen Leuten nur die damaligen Frommen im Lande waren.

Gewiß hat Kierkegaard einen mystischen Kern in seiner Seele, Ibsen aber und Björnson haben ihn nicht, für sie hat sich Gott ganz in Sittlichkeit aufgelöst und noch dazu nicht selten in eine beschränkte bürgerliche Sittlichkeit; sie stehen in ihrem Empfinden noch hinter einem Mann wie etwa Jung-Stilling, so kindlich der auch war. Goethe hatte sich zuletzt zu dem Gefühl der ungeheuren Weltharmonie durchgerungen; ein Jung-Stilling konnte nie anders, wie sich selber als Hauptperson in der Welt zu denken, aber er wußte doch, daß es einen Gott gab, durch dessen unermüdliches Eingreifen die Angelegenheiten dieser Hauptperson immer zu einem glücklichen Ende geführt wurden; ein Ibsen aber dichtete Brand, der sich auch als Hauptperson fühlt, und seine Ansicht als die allein richtige, aber nicht einmal diesen kindlichen Glauben hat, sondern notwendig scheitert, weil er mit dem Kopf durch die Wand will. Unsere Klassiker hätten sicher die norwegischen Dramatiker lächelnd abgelehnt und sie geistig etwa auf eine Höhe mit Iffland gestellt.

Mitten in die Arbeit unserer Klassiker kam die Französische Revolution, dann, durch die Napoleonischen Kriege, das Entstehen des Nationalitätsbewußtseins bei den europäischen Menschen.

Es ist schon oft auf die Verwandtschaft der reindemokratischen Lehren mit den Lehren des Christentums hingewiesen; aber auch das neue Nationalgefühl hatte seine tiefsten Wurzeln im Christentum, in dem Bewußtsein, daß im letzten Grunde die Unterschiede des Standes, des Vermögens, der Bildung nichts bedeuten und alle Menschen gleich und Brüder sind. Diese Zusammenhänge waren damals den Menschen zum großen Teil noch unklar; unser klassisches Schrifttum hat nichts mit ihnen anfangen können, aber in der Romantik, der französischen wie der deutschen, beginnen sie sich bemerkbar zu machen – immer noch nicht deutlich genug durch die innige Verbindung, die die Umsturzgedanken auf dem gottlosen Boden Frankreichs mit der Ungläubigkeit geschlossen hatten. In unserem politischen Leben leiden wir ja noch heute an dieser Unklarheit.

Hier hat nun auf russischem Boden die Weiterentwicklung angesetzt, und der Mann, der sie als Persönlichkeit wie als Träger der völkischen Triebe geleitet hat, ist Dostojewski.

Dostojewski ist durch diese Leistung immer noch der jüngste Geist des heutigen Europas. Aber wir können sagen: auch er ist nicht tatsächlich über das Humanitätsideal unserer Klassiker hinausgekommen; er hat es nur in dem wirklichen Leben verankert und ihm dadurch einerseits viel von seiner vernünftigen Klarheit genommen, andererseits ihm mit dem Unverstand auch eine neue mystische Tiefe gegeben, wodurch es unmittelbarer wirken kann.

Es handelt sich hier immer nur um das allgemeine Gefühl, das der dichterischen Gestaltung zugrunde liegt, nicht um die dichterische Gestaltung selber, um die Ebene und nicht um die Beschaffenheit. Dostojewski hat das Hauptgewicht auf das Inhaltliche gelegt; er war zu sehr grübelnder Sucher und begeisterter Seher, um in genügendem Maße ein heiterer Gestalter zu sein, er war das gerade Gegenteil des Ästheten. Welche Bedeutung sein Lebenswerk endgültig haben wird, wenn einstmals auch diese Kämpfe ausgekämpft sein werden, und nur noch das reine Kunst gewordene Werk eine Wirkung ausübt, ist eine ganz andere Frage, die ja aufzuwerfen gar nicht nötig sein wird; deshalb wäre es auch töricht, sich zu fragen, ob er denn als Dichter neben Goethe zu nennen ist oder nicht; hier handelt es sich um ganz andere Dinge.

Dostojewski lehrt, daß das russische Volk »Christus und die Lehre Christi in sich aufgenommen« habe; er bekennt: »ich kenne unser Volk, ich habe jahrelang mit ihm zusammengelebt, habe mit ihm gegessen und geschlafen und ward selbst ›zu den Verbrechern‹ gezählt; ich habe gemeinsam mit ihm im Schweiße des Angesichts die Arbeit schwieliger Hände verrichtet, während die anderen, die ihre Hände in ›Blut getaucht‹, die ›Liberalen‹ spielten und über das Volk spöttelten und in Vorträgen und Aufsätzen zu dem Ergebnis kamen, daß unser Volk ›von Tiergestalt und auch geistig von Tierart‹ sei. Also sagen Sie mir nicht, daß ich das Volk nicht kenne! Ich kenne es, von ihm aus habe ich Christus wieder in meine Seele aufgenommen, den ich als Kind im Elternhause kennengelernt, dann aber verloren hatte, als auch ich mich in einen ›europäischen Liberalen‹ verwandelte.« Solche Lehren werden ja nicht Jeden überzeugen; man kann mit Recht sagen, daß der persönliche Eindruck, den ein bedeutender Mensch vom Volke hat, nicht maßgebend ist, weil er eben im Volk findet, was er ihm gegeben hat. Aber nicht darauf kommt es an, ob Dostojewski eine richtige Tatsache erzählt: er stellt eine richtige Forderung; mag das Volk Christus in sich aufgenommen haben oder nicht – es soll ihn aufnehmen, und es wird ihn aufnehmen, das ist der Sinn dieser Lehre. Und wie die Völker verschieden sind nach ihren Anlagen und Gesinnungen, so werden sie diese Lehren auch verschieden erfüllen, das Volk, in welchem der Schuhmacher Jakob Böhme lebte, wird einen anderen Christus in sich aufnehmen als das russische Volk.

Schwerlich wird heute ein Mensch zur Religion kommen durch die Lehren, die er von Kindheit an hört; diese Lehren führen doch offenbar die gebildeten Menschen zur Gleichgültigkeit oder zur Gottlosigkeit; aber vielleicht war es in früheren Zeiten nicht anders, denn die bedeutenden Männer haben immer gesagt, daß Religion ein Vorgang ist, der im Verlauf des Lebens vor sich geht. Natürlich ist ein Mann wie Dostojewski tiefer in die Abgründe des Unglaubens getaucht als ein anderer: ein bedeutender Mann weiß schon, weshalb er gläubig wird.

Und hier liegt der Punkt, wo Dostojewski sein Ideal stärker verankert hat als unsere Klassiker das ihre, das tatsächlich dasselbe war: er hat sich aus sinnloser Verzweiflung und blinder Leidenschaft, aus dem ursprünglichen Bösen der menschlichen Natur gerettet; das klassische Humanitätsideal aber weiß nichts von den seelischen Abgründen; es nimmt den Menschen als ursprünglich gut an. Vergleichen wir die Idealfigur Goethes, die Iphigenie, mit Dostojewskis Idealfigur, dem Idioten. Der Idiot versteht alles Fürchterliche, Entsetzliche und Gemeine, das in einer Menschenbrust herrschen kann, Iphigenie würde erstaunt sein, wenn sie davon erführe. Es ist nicht Zufall, daß die höchste sittliche Reinheit hier in einem Weibe, dort in einem Manne verkörpert ist. Dostojewski würde den Punkt verstanden haben, um den sich das Denken Luthers drehte, die Rechtfertigung durch den Glauben; Goethe hat nicht gewußt, was damit gemeint war.

Einmal faßt Dostojewski seine Anschauung in einem Gedanken: »Sittlich ist nur das, was mit unserem Schönheitsgefühl übereinstimmt, und mit dem Ideal, in welchem es sich verkörpert.«


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