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Russische Möglichkeiten

(1918)

Seit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus hat die Welt bis heute noch eine bedeutende Dichtung gesehen: die russische. Der deutsche Idealismus hatte um 1830 seine Wirksamkeit im äußern Leben erschöpft; die russische Dichtung hat nicht nur das Leitbild für das höhere russische Leben vor dem Kriege hergegeben, sie ist auch das Lebendige im heutigen revolutionären Rußland.

Wenn man einmal weniger gedankenlos die gegenwärtigen Ereignisse betrachtet, wie das gewöhnlich geschieht, dann wird die russische Revolution vielleicht als das wichtigste dieser Ereignisse erscheinen, denn in ihr wird jedenfalls zum erstenmal der Versuch gemacht, grundsätzlich über die bestehenden Verhältnisse hinauszukommen und eine neue Welt zu schaffen. Schon jetzt kann man wohl sagen, daß sie für die Menschheit eine größere Bedeutung haben wird, als die französische Revolution hatte. Ist anzunehmen, daß der Versuch glückt? Ob man die Frage bejaht oder verneint, das kommt darauf an, ob man glaubt, daß in der russischen Revolution etwas Vernünftiges geschaffen wird.

Etwas Vernünftiges. Daß unsere herrschenden Zustände tief unvernünftig sind, das gibt wohl heute jeder zu. Aber wer sich genauer in der Geschichte umsieht, der wird finden, daß die Menschheit den weitaus größten Teil ihrer Geschichte in unvernünftigen Zustanden verbracht hat. Es ist durchaus nicht gesagt, daß nun eine bestehende Unvernunft durch Vernunft abgelöst werden muß, es kann auch nur eine neue Unvernunft

kommen. Es geht der Geschichte, wie es jeder Wirklichkeit geht; jeder Künstler weiß, daß die Wirklichkeit fast immer falsch ist. Die tiefsten Ziele der russischen Revolution sind in Dostojewski vorgebildet: man muß natürlich es verstehen, die Umsetzung aus dem Politischen und Sozialen ins Menschliche zu machen, wenn man das sehen will, denn ein Dichter hat ja eben eine andere Sprache wie der Staatsmann, er gestaltet mit Charakteren und Schicksalen wie der Staatsmann mit Einrichtungen.

Am schärfsten hat Dostojewski seine Frage im »Idioten« gefaßt. Der Idiot, der Held des Romans, ist ein Erlöser, wie es Buddha und Christus ist. Die Gestalten von Buddha und Christus sind uns in einer geschichtlichen Erzählung dargestellt, wir sehen deshalb ihre erlösende Tätigkeit ausgeübt auf einen so großen Kreis, daß wir die Vorstellung ihres Volkes und ihrer Zeit bekommen; sie sind die lebendigen Herren noch bestehender Religionen geworden, und so erlösen sie noch heute die Menschen, welche an sie glauben. Der »Idiot« ist ein Roman, ein geschlossenes Kunstwerk; hier muß also die große Masse der Menschen, welche in der Geschichterzählung unterschiedlos und zufällig wogt und so den Eindruck der Gesamtheit macht, durch typische Einzelwesen ersetzt werden; und es kann keine unmittelbare Erlösung von Menschen außerhalb der Erzählung durch den Helden geschehen, weil er ja gedichtet ist und nicht als geschichtliche Wirklichkeit geglaubt wird. Das müssen wir uns klarmachen, wenn wir betrachten. Aber wir müssen wissen, daß es sich da nur um formale Unterschiede handelt. Wie vielleicht die geschichtlich geglaubten Gestalten von Jesus und Buddha aus Dichtung entstanden sind, so könnte aus dem Gehalt der Dostojewskischen Dichtung Religion mit geschichtlich geglaubter Persönlichkeit werden: vielleicht, indem Menschen in der Wirklichkeit das leben, was Dostojewski gedichtet hat.

Nun, der Idiot ist also ein Erlöser. Alle Menschen, mit denen er in Berührung kommt, können durch ihn von ihrer Lüge befreit werden und nun vernünftig leben, so, wie es Gott gewollt hat, daß sie leben sollen.

Alle Menschen können das. Aber es gibt Menschen, welche ihm Widerstand entgegenstellen.

Es wird von Christus erzählt, daß er in seiner Heimat predigte. Die Leute warfen ihn mit Steinen. Er sprach gelassen ein Witzwort, schüttelte den Staub von seinen Füßen und ging. In der Geschichte der letzten Tage Buddhas wird von einem Mönch erzählt, der nach Buddhas Tod sich freut und spricht: Nun ist kein Mensch mehr da, der uns immer sagt: »Achtet auf, nehmt euch zusammen.« Es wird über diesen Mönch in der Geschichte kein Tadel ausgesprochen, es wird nur berichtet, was er gesagt hat; wie ja auch Christus keinen Tadel ausspricht, sondern nur ein Witzwort sagt und den Staub von seinen Füßen schüttelt.

Die Dogmatik hat begrifflich ausgearbeitet, was bei den Gottmenschen Leben war. Sie hat die Lehre von der Sünde gegen den Heiligen Geist geprägt, die nie vergeben werden kann. Die Leute in Nazareth, der buddhistische Mönch, sind nicht erlöst, weil sie nicht hören wollten. Das ist ein sehr einfacher Vorgang gewesen; man kann den Vorgang auch als »Sünde gegen den Heiligen Geist« bezeichnen, die dann natürlich nicht »vergeben« werden kann. In einer barock-gedanklichen Ausdrucksweise ist ein selbstverständlicher Vorgang begrifflich gemacht.

Dostojewskis Held will weiter gehen als Jesus und Buddha. Er will auch den Widerstrebenden erlösen, auch die Sünde gegen den Heiligen Geist soll vergeben werden können. Er hat einen Idealismus, wie ihn Jesus und Buddha nicht hatten.

Jesus und Buddha wirken als Ausdruck der tiefsten göttlichen Vernunft in Anwendung auf das menschliche Leben; von den Unterscheidungen der zwei Erlöser braucht hier nicht die Rede zu sein. Ist im Idioten noch diese Vernunft, oder ist in ihm nicht etwas Anderes: Gewalttat?

Man verstehe recht. Jeder Idealismus vergewaltigt. Wenn man genau zusieht, dann wird man finden, daß der Zusammenbruch des deutschen Idealismus daher kam, daß er die Wirklichkeit vergewaltigte. Christus und Buddha sind nicht Idealisten. Sie haben nie Menschen vergewaltigt. Christus war tief überzeugt, daß der Herr dieser Welt der Teufel ist. Er hat gesagt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« In der wunderbar tiefen Geschichte vom Zinsgroschen sagt er: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.« 243 Der Idiot ringt um eine weibliche Seele, um Nastaßja. Nastaßja ist als unerfahrenes junges Mädchen ahnungslos einem platten Wüstling zum Opfer gefallen, und dadurch ist sie innerlich zerstört. Sie hat nicht die Kraft gehabt, neben ihr Schicksal zu treten wie neben das Schicksal eines fremden Mitmenschen und sich ihr eigenes Leben aufzubauen, in welchem dann ihr Unglück ein Baustein gewesen wäre; sondern sie ist eine ganz auf Selbstsucht gestellte Natur, die nie sich selber vergessen kann, die durch das Unglück zu Hochmut getrieben wird, weil sie nur durch maßlose Selbstüberschätzung und Verachtung der andern Menschen ihr Selbstgefühl zu bewahren vermag. Sie muß dadurch notwendig in die nächste Nähe geistiger Erkrankung geraten.

Von Meister Eckehart wird häufig ein Wort genannt: »Das Tier, das dich am schnellsten zur Vollkommenheit trägt, ist das Leid.« Das Wort gilt nur für die guten Menschen. Für die Bösen gilt seine Umkehrung: »Das schnellste Tier, das zur Verderbnis trägt, ist das Leid.« Nastaßja ist böse.

Es hat ja doch niemand ein Recht darauf, glücklich zu sein. Glück und Unglück trifft den Einzelnen wie Regen und Sonnenschein die Flur: Regen und Sonnenschein entstehen durch Ursachen, welche mit der Flur nichts zu tun haben. Der Einzelne kann nichts tun, als Glück und Unglück, die für ihn ewig zufällig sein müssen, sich selber sinnvoll zu machen, wie die guten Pflanzen Regen und Sonnenschein für sich nutzen. Er kann das, indem er das Unglück als Strafe auffaßt: und er wird immer finden, wenn er ehrlich ist, daß er die Strafe verdient hat; er kann es auf einer höheren Stufe als Schickung betrachten, durch die ihn Gott zu Höherem führen will; er kann auf der höchsten Stufe, die er vielleicht über die beiden ersten erreicht, alles Zufällige in diesen äußern Dingen vergessen, auch den noch immer selbstischen Gedanken der Schickung, indem er sich bewußt wird, daß seine Seele von Glück und Unglück überhaupt unabhängig ist.

Wie kann man einen Manschen erlösen, der solcher Auffassung nicht fähig ist? Der eine Schächer lästert Jesus und sagt zu ihm: »Wenn du wirklich Christus bist, so hilf dir und uns vom Kreuz.« Was soll ihm Jesus darauf antworten? Er könnte ihm nur sagen: »Folge mir nach, dann ist das Kreuz kein Kreuz.« Aber das weiß ja der Schächer schon, denn er sieht ja die Ruhe Jesu. So antwortet ihm Jesus nichts. Der andere Schächer sagt: »Wir haben unser Schicksal verdient. Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.« Jesus antwortet ihm: »Heute abend wirst du mit mir im Paradiese sein.« Das ist mythisch ausgedrückt. In unserer Sprache würde das sein: »Du hast nach deiner Art dein Unglück für deine Seele nutzbar gemacht; in dem Augenblick ist aber das Leid verschwunden. Du bist erlöst.«

Nastaßja ist noch nicht einmal der Auffassung des Schächers fähig. Wie kann sie denn jemand erlösen? Der Erlöser kann nur durch sie mit in den Wirbel des Bösen hineingerissen werden als Opfer: und mit ihm werden dann vermutlich noch andere hineingerissen, wird jedenfalls seine eigene künftige Wirksamkeit unmöglich gemacht.

Mit tiefem Sinn hat Dostojewski die Versuchungen des Bösen nachgewiesen, denen unsere christliche Kirche zuzeiten erlegen ist, in mancher Hinsicht noch erliegt. Aber was er selbst als Weg zeigt, ist nichts als eine weitere solche Versuchung. Nicht durch gewalttätige Willenseinwirkung ist das Reich Gottes auf Erden zu gründen: es muß wachsen wie das Senfkorn. Und so wird uns auch der Idealismus der russischen Revolution die Erlösung nicht bringen, die wir alle ersehnen, wir gequälten Völker der westlichen Kultur.


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