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Der neue Gott

(1919)

Man erinnert sich des Gleichnisses vom Sämann, der ausging zu säen. Aller Wahrscheinlichkeit nach lautet das Gleichnis eigentlich so, wie es uns von der Sekte der Nassener aufbewahrt ist: »Es ging ein Sämann aus zu säen. Und Etliches fiel auf den Weg und ward zertreten, und Etliches fiel auf steiniges Land und ging auf, und da es keine Tiefe fand, verwelkte es und starb ab; und Etliches fiel auf schönes und gutes Land und brachte Frucht, Etliches hundertfach, Etliches sechzigfach, und Etliches dreißigfach.« Aller Wahrscheinlichkeit nach – das ist eine Lehrmeinung, welche man ja nicht zu glauben braucht, welche aber jedenfalls außerordentlich viele von den Rätseln der Entstehung des Christentums löst – waren die Nassener eine christliche Sekte aus der Zeit vor Christi Geburt, vielleicht hat sich mit aus ihnen das Christentum gebildet, also kann man an ihnen beobachten, wie ein neuer Gott unter den Manschen geboren wird.

Nur trümmerhafte und unverständliche Reste sind in unseren Evangelien von den tiefsinnigen jenseitigen Bezügen erhalten, welche diese Christen vor Christus zwischen dem Einzelwesen und dem Weltall gefunden hatten, welche ja nur bildlich dargestellt werden konnten. Der Sämann ist das Absolute, von dem das Weltall ausgeht. Man stellt sich das bildlich vor als Samen, welchen der Sämann wirft. Nur dunkel kann man ahnen, was es bedeuten soll, daß dieser Same drei Möglichkeiten findet: der eine Teil wird zertreten, der andere geht auf und verdorrt schnell, weil seine Wurzeln keine Nahrung finden, der dritte wächst und trägt vielfach, und zwar in Zahlen, welche wieder eine höhere Bedeutung haben. Nur dunkel kann man ahnen, was das bedeuten soll: verschiedene Welten, die doch wieder in der einen, für uns wirklichen Welt enthalten sind, die erschlossen werden aus dem verschiedenen Zustand der Einzelmenschen – man denke daran, daß Mikrokosmos und Makrokosmos sich gegenseitig abbildend geglaubt werden. Die verschiedenen möglichen Zustände der Einzelmenschen sind: die Choiker oder die große sinnliche Masse, die irdisch Gefesselten; die Psychiker, welche mit dem Verstand die Lehre aufnehmen können, die Berufenen; und die Pneumatiker, die Auserwählten, in denen auch eine Seele vorhanden ist, in welcher der Same Nahrung findet.

War alles Frühere ein Nachsinnen über Jenseitiges, ein Dichten und Ahnen von Unbegrifflichem, das nur in gleichgestimmten Gemütern Verständnis finden mag, so sind wir mit dem Letzten, den möglichen Zuständen der Einzelmenschen, auf verhältnismäßig sicherem Boden – verhältnismäßig sicherem, wenn wir an die heutigen wissenschaftlichen Ansprüche denken –, nämlich bei seelenkundlichen Tatsachen. Überall, wo die Menschen über das Göttliche nachgedacht haben, sind sie dazu gekommen, die drei Klassen zu finden: die sinnliche große Masse, die überhaupt nicht in Frage kommt, die Berufenen und die Auserwählten.

Das Gleichnis scheint bei den Nassenern eine große Bedeutung gehabt zu haben. Man wird das verstehen, wenn man sich ihre Lage klarmacht. Die Nassener waren Männer, welche inmitten des religiösen Verfalls den neuen Gott suchten. Sie mußten sich doch die Frage stellen: Wer kann den neuen Gott überhaupt finden? Ist Gott erst gefunden, dann kann leicht der Glaube entstehen, welchen heute die christlichen Kirchen vertreten: daß Gott für Alle gekommen ist. Aber diese Nassener waren noch nicht in einer solchen geschichtlichen Lage wie die spätere Kirche. Die spätere Kirche und mit ihr wir selber, auch wenn wir uns nicht an die kirchlichen Lehren halten, müssen also das Gleichnis ganz anders auffassen, als es ursprünglich gemeint war; wir müssen es als eine Art moralisierender Betrachtung auffassen, von welcher aus uns ja auch immer ein Wort wie »Viele sind berufen, aber Wenige auserwählt« unverständlich, hart und unheimlich klingen wird.

Wir sind heute in derselben Lage, in welcher jene dunkeln und rätselhaften Nassener waren: wir suchen den neuen Gott. Wie sie, müssen wir uns die Frage vorlegen: wer kann den neuen Gott finden? Und wie sie werden wir antworten müssen: Nicht die sinnliche große Menge; nicht die Männer, welche bloß klug sind und Wissen haben; sondern diejenigen, in deren Seele er wachsen kann.

Es ergibt sich also von vornherein, daß diejenigen im Irrtum sind, welche glauben, daß irgendeine allgemeine Volksbewegung, eine Gemeindebildung oder Gemeindeerneuerung unsere religiöse Sehnsucht werde befriedigen können; und ebenso diejenigen, welche glauben, etwa in der Art der liberalen Theologen, durch Wissen von den geschichtlichen Vorgängen – es ist in Wirklichkeit immer nur ein Deuten – oder durch Einsicht in die geistigen Bedingungen der Religion werde ein neuer, lebendiger Glaube geschaffen; nur diejenigen, welche als Pneumatiker anzusprechen sind, können mitarbeiten.

Was sind das aber für Männer?

Nochmals: wir müssen das Andenken an die Deutung vergessen, welche wir vom Standpunkt der vorhandenen Religion von dem Gleichnis geben. Der Suchende ist eine andere Art von Mensch wie der Nehmende, und sehr möglich ist es, daß er dem Nehmenden als fragwürdig, ja als unheimlich erscheint. Als fragwürdig und unheimlich stellen sich in der späteren Überlieferung, in der Überlieferung der Zeit, da das Christentum gefunden war, sehr oft die Sekten und Männer dar, welche das Christentum geschaffen haben; als fragwürdig und unheimlich werden die entsprechenden Männer auch heute Vielen erscheinen, welche noch den Glauben an die bestehenden kirchlichen Religionen haben.

Um uns die Zeit klarzumachen, in welcher das Christentum entstand und die Art Menschen, in denen es sich bildete, wollen wir an die Ähnlichkeit eines im übrigen ja freilich sehr diel schwächlicheren Vorganges denken, der sich vor unsern Augen abspielt, nämlich unserer Revolution. In demselben Ministerium, in demselben Vertretungskörper sitzen Männer, welche sich der eine wie der andere als Sozialdemokraten bezeichnen, welche die entgegengesetzten politischen Grundtriebe verkörpern: die einen sind zersetzend und auflösend buchstäblich bis zur Sinnlosigkeit, die andern sind aufbauend und schaffend, die einen sind Revolutionäre, die andern Konservative der entschiedensten Art. Wenn die späteren Zeiten nichts von den Vorgängen heute mehr vorliegen hätten als etwa den Bericht über die Sitzung einer solchen Körperschaft, so müßte ihnen doch die Sozialdemokratie als eine im höchsten Maße widerspruchsvolle, unheimliche und fragwürdige Erscheinung vorkommen. Wie sich unsere Zustände entwickeln werden, kann man noch nicht wissen; denken könnte man sich jedenfalls, daß ein sehr ruhiges und friedliches kleines Bürgertum sich entwickelte; was sollte das dann später zu den Kämpfen zwischen den Mehrheitsozialisten und den Spartakusleuten sagen? Nun geschieht dabei doch nicht selten, daß Einzelne von der einen Richtung zur andern gehen; das macht den Anblick noch verwirrender. Stellen wir uns nun vor, daß die religiösen Fragen ja doch die Menschen viel tiefer erregen als die politischen und daß sie den ganzen Menschen bewegen, so können wir eine ungefähre Ahnung von dem Zustand bekommen, in welchem in religiös schöpferischen Zeiten die Menschen sind.

Durch zwei Bestandteile wird die Religion gewöhnlich ziemlich von Anbeginn an verfälscht: durch gedankliche Inhalte und durch die natürliche Selbstsucht des Menschen.

Religion ist ein Gefühl. Gefühle lassen Ach nur sehr bedingt unmittelbar auf Andere übertragen und haben deshalb stets die Neigung, Gedanken irgendwelcher Art an sich zu ziehen, sich mit ihnen innig zu verbinden und durch diese Verbindung mittelbar sich auf weitere Kreise zu übertragen. In der Religion haben wir verschiedene Gedankengebilde, welche so benutzt werden: Gott, Unsterblichkeit, Seelenwanderung, Jenseits und ähnliche. Geschichtlich tritt uns Religion fast immer nur in Verbindung mit solchen Gedanken entgegen, welche dann als Inhalt der religiösen Gefühle erscheinen.

Diese Inhalte wechseln, da sie, wie alle Gedanken, der Prüfung unterworfen sind. Wir müssen uns hüten, daß wir nicht glauben, eine neue Religion vor uns zu haben, wenn wir ein anderes Gedankengebilde sehen. Für die Religion ist nur das Gefühl wichtig. So ist etwa viel weniger Ähnlichkeit zwischen unserm heutigen Protestantismus und dem Glauben Luthers als zwischen diesem und dem Katholizismus.

Ähnlich wie die gedanklichen Inhalte die Religion sofort verfälschen, indem sie den Blick von der Hauptsache auf etwas Nebensächliches wenden, verfälscht die natürliche Selbstsucht des Menschen, welche, wie allem, was die Menschen betrifft, so auch der Religion sogleich ihren Stempel aufdrückt. Diese Selbstsucht ist aber zu allen Zeiten gleich, nur die Dinge, auf welche sie sich wendet, ihre Wünsche, sind in den Zeiten verschieden, je nach Bildung und Überlegung. Der beständige Wunsch der Selbstsucht geht auf Glück: Glück in diesem Leben, und wenn das nicht sein kann, in einem Jenseits, das denn nur dadurch wichtig wird, daß man Glück in ihm erhofft: denn sonst wäre es doch nichts als ein geglaubter leerer Raum.

Wir können nun uns ungefähr klarmachen, wo und wie der neue Gott entsteht, dessen Werden wir ja stets fühlen in den Verzweiflungen und Narrheiten unserer Zeit. Er entsteht nicht in der großen Masse, nicht im Bezirke der Verstandesbildung, sondern bei den Pneumatikern, bei Einzelnen, Wenigen, welche abseits stehen von den beiden großen Mächten der Gegenwart: vom Volk und von der Wissenschaft. Diese Einzelnen erscheinen fragwürdig und vielleicht sogar unheimlich. Der neue Gott hat nichts mit neuen Lehren über Gott und Ewigkeit und ähnlichem zu tun und ist unabhängig von dem Glückstreben, welches ja den größten Teil der heutigen Menschheit in einer Weise besessen hält, wie das vielleicht noch niemals der Fall gewesen ist, seit es Menschen gibt.

Denken wir nur daran, daß alle ältere Religion aus dem Osten gekommen ist, daß mit der Entwicklung und Herausbildung des Christentums der Westen religionsbildend wird; und daß sofort der tiefe Unterschied gegen jede östliche Religion sich zeigt: daß für die Westländer die Einzelseele eine überragende Bedeutung gewinnt; daß diese Bedeutung von Stufe zu Stufe gesteigert wird.

Könnte nicht in dem, was wir den modernen Individualismus nennen, die lebendige religiöse Arbeit der Gegenwart geschehen?

Das Wort »Individualismus« gehört ja zu jenen leidigen Worten, bei denen man sich alles Mögliche denken darf. Aber bei der Unbestimmtheit der Sache ist ein anderes Wort nicht möglich.

Die Personen, welche die Träger sind, sind Künstler oder Menschen mit künstlerischer Veranlagung. Nie früher hat man Kunst aufgefaßt als Selbstdarstellung der Persönlichkeit; erst seit wenigen Geschlechtern geschieht das, und die Richtung geht bis zur Selbstauflösung der Kunst. Ist nicht eine folgerichtige Weiterentwicklung von der Lehre des Neuen Testaments von dem einen Sünder und den tausend Gerechten bis zu diesem Individualismus?

Wohl jeder, der ernst an das Wesentliche des Lebens denkt, wird oft gefragt werden von Suchenden: Was muß ich tun, um Gott zu finden? Was kann ein heutiger Mensch auf eine solche Frage antworten? Er kann nur sagen: »Suche dich selber, vielleicht gelangst du dann auf den Weg, der dich zu Gott führt.«


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