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Die innere Freiheit

(1919)

Unsere bisherige Lebensform ist zusammengebrochen. Der Zusammenbruch kam nicht durch einen übermächtigen Angriff von außen, denn die neuen Mächte und Menschen sind nicht so stark, um etwas zerstören zu können; er kam, weil die Lebensform innerlich morsch war; sie brach von selber in sich zusammen.

Wenn wir die Ursache verstehen, weshalb sie morsch war, dann können wir vielleicht auch die Hoffnung finden, daß eine neue Lebensform sich bildet, denn die Mächte und Menschen, welche jetzt herrschen, können selber eine solche offenbar nicht schaffen, und wenn man nichts sähe, als was äußerlich vor unseren Augen geschieht: die Mischung von Spießbürgerlichkeit, Gier und Narrheit, dann müßte mau verzweifeln.

Bei einer solchen Betrachtung muß man sich von vornherein den Standpunkt klarmachen, von dem aus man sieht. Die Wirklichkeit ist das ungeheure Sehfeld, das uns rings umgibt. Unsere Augen erfassen gleichzeitig nur einen Ausschnitt. Wir müssen wissen, daß nicht dieser Ausschnitt allein ist, daß außer ihm noch der übrige Teil des Sehfelds ist; wir müssen also wissen, daß wir nur einen bestimmten Teil auf einmal sehen; einen Teil, der nicht mechanisch herausgeschnitten gedacht werden darf, sondern organisch mit den andern zusammenhängt. Wir wollen uns auf den Standpunkt stellen, daß wir die Form untersuchen, in welcher der nun abgeschlossenen Zeit das Leben der Menschheit erschien.

Wir machen uns gewöhnlich nicht klar, daß jede Zeit das Leben in einer bestimmten Form sieht. Jede Zeit glaubt, sie sieht die Wirklichkeit. Aber wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Geist, wir sehen nicht die Bilder auf der Netzhaut unseres Auges, sondern eine Abziehung aus ihnen, vielleicht sogar noch weniger, ein selbstgeformtes Gedankengebilde. Die Form, in welcher die heute abgeschlossene Zeit das menschliche Leben sah, war die Wirtschaft. Zum Vergleich wollen wir an andere Zeiten denken: da war die Form die Seele, oder die Schönheit, der Geist, die Macht; gestern war die Form die Wirtschaft. Das bedeutet, daß man den Menschen nur betrachtete als Warenerzeuger.

Man verstehe wohl: von früheren Zeiten her und durch die Notwendigkeit des Lebens geschah es, daß auch noch andere Gesichtspunkte gelegentlich vorkamen: man dachte wohl auch einmal daran, daß die Menschen eine Seele haben; daß sie auf die Welt gesetzt sind, um Gott zu dienen; daß Schönheit ist; daß die Menschen von Leidenschaften erschüttert werden. Aber alle diese Gesichtspunkte waren praktisch, für das tägliche Leben und für das durchschnittliche Handeln unbedeutend neben dem einen: der Mansch ist da, um in der Fabrik zu arbeiten, um Handel zu treiben, um neue Maschinen zu erfinden, um Absatzmärkte zu erobern. Frühere Zeiten hatten gesagt: der Mensch arbeitet, um zu leben, sie hatten die Arbeit als Mittel für das Leben aufgefaßt, und oft genug als ein unerwünschtes Mittel; denn wo die Seele sich ganz zu befreien suchte, da fand sie die Lebensform des Bettelmönches, der mit der Almosenschale in Indien und mit dem Bettelsack in Europa von Haus zu Haus zog, um seinen Unterhalt arbeitslos zu bestreiten, weil die Arbeit ihm zu viel von der Zeit fortnahm, welche für die wesentliche Tätigkeit bestimmt war. Die nun abgestoßene Zeit sagte: der Mensch lebt, um zu arbeiten; sie faßte umgekehrt das Leben als Mittel für die Arbeit auf.

Wenn man das Leben als Zweck faßt, dann kann man immer einen noch höheren Zweck finden, für welchen das Leben nun wieder Mittel ist. Faßt man die Arbeit als Zweck, dann ist nur noch ein kurzer Weg möglich; über die Arbeit als Zweck hinaus gibt es nichts mehr, außer: die bürgerliche Moralisierung und Zähmung, eine Art kantische Moralphilosophie, welche sagt, daß wir auf der Welt sind, um unsere Pflicht zu tun. Ist das Leben Zweck, dann können die höhergestimmten Manschen zu Gott kommen; ist es die Arbeit, dann ist für die höhergestimmten Menschen überhaupt kein Ausweg: sie müssen sich abseits von der übrigen Menschheit stellen, und es tritt der Zustand ein, den wir ja heute so kennen, daß er uns als der natürliche erscheint, daß alles höhere Leben in sich beschlossen ist und keine Beziehung mehr zu der übrigen mitlebenden Menschheit hat; es tritt der Zustand ein, daß an die Stelle der bedeutenden Menschen, welche sonst die Führer der Menschheit waren, das bürgerliche Mittelmaß tritt, der Vertreter der Pflicht, der Beamte und Fachmann.

In dieser Zeit des Zusammenbruchs, wo das wüsteste Schelten gegen unsere gestürzten Führer zu hören ist, wollen wir uns doch klarmachen, daß die Gerechtigkeit solche gehässigen Angriffe verbietet. Die Männer, welche uns in das Unglück geführt haben, haben ehrenhaft ihre Pflicht getan, wie sie es verstanden, und ihnen persönlich ist kein sittlicher Vorwurf zu machen. Nur der heute herrschende Pöbel kann von Schuld am Krieg, von Volksbetrug und Ähnlichem sprechen. Nicht darin liegt die Schuld, daß diese Männer ihre Pflicht nicht getan haben: sie liegt darin, daß sie nicht an die Stelle gehörten, wo sie standen, daß sie untergeordnete Naturen waren, wo sie bedeutende Naturen hätten sein müssen. Das ist auch der Grund, weshalb unsere Besieger ihres Sieges nicht froh werden können: ihre Staatsmänner sind genau dasselbe, was unsere Staatsmänner waren, nur der Zufall hat ihnen den Sieg gegeben; und der Zusammenbruch, den wir heute erleben, wird sich bald auch bei ihnen herausstellen.

Kommen wir nach der kurzen Abschweifung wieder auf unseren Gedankengang zurück. Es war etwas Zweck geworden, was nicht Zweck werden kann, das nach seiner Natur immer nur Mittel sein darf; mit andern Worten: die Menschen lebten zwecklos. Der Mensch ist aber nicht dazu geschaffen, zwecklos zu leben; er muß suchen und suchen, bis er einen Zweck für sein Leben findet; und wenn wir die Narrheit, Verzweiflung, Unsicherheit, Angst und wilde Sehnsucht dieser Tage, Wochen und Monate wirklich verstehen wollen, so müssen wir sie so auffassen, daß die Menschen sich plötzlich darüber klargeworden sind, daß sie einen Zweck für ihr Leben suchen müssen. Nur wenige sind befähigt zu solchem Suchen, die Masse muß den Zweck von ihnen bekommen. Was Wunder, wenn das Wahnsinnigste geschieht, wo die verzweifelte Masse selber sucht?

Man kann die abgelaufene Zeit als die kapitalistische Zeit betrachten. Die Masse will sie ablösen durch Sozialismus und Kommunismus. Wir verstehen nach dem Vorhergesagten vielleicht, daß dieser Gedanke falsch ist. Ob die Möglichkeit einer sozialistischen oder sogar kommunistischen Gesellschaftsordnung vorhanden ist, das soll hier gar nicht betrachtet werden, das ist eine Untersuchung für sich; hier soll etwas anderes untersucht werden: die allgemeine Grundlage der Lehre des Kapitalismus und der sozialistischen und kommunistischen Lehren. Wir sehen sofort, daß die Grundlage die gleiche ist: der Mensch wird lediglich als Gütererzeuger betrachtet, und die Arbeit wird als Zweck des Lebens aufgefaßt. Der ganze Unterschied dürfte sein, daß an Stelle der Kantischen oder auch pietistischen Auffassung, durch welche man hinter die Arbeit die Pflicht setzt, eine materialistische Auffassung tritt, welche hinter sie die Lust setzt: man soll nun nicht mehr als weiteres Ziel die Pflichterfüllung haben, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse.

Wir wollen uns an etwas erinnern, was die Menschen heute leicht vergessen: daß wir Christen sind. Wir wollen uns des tiefsinnigsten Mythos unserer Religion erinnern, des Mythos, durch welchen das Christentum bis heute die oberste der Weltreligionen ist, trotz allen Geistes und aller seelischen Vertiefung des indischen Volkes: wir denken daran, daß Gott für die Menschen am Kreuz gestorben ist, von den Toten auferstand und nun lebt und regiert in Ewigkeit. Wir können nun den Fehler, den Sozialismus und Kommunismus mit dem Kapitalismus teilen, mit einem Wort nennen: alle drei Formen sind gottlos; noch mehr, in allen drei Formen wird den Menschen der Weg zu Gott versperrt.

Ich will an einem Beispiel zeigen, wie das gemeint ist.

In gesunden Zeiten der Völker treten die Lehrer der Menschen auf und sagen den Menschen, was Gottes Wille ist; sie sprechen aus der Tiefe ihres Herzens, in welches eben Gott gelegt hat, was er will. Sie wirken als Prediger, als Propheten, als Gesetzgeber, und ihre Wirkung ist unmittelbar von Mund zu Ohr. Niemand denkt daran, daß sie irgendwie leben müssen; ihr Unterhalt findet sich durch freiwillige Gaben der Menschen oder durch Einrichtungen, welche ihnen das Leben sichern, wie Klöster, Kirchen und Stiftungen. Wenn diese Zustände verfallen, dann werden Gaben und Einrichtungen mißbraucht für den Unterhalt untätiger Menschen. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus tritt an die Stelle des Almosens und der Stiftung Verlag und Presse; es schiebt sich zwischen Volk und Lehrer eine Mittelsperson, der Unternehmer. Dieser mag ein Mensch sein, wie er will, er ist jedenfalls von den Gesetzen des Marktes abhängig; von ihm wieder hängt der Lehrer des Volkes ab; und der Lehrer kann nicht mehr unmittelbar sagen, was Gott ihm ins Herz gelegt hat, sondern nur noch, was möglich ist innerhalb der geschäftlichen Beziehungen des Buchhandels und Zeitungswesens. Das ist ein furchtbarer Druck. Er lastet nicht nur auf dem Lehrer, er lastet ebenso auch auf dem Unternehmer, vielleicht mit dem Unterschied, daß der Unternehmer ihn sich nicht so zum Bewußtsein kommen läßt. Nun, innerhalb jener Beziehungen gibt es tausend Lücken, durch welche hindurch bei gutem Willen Beider doch eine höhere Wirkung geschehen kann. Jeder Zeitungsherausgeber weiß, daß er über den durchschnittlichen Tagesbedarf hinaus seinen Lesern gelegentlich einmal Höheres zumuten darf: Samenkörner, von denen viele auf den Weg fallen, viele auf steinigen Boden, und einige auf guten Boden. Jeder Verleger weiß, daß er neben den Schriftstellern, die er vertreiben muß, um sein Geschäft aufrechtzuerhalten, einen Dichter unter die Menschen bringen darf, dessen Werke ihm nichts einbringen und vielleicht nur dauernd kosten. Wird der Zustand besser werden durch die Sozialisierung? Ich fürchte, er wird schlechter. Männer, die bisher selbständig waren und nur durch die Fesseln des Geschäftlichen gebunden wurden, welche ja doch nichts sind als die Ergebnisse der allgemeinen menschlichen Mittelmäßigkeit, die das Wertvolle eben ablehnt um das Geringere: diese selbständigen Menschen werden ersetzt durch Angestellte, welche Andern verantwortlich sind für den Ertrag des Geschäftes. Der Besitzer des Geschäftes kann für Eingebungen und Gedanken und für Männer, welche sie vertreten, Opfer bringen; der Angestellte kann es nicht. Vielleicht werden durch die Sozialisierung ganz schlechte und unehrenhafte Unternehmungen verschwinden: sicher verschwinden durch sie die Unternehmungen, welche unser geistiges Leben fördern, und es tritt eine noch größere Herrschaft der Mittelmäßigkeit ein, als wir heute schon haben. Kein einziger bedeutender Dichter, kein Neues sagender Denker, kein befehdeter Wissenschaftler wird seine Schriften noch in der alten Weise erscheinen lassen können, wenn der opferwillige Verleger fehlt und an seine Stelle der ängstliche Beamte tritt. Daß im geistigen Leben die Mittelmäßigkeit die eigentliche Sünde ist, braucht nicht besonders gesagt zu werden.

Was von Verlag und Presse gilt, das gilt in geringerem Maße, aber ebenso sicher, von allen andern Erwerbsmöglichkeiten. Der Wille der Menschen wird noch mehr wie bisher auf das gerichtet, was den Willen nicht wert ist. Die Sozialisierung ist einfach eine weitergehende Mechanisierung des Erwerbslebens und erzeugt damit nur eine noch stärkere Unfreiheit der Menschen. Es ist bezeichnend, daß seit den ältesten Zeiten alle Vertreter solcher Meinungen – Männer wie Plato darf man nicht zu ihnen rechnen, seine sozialistische Hierarchie ist etwas anderes – immer auf materialistische Ziele kommen: auf den Genuß. Der Trost, der uns heute gesagt wird, lautet denn auch, daß bei völliger Sozialisierung nur noch eine geringe tägliche Arbeitszeit, manche sprechen von vier Stunden, nötig sei, und daß die Leute die übrige Zeit denn zum Genießen verwenden können: welches Genießen denn seinen Gipfel in dem hat, was diese Leute Bildung nennen, welches das schöpferische Leben ausschließt.

Aber noch immer gilt es, daß der Mensch stärker ist als alle Verhältnisse. Denken wir an den Gott, der am Kreuze starb und der in seinen Erdentagen nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte, da doch die Füchse ihre Löcher haben und die Wölfe ihre Höhlen. Denken wir daran, daß nur die Unabhängigkeit von allem Äußeren uns die Würde gibt, die das höhere Leben erfordert. Immer klarer wird den Menschen der Fehler der zusammengebrochenen Zeit, und die Gedanken, welche jetzt herrschen, haben keine Dauer: es wird nur eins übrigbleiben, der auf sich selber gestellte Mensch, der frei seinem Gott entgegentritt. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so bereitet sich eine geistige Einkehr der Menschheit vor in all der Unruhe und der Wirrnis des äußeren Lebens, das sich sinnlos heute vor uns abrollt.


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