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Vornehme Armut

(1914)

In früheren Zeiten galt in unserem Volke als anständig, weniger zu scheinen, als man war. Der Ursprung dieser Gesinnung lag wohl in der eigentümlichen gesellschaftlichen Stellung unseres geistigen Lebens; bei uns hat der bescheidene Mittelstand die Kultur getragen, und Personen, welche durch ihre Verhältnisse genötigt wurden, außerordentlich einfach zu leben, hatten die allerhöchste geistige Herrschaft. Es ist den Menschen eigen, daß sie gern aus der Not eine Tugend machen; was Beschränkung und Zwang war, das wurde Wille und Freiheit, und was Demut hätte werden können, das wurde Stolz. Solange die früher sogenannten höheren Klassen, die Gelehrten, Beamten und Offiziere, den Ton bei uns angaben, war diese Gesinnung geblieben, vielleicht mit einigen Unterschieden größerer oder geringerer Betonung einer daneben hergehenden bescheidenen Darstellung der Standeswürde, die immer das Geistige und Sittliche betonte, nicht das Äußerliche.

Das wurde anders seit der großen wirtschaftlichen Entwicklung und dem Annehmen des Reichtums in den Klassen der Handels- und Gewerbetreibenden. Die neuen Geschäftsleute hatten große Gewinne; und da die Umstände für den Geschäftsmann es erfordern, daß er es durch seine Lebenshaltung zeigt, wenn er viel verdient, so kam für diese Kreise die alte Gesinnung in Abgang. Es war nun sogar nicht selten, daß die Neigung aufkam, mehr zu scheinen, als man war. Gleichzeitig fand eine gründliche Umwälzung in den gewerbetätigen Teilen des Kleinbürgertums statt. Das Handwerk, das früher hier gesellschaftlich den Ton angegeben hatte und sich nach der über ihm stehenden Klasse der Gebildeten in seinen Sitten und Gewohnheiten richten konnte, ging immer mehr zurück. An seine Stelle trat ein neuer Mittelstand der höheren Arbeiter. Diese besaßen nicht mehr die verwandtschaftlichen Beziehungen zu den höheren Klassen, die das frühere Handwerk hatte, sondern standen gesellschaftlich ganz auf sich und bildeten ihre Lebensgewohnheiten aus ihren Verhältnissen. Diese wieder wurden dadurch bestimmt, daß die Arbeiter jahrzehntelang im Kampf lagen mit den Unternehmern um höhere Löhne, damit sie die ihnen angemessene Stellung einnehmen konnten. Als Zweck der höheren Löhne erschien ihnen dabei die Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse, die Steigerung ihrer Lebenshaltung, weil sie allein aus diesem Zweck die Begründung für ihre Kämpfe herleiten konnten. So gewöhnte man sich denn in dieser neuen Klasse von Anfang an daran, auszugeben, was man hatte, und zwar für die äußeren Bedürfnisse auszugeben. Wenn man über solche Dinge Statistiken hätte, so wäre es lehrreich, zu sehen, wie viele Studierte früher aus den Handwerkerkreisen kamen, weil die Eltern unter ihren Verhältnissen lebten und das Gesparte an den Sohn wenden konnten; und wie wenig man in dem neuen Mittelstand der Werkführer, Meister und sonstigen höheren Arbeiter in den Fabriken eine aufsteigende Klassenbewegung bemerken kann, weil die Leute jetzt alles für sich selbst verwenden.

Mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung lief eine Entwicklung der allgemeinen Anschauung gleich, die man als Materialismus im weitesten Sinn auffassen kann. Nicht nur, daß eine materialistische Metaphysik in großen Kreisen aufkam und die früheren religiösen Anschauungen ersetzte, die ja wohl nicht überall Leben wirkten, aber doch als bloße Anschauungen immerhin den Menschen höher wiesen; auch in der Lebensführung machte sich der Materialismus als Grundsatz immer mehr bemerkbar, indem Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung, kurz alle äußeren Bedürfnisse, die doch eben nur Bedürfnisse oder Mittel sind, immer mehr als Zweck aufgefaßt wurden. So war es denn dahin gekommen, daß vor dem Krieg unser Volk seine alte, einfache, vornehme Einstellung verloren hatte und in den oberen wie unteren Schichten eine materialistische Gesinnung um sich griff, welche alles Höhere nicht nur vernachlässigte, sondern sogar verachtete. Man sagt ja, daß immer eine bestimmte Klasse, die gerade herrscht, der Menschheit den Stempel aufprägt, daß im Mittelalter, als das Rittertum herrschte, ritterliche Gesinnung auch im arbeitenden Volk vorhanden war, und daß in der Gegenwart, wo der Geschäftsmann herrscht, natürlich die geschäftliche Gesinnung allgemein sein muß: recht viel Geld zu verdienen und jeden für dumm zu halten, der das nicht tut. Aber der deutsche Idealismus hatte ja, wie wir sehen, im deutschen Kleinbürgertum seinen Ursprung. Aber ebenso wie bei uns Einzelnen der Wille unfrei ist und durch alle Umstände bestimmt und, wenn wir wollen, dann doch wieder ganz frei ist, so geht es auch den Völkern: wenn ein Volk will, so kann es sich von dieser Herrschaft der materiellen Umstände befreien. Und das deutsche Volk mit seiner Fähigkeit, das Leben abgezogen zu betrachten und sich im Handeln von seinen Einsichten bestimmen zu lassen, ist am ersten dazu imstande: wenn es den Krieg glücklich beendet hat, so hat es die Pflicht, an diesen neuen Krieg zu gehen, den Krieg gegen den Materialismus, den es zum großen Teil mit gegen sich selbst führen muß. Und man glaube nur: dieser Krieg wird schwerer sein als der andere. Die Zeit der materiellen Herrschaft und der Knechtung und Ausbeutung anderer Völker ist vorüber, sie könnte auch von Deutschland nie ausgeübt werden, denn dazu ist die deutsche Nation, wie sie genügend gezeigt hat, zu ungeschickt. Sie kann nur geistig herrschen, so, daß sie zum Wohle der anderen Völker und nicht zum eigenen Wohle herrscht. Da muß sie vor allen Dingen erst wieder auf ihr wahres Wiesen sich besinnen, das sie fast ein Jahrhundert lang hat durch fremdes Wesen unterdrücken lassen; sie muß wieder da anknüpfen, wo sie bei Goethes Tod den Faden hat fallen lassen. Noch haben wir die Kraft dazu. Wohl mancher Leser hat in diesen Wochen den Ausspruch gehört, der von Menschen der verschiedensten Klassen gemacht ist: »Dieser Krieg war nötig für uns, es war die höchste Zeit, wir wurden zu materialistisch.« Die Männer, welche jetzt draußen im Felde stehen, sind in einer furchtbaren Schule; wir sehen es den Gesichtern der Rückkehrenden an, daß etwas Gewaltiges mit ihnen vorgegangen ist. Die das erleben, können es nicht gestalten und aussprechen, sie können nur sich verwundern, wenn sie plötzlich aus dem Schützengraben auf die Tauentzienstraße versetzt werden. Wir, die wir zurückgeblieben sind und die Eindrücke verstehen können, die bei Jenen nur im Sinnlichen bleiben können, weil sie zu gewaltig sind, wir haben die Pflicht, zu gestalten und auszusprechen; und wenn wir die Worte finden, so werden die heimkehrenden Krieger unsere Bundesgenossen sein beim Aufbau des neuen Deutschland. Eins dieser Worte ist: vornehme Armut!


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