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Der Schriftsteller

(1916)

Gewisse Berufe hat es zu allen Zeiten bei den Menschen gegeben, und nur ihre Beziehung zu der Allgemeinheit ändert sich im Wechsel der Geschichte; gewisse Berufe aber gibt es nur in bestimmten Zeiten. In diesen prägt sich dann das eigentümliche Wesen der Zeit naturgemäß ganz besonders aus. Etwa den Bauern und den Kaufmann finden wir immer, wenn eine gewisse Entwicklung der Menschen stattgefunden hat; ihre Eigentümlichkeiten sind immer dieselben; und nur dadurch unterscheiden sich die Zeiten, daß jetzt etwa der Bauer die bestimmende Persönlichkeit ist und jetzt der Kaufmann. Aber etwa den Gelehrten treffen wir nur in gewissen Formen der Gesellschaft an, und daß er vorhanden ist, gibt dann diesen Zeiten ein bestimmtes Gepräge.

Man kann noch weitergehen. Gewisse Charaktertypen sind allgemein menschlich und finden sich immer wieder; andere Charaktertypen aber sind an bestimmte Zeiten gebunden. Es gibt aus der Zeit kurz nach dem Untergang der griechischen Republiken, als der Hellenismus sich bildete, ein hübsches Buch über die Charaktere der Menschen von Theophrast. Die Schilderungen, welche es enthält, passen nur noch zum Teil auf unsere heutigen Zeilen, trotz der ewigen Gleichheit der menschlichen Natur. Die Franzosen, welche ja immer eine lebhafte Anteilnahme für seelenkundliche Dinge gehabt haben, versuchten mehrfach, das Buch den veränderten Zeiten anzupassen; das gelang aber nie so recht und konnte auch nicht gelingen.

Die Manschen, welche ein Zeitalter erleben, halten dessen Erscheinungen immer für so notwendig, daß sie sich ihre Fragwürdigkeit nur schwer klarmachen. Zu diesen Erscheinungen, welche man unbesehen hinnimmt, gehören denn auch jene Berufe und Charaktere. Einen der für den Soziologen merkwürdigsten Berufe hat der Schriftsteller, und diesem Beruf entspricht ein sehr merkwürdiger Charakter.

In der bürgerlichen Gesellschaft wird fachmännische Ausbildung bis zu einem Grade getrieben, von dem frühere Zeiten sich nichts träumen ließen. Überall ist es doch heute so, daß jemand, der etwas leisten und erreichen will, sich möglichst frühzeitig auf sein bestimmtes Ziel beschränken muß und in seiner Arbeit nicht über das ganz kleine Gebiet hinausgehen darf, das er genau kennt. Ein Beruf, der zur Voraussetzung hat, daß man ihn ohne fachmännische Ausbildung ausübt, der ausdrücklich eine allgemeine Laienhaftigkeit verlangt, muß in einer solchen Gesellschaft doch eine sehr merkwürdige Erscheinung sein.

Es ist hier nicht die Rede von Persönlichkeiten: daß etwa ein besonders begabter Mensch sich einen allseitigen Überblick verschafft, sondern von einem Beruf: daß die bürgerliche Gesellschaft Menschen braucht, welche ihr über Dinge Mitteilungen machen und Urteile fällen, in denen sie keine fachmännischen Kenntnisse haben und haben dürfen. Der Beruf des Schriftstellers erscheint nicht immer rein ausgeprägt. Er geht oft Verbindungen ein: am meisten mit dem Beruf des Journalisten und des Dichters. Aber man kann ihn für die Betrachtung sehr gut für sich allein nehmen: was etwa an Voltaire Dichter war oder an P. L. Courier Journalist, das kann man leicht abstreichen; der Rest ist der Schriftsteller.

Die Bedeutung des Schriftstellers beginnt mit der Renaissance. Gewisse geschichtliche Vorgänge seit dieser Zeit sind gar nicht ohne ihn zu denken: die Reformation, die Französische Revolution; aber die Vorgänge sind das Geringste: die Entwicklungen, welche ihnen zugrunde liegen, waren nicht ohne die Tätigkeit des Schriftstellers möglich. Es gibt manche Völker, bei welchen der Schriftsteller eine geringere Bedeutung hat, manche, wie etwa die Franzosen, wo er heute der eigentliche Herrscher ist; einen außerordentlichen Einfluß hat er bei jedem neuzeitlichen Volk.

Es gibt einen Beruf, den man in gewisser Hinsicht mit dem des Schriftstellers vergleichen kann, den des Juristen. Der Jurist hat über alle möglichen Verhältnisse und Vorgänge die folgenschwersten Urteile zu fällen, ohne Sachkenntnisse zu besitzen. Aber er unterscheidet sich von dem Schriftsteller dadurch, daß er eine besondere Ausbildung haben muß, durch welche er das besondere juristische Denken lernt. Auch eine besondere Ausbildung braucht der Schriftsteller nicht. Der Möglichkeit nach kann jeder Mensch Schriftsteller sein, wie jeder Mensch andern Menschen Erzählungen, Urteile, Berichte und Meinungen mündlich mitteilen kann; die einzige Bedingung ist, daß das, was er schreibt, einen größeren Kreis von Menschen angeht; und das ist nur bis zu einem gewissen Grade Sache des Studiums – eines übrigens sehr allgemeinen Studiums – und hauptsächlich Sache der Begabung, einer reinen Naturgabe.

Was ist das nun, was die Menschen nicht nur geneigt macht, sondern doch offenbar zwingt, einen solchen Mann anzuhören?

In immer steigendem Maße sind seit der Renaissance oder, wie man will, seit dem Beginn der Neuzeit, oder mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die Tätigkeiten den Einzelmenschen abgenommen und Gruppen übertragen. Eine Menge seelischer Vorgänge, welche früher im Einzelnen stattfanden, müssen demnach nun in Gruppen stattfinden. Früher waren sie mehr oder weniger unbewußt, nun müssen sie bewußt werden; sie waren unbeabsichtigt, nun müssen sie gewollt werden; sie geschahen nicht nur in, sondern auch von den einzelnen Tätigen, nun erfordern sie einen besonderen Beauftragten.

Etwa eine mittelalterliche Fehde ist in ihren Ursachen, Gründen, ihrem Verlauf und Ende allen Beteiligten genau bekannt. Ein heutiger Krieg ist nicht ohne den Schriftsteller möglich, welcher Ursachen aufweist, Gründe gibt, den Verlauf berichtet und das Ende mitbestimmt.

Damals sah der Einzelne alles, heute muß ihm alles gesagt werden; er konnte alles beurteilen, heute muß er unterrichtet werden; damals wußte er selber, was er wollte, heute muß es ihm gesagt werden.

Oberflächliche Beobachter haben wohl behauptet, daß der Schriftsteller heute herrsche. Sie haben etwa auf Erscheinungen hingewiesen, wie die Kriegserklärung Italiens gegen Österreich. Aber man läßt sich da sehr durch den Augenschein täuschen. Wie in jeder Demokratie ein Führer nur deshalb Führer ist, weil er die Leute dahin führt, wohin sie wollen, so ist auch in der ungeheuren Menschenvereinigung, die ein heutiges Volk darstellt, der Schriftsteller nur dadurch ein einflußreicher Mann, daß er das sagt, was die Vereinigung hören will: in der Fähigkeit zu spüren, was das Volk einer Zeit will, und das dann auszudrücken, liegt eigentlich die schriftstellerische Begabung; deshalb ist ja auch der glänzendste Schriftsteller späteren Geschlechtern mindestens langweilig, wenn er ihnen nicht geradezu töricht vorkommt: die Schriftsteller einer Zeit bezeichnen sich mit Recht als »die Zeit«; deshalb besteht auch der Gegensatz zu den außerzeitlichen Erscheinungen, die sie erleben.

Wir können mit gutem Recht also sagen, daß die Schriftsteller für ein Volk das sind, was Gehirnfasern und Nerven für den Einzelnen.

Nun aber hat dieser Vergleich doch eine schwache Stelle, und hiermit kommen wir auf den merkwürdigsten Punkt.

Gehirnfasern und Nerven sind einfach Teile des menschlichen Körpers, haben ihre Arbeitsaufgabe, und außer ihr bedeuten sie nichts. Die Schriftsteller aber haben außer ihrer Aufgabe auch noch das, daß sie selbständige Persönlichkeiten sind.

So unterscheidet sich die Ausübung derselben Arbeit im Einzelnen und in der Gesellschaft, wie sich die Leistung einer Maschine von der Leistung eines Menschen unterscheidet. Bei der Leistung des Menschen entstehen immer noch Nebenwirkungen.

Welche können die nun hier sein?

Wenn wir die Tätigkeit der Schriftsteller geschichtlich betrachten, so werden wir finden, daß sie immer auf Widerspruch eingestellt ist. In den weitaus meisten Fällen stehen sie auf der Linken, weil ja naturgemäß im weitaus größten Teil der Zeiten die Rechte herrscht; wenn aber einmal die Linke herrscht, dann stehen sie auf der Rechten. Fast alles Schöpferische in Staat, Religion, Kunst und Gesellschaftsleben geht unter dem Widerspruch der Gesellschaft vor sich: es kommt von Einzelnen, in welchen der Geist des Volkes sich äußert; aber der Geist des Volkes ist ja natürlich stets etwas Anderes als der Geist der Zeit, in welcher er zur Erscheinung kommt. Der Geist der Zeit mag wertvoll sein oder minderwertig sein; der Geist des Volkes ist jedenfalls beides, denn er umfaßt diese Zeit wie alle andern Zeiten des Volkes, er ist dadurch zur Zeit immer in dem Gegensatz, in welchem das Ganze zum Teil steht. Aus den schöpferischen Einzelleistungen entwickelt sich dann unter Irrtümern, Versuchen, Fehlschlägen alles Tatsächliche. Dieses muß sich weiterbilden teils durch Neuschöpfungen, teils durch Zerstörung. Da die schöpferischen Geister sich im Widerspruch mit der Gesellschaft und der Zeit befinden, so bleibt für den Schriftsteller, der ja nach seiner Natur in Übereinstimmung mit beiden schafft, nur die Gegnerschaft gegen sie. Eine merkwürdige Ausnahmestellung nehmen hier die Philosophen ein. Wenn wir an unsere deutschen Zustände denken, dann können wir doch sagen, daß etwa unsere Klassiker nicht nur auf ihrem Höhepunkt, als sie die Xenien schrieben, die Schriftsteller gegen sich hatten, daß auch noch der alte Goethe ihre Feindschaft verspürte, daß Bismarck nicht nur vor 1870 von ihnen angegriffen wurde, als er sein Werk vorbereitete, sondern auch noch zur Zeit seines Sturzes, als sein Werk längst vollendet war; unsere Philosophen aber, von Kant bis Nietzsche, haben umgekehrt sehr viele Förderung durch die Schriftsteller erfahren und hatten ohne diese Mithilfe nicht die schnelle Wirksamkeit gehabt. Vielleicht besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Philosophen und dem Schriftsteller, wie ja denn die höchsten schriftstellerischen Erscheinungen, etwa ein Hobbes, zu den Philosophen gezählt werden müssen, während man keinen dichtenden oder politisierenden Schriftsteller zu den Dichtern oder Staatsmännern rechnen kann. Jedenfalls steht bei dem Schriftsteller wie bei dem Philosophen immer das Moralische im Mittelpunkt.

Dieses ergibt sich nun seelenkundlich aus folgendem:

Es kann kein Mensch ohne Werturteile wirken. Daß wir bewerten, das erhöht unsere Arbeit über die Arbeit der Maschine und des Tieres. Bei jeder fachmännischen Arbeit nun kommt das Werturteil immer aus der Sache. Bei der Arbeit des Schriftstellers, die ganz und gar nicht – fachmännisch ist, kann es nur aus der Persönlichkeit kommen.

Nun sind alle Werturteile, die aus der Persönlichkeit kommen, im letzten Grade immer moralischer Natur. Jede Persönlichkeit hat als Erstes und Letztes die Selbstbehauptung, und die Selbstbehauptung erscheint immer als Moralität. Es ergibt sich so von selber, daß der Schriftsteller an die Erscheinung stets einen moralischen Maßstab anlegt. Dadurch aber wirkt er zerstörend, denn die Erscheinung ist stets jenseits des Moralischen.

Man denke an unsere Generalstabsberichte. Sie sind von militärischen Fachmännern geschrieben; wo Werturteile in ihnen laut werden, geschieht das, wenn etwa die Engländer im Schützengrabenkrieg Kavallerie verwenden. Wenn Beschießungen von Lazarettzügen und dergleichen gemeldet werden, so ist das als Rüge aufzufassen, nicht als Werturteil; das seltene Hervorheben eines einzelnen Truppenteils soll eine Auszeichnung sein. Beides hat mit dem Stil des Berichtes, den der erste Quartiermeister v. Stein so meisterlich handhabte, nichts zu tun. Wenn aber ein Kriegsberichterstatter erzählt, dann finden wir sofort etwa ein Hervorheben der Tapferkeit, also ein moralisches Werturteil. Bei den Engländern und Franzosen haben die Schriftsteller einen weit größeren Einfluß als bei uns; bei uns trifft man deshalb verhältnismäßig häufig eine nüchtern fachmännische Auffassung von Krieg und Kriegsziel, bei den Andern fast stets die Behauptung, daß sie für die Kultur kämpfen und ähnliches. Genau so ist es, wenn Künstler über Kunst schreiben und wenn Schriftsteller schreiben. Jeder Künstler schreibt nüchtern und sachlich und spricht nur vom Handwerk: deshalb kann man von Künstlern immer etwas lernen. Der Schriftsteller kommt immer darauf, daß er schreibt, welchen Wert für ihn, der sich als Vertreter der Gesellschaft fühlt, das Kunstwerk hat, über das er spricht: er stellt die Rückwirkung der Gesellschaft auf das Kunstwerk dar.

Die Moralen ändern sich in den Zeiten, es ändert sich auch das, was die Schriftsteller bekämpfen. Der heilige Augustin war so gut ein Schriftsteller wie Voltaire, und Voltaire kämpfte so gut mit moralischen Gründen wie Augustin.

Man muß sich das klarmachen, wenn man manche Erscheinungen unserer Zeit verstehen will, daß von den beiden notwendigen Tätigkeiten des Zerstörens und des Aufbauens, die bei der Einzelpersönlichkeit gewöhnlich sich die Waage halten, in der entwickelten Gesellschaft durch die Träger der betreffenden Tätigkeiten nur die eine, die des Zerstörens, ausgeübt wird. Hier liegt einer der Gründe für das, was man die »Schnellebigkeit unserer Zeit« zu nennen pflegt – im tiefern Sinn für die rasend schnelle Entwicklung unserer Zivilisation.


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