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Der Beruf

(1918)

Das Geschlecht von Männern, welche heute auf der Höhe des Lebens stehen, und deren Wille deshalb heute die Welt beherrscht – soweit die Welt von dem Willen des jedesmaligen Geschlechts beherrscht wird – hat die Vorstellung, daß die einzig würdige Lebensform des Mannes das möglichst restlose Aufgehen im Beruf ist. Dieser Vorstellung verdanken wir die außerordentlichen Leistungen der Gegenwart; wir verdanken ihr aber auch ungemeine Schwächen, die zunächst vielleicht nur von Wenigen gesehen wurden, bald aber sich als unheilvoll allgemein bemerkbar machen werden.

Der Krieg hat auch diese Entwicklung beschleunigt und damit einen Umschlag vorbereitet. Sein sicherstes Ergebnis muß die Notwendigkeit für alle Kulturvölker zu noch gesteigerten Leistungen sein. Wird schon die Entscheidung während des Krieges nicht gefällt durch die günstigere oder ungünstigere Lage der Kämpfenden, sondern durch die Leistungsfähigkeit der betroffenen Völker, so wird die ungemein viel wichtigere Entscheidung nach dem Kriege erst recht durch die Leistungsfähigkeit bestimmt, denn in der Friedensarbeit können ja zufällige und augenblickliche Einwirkungen noch viel weniger Bedeutung haben; sie heben sich gegenseitig auf, und nur das Stetige und Dauernde wirkt. Die berufliche Anspannung wird für das junge Geschlecht noch härter sein als für das heute herrschende; und schon hört man allerorten von Vorschlägen, Plänen und Absichten, wie diese Anspannung auszuführen ist.

Die Aufgabe des Menschen wurde nicht immer so aufgefaßt, wie wir sie heute auffassen. Aristokratische Zeiten hatten eine tiefe Verachtung für unsere Art des Berufslebens; und Zeiten, in welchen sich eine auf dem Berufsleben ruhende Gesellschaft auflöst, hatten einen tiefen Haß gegen den Beruf. Wenn wir die Geschichte richtig verstehen, dann ist sie immer die beste Lehrerin: freilich ist es wohl recht schwer, sie richtig zu verstehen. Man kann die Zeit, in welcher Aristoteles sein verächtliches Urteil über den bürgerlichen Beruf niederschrieb,

noch als aristokratisch bezeichnen, denn jedenfalls herrschte in den maßgebenden geistigen Kreisen die aristokratische Auffassung. Es folgte im Hellenismus und unter der römischen Herrschaft eine Zeit hoher Zivilisation, welche etwa der Gegenwart entspricht. Um etwa zweihundert nach Christus beginnt der Zusammenbruch dieser Zeit, indem die höhergesinnten Menschen sich in Wüste, Kloster und Mönchstum retten; durch Entsagung, Enthaltsamkeit und Rückkehr zu den einfachsten Lebensverhältnissen wollen sie ihre innere Freiheit erhalten, die sie sonst dem beruflichen Getriebe der großen Welt opfern müßten. Wir Menschen von heute haben noch eine lebendige Erinnerung an den »Edelmann«, den »Kavalier«, den »Gentleman«, welcher den Beamten, den Geschäftsmann, den Gelehrten, den Künstler verachtete und nur eine Tätigkeit für anständig hielt, die wir heute, wenn auch nicht ganz zutreffend, als dilettantisch bezeichnen würden, die freilich aber bei Höhe der Begabung die höchsten geistigen Leistungen hervorbrachte – wie etwa ein Sophokles nicht »Schriftsteller« war, sondern athenischer Bürger, der im Kriege seinem Vaterland als Feldherr diente, und nicht als Kriegsberichterstatter; oder wie die Upanischaden nicht von Professoren geschrieben sind, sondern von Königen und Kriegern. Wir sehen heute aber auch schon eine Zeit heraufkommen, welche den Haß gegen den Beruf hat. In der Jugendbewegung aller Länder – in Deutschland hat sich die Stimmung während des Krieges noch verschärft, in den andern Ländern wahrscheinlich auch – ist das Bewußtsein lebendig geworden von den ungeheuren Gefahren des Berufes und wird der Ausweg gefunden: durch Entsagung und Rückkehr zu einfachen Lebensverhältnissen ihnen zu entfliehen. Die Ähnlichkeit geht so weit, daß sich schon Gegenstücke zu den ersten Klostergründungen finden: Genossenschaften für handwerkliche Arbeit und landwirtschaftliche Siedlung mit scharf bestimmtem sittlichen Zweck und religiösen Absichten, welche soweit den religiösen Absichten der ersten Mönche ähnlich sind, als unsere religiös noch nicht so bewegte Zeit jener auf das tiefste aufgewühlten entspricht. Wenn unsere Krieger erst heimkehren, dann wird diese Bewegung noch ganz andern Umfang gewinnen.

Wir müssen alle vom Leben lernen. Es gibt heute wohl niemand, dem nicht klar ist, daß er vor dem Krieg unsere Verhältnisse falsch beurteilt hat. Die Kulturmenschheit führt ein geschichtliches Leben, das heißt, sie führt ein unnatürliches Leben, ein Leben, das in jedem Augenblick sie irgendwie bedrückt und jeden Augenblick deshalb zu Veränderungen und Neugestaltungen treibt, während das ungeschichtliche Tier und der ungeschichtliche Mensch Jahrtausende in den gleichen Verhältnissen leben, weil diese Verhältnisse für sie natürlich sind und keine Veränderung verlangen. So haben auch wir uns natürlich bedrückt gefühlt. Als wir die Ursache der Bedrückung suchten, glaubten wir sie im Kapitalismus zu finden, denn wir hatten ja gesehen, daß der Kapitalismus gesellschaftliche Formen und Zustände aufgelöst hatte, in welchen die Menschen über die jetzigen Bedrückungen nicht klagten; und eine ganze Klasse der Gesellschaft, das durch den Kapitalismus neu entstandene Proletariat, fand gar seine sämtlichen Leiden, zeitliche wie überzeitliche, allgemeinmenschliche in den Sünden seines Vaters. Während des Krieges erlebten wir eine Weiterbildung des Kapitalismus zu etwas Neuem. Ob dieses Neue Bestand haben wird und sich eine Art Staatssozialismus bildet, wie die Einen glauben; oder ob es nur eine vorübergehende Erscheinung ist, wie die Andern denken; das ist hier ganz gleichgültig. Sicher ist nur Eines: daß so ziemlich alle Klagen, die wir gegen den Kapitalismus vorbrachten, auch gegen das Neue vorgebracht werden können und noch einige neue dazu; daß also der Kapitalismus gar nicht eine so grundlegende Bedeutung gehabt hat, wie man früher annahm; und daß die letzten bewegenden Kräfte unserer Gesellschaft tiefer zu suchen sind als in etwas, das man doch nur als eine Oberflächenerscheinung auffassen darf.

Man hat unsere Gesellschaft als »mechanisiert« bezeichnet. Diese Bezeichnung ist richtig, und wenn man von ihr ausgeht, dann wird man weiterkommen, als wenn man sich bloß auf die Betrachtung des Kapitalismus beschränkt, der ja doch nichts ist als ein Hilfsmittel der Mechanisierung.

Wie hätten wir dann die Erscheinungen, von denen wir sprechen, aufzufassen?

Wir sahen, daß die Kulturmenschheit immer in unnatürlichen Zuständen

leben muß und immer eine Sehnsucht nach Anderem haben wird, was sie ja denn leicht als »Rückkehr zur Natur« bezeichnet; durch die trügerische Vorstellung, welche solche Bezeichnungen verraten, dürfen wir uns natürlich nicht täuschen lassen; wir dürfen ebensowenig erwarten, daß für sie ein endgültiger Zustand irgendwelcher Art möglich ist. Nietzsche sagt einmal »der Mensch ist das kranke Tier«. Der Ausspruch ist sehr tief. Wenn wir gesund würden, wenn wir die Natur fänden, dann wäre es zu Ende mit unserer eigentlichen Unmenschlichkeit. Die Frage ist ganz anders; sie lautet: »Haben wir nicht in dem gegenwärtigen Zustand ein Bild dessen gesehen, was der Mensch erreichen kann? Müssen wir nicht alles daran setzen, um das Gesehene zu erreichen?«

Wir lassen also die trügerische Vorstellung eines natürlicheren, eines endgültigen Zustandes, wie ihn noch die verschiedenen sozialistischen Lehren haben; wir lassen überhaupt den Wahn, daß es sich um einen Kampf für an sich bessere Zustände handelt oder um ein Überwinden von Schädlichkeiten: wir sehen ein, daß unsere Unruhe lediglich daher rührt, daß wir ein höheres Bild geschaut haben dessen, was wir sein können. Wenn wir die Dinge so ansehen, dann können wir auch gerecht gegen die Gegenwart sein, die wir ja bekämpfen müssen.

Der aristokratische Zustand der Menschheit ist nur eine Unterart des bäuerlichen Zustandes; die Menschen haben ihren Unterhalt durch den Ertrag von Land, das sie selber und ihre Angehörigen bewirtschaften; zu den Angehörigen gehören die Sklaven. Dieser Unterhalt ist bei gesunden Zuständen sehr bescheiden; ein athenischer Patrizier lebte in einer sehr kleinen Wohnung, hatte sehr schlichte und dauerhafte Tracht und aß sehr mäßig und einfach; ein höhergestellter Industriearbeiter von heute gibt mehr aus für seine Person als ein solcher Mann. Zur Zeit des Sokrates waren die alten Zustände ja schon erschüttert; immerhin konnte Sokrates, trotzdem er sich noch nicht einmal Sandalen zu kaufen vermochte und deshalb barfüßig ging, doch mit den vornehmen Männern freundschaftlich verkehren; bei allen Geistesgaben und aller hohen Gesittung auf beiden Seiten war das doch nur möglich, wenn die vornehmen Herren gleichfalls einfach lebten. Man versteht bei solchen Zuständen, wenn Aristoteles sagt, man wünsche nicht übermäßig wohlhabend zu sein, denn man habe dann ja zu viel zu arbeiten, und könne nicht genügend Zeit auf die Ausbildung seines Geistes verwenden. Wörtlich dasselbe hat mir vor einigen Tagen eine große Bäuerin in einer noch altertümlich lebenden Gegend Deutschlands gesagt.

Was ist nun das Auszeichnende eines solchen Zustandes? Offenbar, daß der Mensch in jeder Hinsicht frei und sein eigener Herr ist. Das wissen diese Leute wohl. Von Carsten Niebuhr, dem Vater des berühmten Geschichtschreibers, wird eine niedliche Geschichte erzählt. Er war ursprünglich Bauer, lernte das Feldmessen, machte eine Forschungsreise nach Arabien und wurde eine bedeutende Persönlichkeit. Er kommt einmal in seine Heimat und besucht einen Jugendfreund in seinem Bauernhaus. Der streicht über seine Orden und goldenen Tressen und sagt: »Dat blänkert jo schön, aber en frigen Mann büst du doch nich mehr, Carsten.« Weshalb haben die Griechen gegen die Perser gekämpft? Sie hätten, wie man heute sagt, Industrie und Handel sehr gut bei sich entwickeln können als Untertanen des persischen Reiches, die persische Herrschaft war nicht drückend; sie wollten lieber arm bleiben und frei sein.

Natürlich kommt bei einem solchen Zustand nicht die größte mögliche Leistung in den meßbaren Dingen zustande. Die wenigen bedeutenden Menschen, welche den Trieb eben in sich haben, werden der Menschheit geben, was sie ihr geben können; die große Menge der mittleren Menschen aber wird so behaglich leben, wie sie kann.

Das wird anders, sobald nicht mehr der Landbesitz die Grundlage für das Leben der Einzelnen ist, sondern die Arbeit, sobald also die Tätigkeit nicht mehr ausgeübt wird für die Befriedigung der doch immer begrenzten eigenen Bedürfnisse, sondern für die unbekannten und aus verschiedenen Ursachen leichter zu erweiternden Bedürfnisse größerer Kreise. Nun tritt Arbeitsteilung ein, und die Einzelnen bekommen einen Beruf. Die Möglichkeit der Steigerung des Erwerbes, bei höher entwickelter Organisation, wie es der Kapitalismus ist, sogar die Notwendigkeit seiner Steigerung tritt ein, damit auch die Möglichkeit und desgleichen Notwendigkeit der Bedürfnissteigerung. Aus Jedem wird nun durch das verwickelte Getriebe der Gesellschaft die größtmögliche Leistung herausgeholt, und die Menschheit macht die erstaunlichsten Fortschritte in allen den Dingen, welche auf diese Weise zu steigern sind: Beherrschung und Leitung der Naturkräfte, äußerer Reichtum, damit Bevölkerungsvermehrung, Erleichterung der schweren Arbeit usw. Die wesentlichen Dinge werden durch diese Steigerung der Arbeitskraft nicht gefördert; denn die bedeutenden Menschen, von denen sie ausgehen, arbeiten ohnehin schon, soviel sie können, und die gesteigerte Zivilisation kann ihnen ihre Arbeit nicht erleichtern. Diese Dinge können sogar geschädigt werden, wenn der rasende Kreis der Reichtumserzeugung auch sie in seinen Wirbel zieht und ihnen nicht mehr die nötige Unabhängigkeit läßt.

Denn, und nun kommt das Aber bei dieser Entwicklung, mit der Freiheit der Menschen ist es nun aus. Sie ist der Preis, welcher für die üppigere Nahrung, die auffälligere Kleidung, den gestiegenen Reichtum, die Vermehrung der Bevölkerung gezahlt ist. Wer einen bürgerlichen Beruf hat: sei er Arbeiter oder Professor, Offizier oder Unternehmer, der ist nicht mehr sein eigener Herr, sondern der Diener seines Berufes.

Wir merken den Verlust der Freiheit gewöhnlich nicht. Aber es wird erzählt, daß man Kinder von wilden Völkerschaften aufzog und ihnen die Segnungen unserer Zustände zuteil werden ließ: sobald sie selbständig wurden, rissen sie sich die Kleider vom Leibe und flohen zu ihren elenden umherirrenden Verwandten in den Wäldern. Wir merken den Verlust gewöhnlich nicht; nur die bedeutenden Menschen Haben ihn natürlich immer gemerkt; wenn ein Dichter dichten soll, was die Leute kaufen, oder ein Philosoph lehren, was sie hören wollen, dann wird diesen Männern natürlich die Unfreiheit unserer Zeit klar; und der wesentliche Inhalt des äußeren Lebens solcher Menschen in unserer Zeit wird denn auch die Art, wie sie der Unfreiheit entgehen.

Nun aber kommt eine Zeit, wo auch den mittleren Menschen die Unfreiheit zum Bewußtsein kommt. Die Hunderttausende, welche im ausgehenden Altertum die Klöster füllten, waren gewiß nicht alle Ausnahmenaturen, sie waren Durchschnitt; auch die jungen Leute, welche gegenwärtig sich überlegen, ob es nicht besser ist, herumziehender Bettler zu werden, als einen Beruf zu ergreifen – sie vergessen unsere musterhafte Polizei -, brauchen noch keine bedeutenden Manschen zu sein. Aber es kommt über sie: daß der Mensch frei sein soll, denn er ist zu höheren Dingen geboren als zum Erwerb des täglichen Lebens.

Zu welchen höheren Dingen? Jeder Mensch hat seine Seele, und jede Seele hat ihr besonderes Ziel. Es gibt nicht Ziele für »die Menschen«. Deshalb kann man diese Frage nicht beantworten.


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