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Der Staatsmann

(1917)

Man kann sich vorstellen, wie die wilden Vorfahren der heutigen Menschheit auf den Begriff der Seele gekommen sind. Ob die Ansicht, die hier entwickelt wird, richtig ist, darauf kommt es nicht an; jedenfalls könnte sie richtig sein. Ein Mensch stirbt: seine Leiche liegt unbeweglich da. Aber wenn seine Angehörigen schlafen, dann erscheint er ihnen noch im Traum. Die Leute ziehen den Schluß: außer dem sichtbaren und greifbaren Körper gibt es noch einen gewissermaßen luftförmigen Körper, der in dem andern wohnt und der bewirkt, daß der andere lebt. Der Tod bedeutet, daß dieser luftförmige Körper den festen Körper verläßt und nun in irgendeiner Weise für sich bleibt, indessen der feste Körper verwest. Diesen luftförmigen Körper nennt man Seele.

Das ist eine ganz kindliche Anschauung wilder Völker.

Wenn die Menschen auf eine höhere Stufe der Entwicklung gelangt sind, dann wird ihnen klar, daß das, was man den Körper nennt, nicht aus sich verständlich ist. Wir wollen uns unphilosophisch ausdrücken mit den Worten des täglichen Lebens, die ja falsch sind, aber wir wollen unsere Untersuchung nicht verwickeln. Es wird ihnen klar, daß etwas Unbegreifliches in ihnen sein muß, das eigentlich das Wesentliche von ihnen ist. Sie finden in dem Schatz der Vorstellungen und Worte ihrer Vorfahren die Seele; und dieses Unbegreifliche wird nun Seele genannt und in irgendwelcher verworrenen Weise mit der unsinnigen Vorstellung der ältesten Vorfahren verbunden.

Wir bleiben immer in der volkstümlichen Sprechweise: was die Seele ist, was ihre Unsterblichkeit bedeutet, das können wir nie wissen. Wir wissen nur, daß jenseits der ziemlich engen begreiflichen Welt eine ungeheuer große unbegreifliche Welt ist; und unsere Vorstellung von der Seele, die wir von Kindheit auf haben, hat mit dieser unbegreiflichen Welt so wenig zu tun, wie ein Wort mit einem Ding zu tun hat: man hat eben dem Ding einen Namen gegeben, und damit gut, weiter ist nichts. Das ist der Stand der Dinge, wenn wir auf unsere Vernunft hören. Mit dem Gefühl kommen wir weiter. Aber da das Gefühl nur durch Mittel Andern mitzuteilen ist und diese Mittel die Neigung haben, eine selbständige Bedeutung zu beanspruchen, so werden wir mit den mystischen Zusammenhängen sehr vorsichtig sein. Die wirklichen Mystiker sind immer sehr vorsichtig gewesen und sind sehr vernünftige Leute, die sich auf den mystischen Schwindel nicht einlassen. Wenn man das Volk begreifen will, dann wird man immer auf die Ähnlichkeit der Einzelmenschen kommen. Wir mögen uns noch so sehr klar machen, daß die Zellen des menschlichen Körpers nicht den Einzelwesen im Volk entsprechen; wenn wir die Einheit des Volkes begreifen wollen, dann müssen wir uns »Volk« vorstellen wie einen einzelnen Menschen. Der Ordnung der Einzelzellen zum Körper beim Einzelnen entspricht dann die Ordnung des Volkes zum Staat. Und dem, was wir Einzelmenschen »Seele« nennen, entspricht dann das – nun, was wir auch im Volk »Seele« nennen müssen.

Nochmals: wir sind uns klar, daß wir mit Hilfsvorstellungen und Hilfsbegriffen arbeiten, welche ihrerseits wieder gänzlich in der Luft hängen; aber wir können nicht anders vorgehen.

Die Seele des einzelnen Menschen führt ein selbständiges Leben und hat ihre eigene Geschichte. Sie kann sich bilden und sich entwickeln, sie kann verkümmern und sterben; sie kann schlummern und wach sein, sie kann gesund sein und krank werden. Wenn wir die Natur der Seele kennenlernen wollen, dann müssen wir die Religionsordnungen und die Theologie der verschiedenen Völker studieren. Auf neunundneunzig Hundertstel Unbegreifliches finden wir vielleicht ein Hundertstel, wo wir Zusammenhänge ahnen können.

Auch die Seele der Völker führt ihr selbständiges Leben und hat ihre Geschichte. Auch hier werden wir nur sehr wenig begreifen können. Das deutsche Volk, die Völker der europäischen Gesittung, die ganze Menschheit sind heute in einer solchen Lage, daß es notwendig ist, zu soviel Klarheit über solche Dinge zu kommen, wie wir erreichen können.

Wir müssen von vornherein wissen, daß uns unsere Betrachtung dadurch erschwert wird, daß bewußte Absichten überall im Vordergrund stehen, die doch nicht das Bewegende sind; wir müssen das Bewegende suchen; daß Manschen in hoher Stellung zu wirken scheinen, die doch nicht wirken, sondern selber bewirkt werden; wir müssen das Bewirkende suchen.

Angenommen den Staat als Einzelmenschen, dann entspricht dem bewußten Willen des Einzelnen der Staatsmann. Unser bewußter Wille ist eine Selbsttäuschung. Wir haben dunkle Triebe, eine Außenwelt, auf welche wir wirken wollen, und die wir doch wieder selber geschaffen haben, Rückwirkung der Außenwelt, Aufsteigen des Dunklen zur Bewußtheit, bei der es sich oft mißversteht, Rückwirkung des nun Bewußten auf das Dunkle, Fassen der Ziele in Worte, wobei sicher Mißverständnisse vorkommen, Rückwirkung der Außenwelt auf die bewußte Absicht und die Fassung in Worte, wobei wieder neue Mißverständnisse kommen, Rückwirkung auf die Rückwirkung ... und so fort, ein verwirrtes Garn, dessen Anfang wir nicht zu finden vermögen.

Auch der Glaube, daß der Staatsmann den Staat leitet, ist eine Täuschung. All das Verwickelte, das bei der Einzelseele sich fand, findet sich auch hier, gesteigert dadurch, daß die zusammensetzenden Teile des Verhältnisses schon selber wieder zusammengesetzt sind. Auch hier kommen wir nicht weiter, wenn wir nicht eine Hilfsvorstellung gebrauchen. Wir wollen das uralte Bild anwenden, mit dem man das Verhältnis der Seele zum Körper bezeichnet hat, das Bild von Roß und Reiter. Roß und Reiter gehören zusammen; der Reiter will und das Roß gehorcht, das Roß gibt die Kraft, der Reiter den Geist, den Willen und das Ziel; der Reiter muß wissen, was er dem Roß zumuten darf, aber er holt vielleicht mehr aus ihm heraus, als er selber denkt; das beste Roß taugt nichts unter einem schlechten Reiter und umgekehrt. Wir wollen uns klar machen, daß das Bild falsch ist: es wäre richtig, wenn das Roß den Reiter aus sich selber geschaffen hatte.

Wir wollen einen großen geschichtlichen Vorgang nehmen. Als das Altertum zusammenbrach, da traten an die Völker, welche die damalige gebildete Welt umwohnten, staatsmännische Aufgaben. Der Trieb mußte in ihnen allen sein, sich über die reichen Länder zu stürzen, welche nun keinen Schutz mehr hatten. Die Germanen folgten dem Trieb. Sie siedelten sich im Römischen Reich an, behielten ihre alten Einrichtungen bei, ließen die römischen Einrichtungen bestehen, und es erfolgte ein allgemeiner Verfall. Die Mongolen folgten dem Trieb. In Attila hatten sie einen Staatsmann, sie versuchten eine neue Form der menschlichen Gesellschaft zu schaffen, aber die staatsmännische Begabung Attilas und der Mongolen war zu gering gewesen,

und der Versuch mißglückte. Im Oströmischen Reich bildete man die staatsmännischen Pläne der letzten bedeutenden Kaiser weiter und schuf ein staatliches Gebilde, das alle Achtung verdient. Das Merkwürdigste aber geschah in Arabien. Dort trat ein Mann auf, der den Arabern einen ganz neuen Lebensinhalt gab, und die bis dahin gänzlich ungeschichtlichen Wüstenreiter eroberten die ganze Welt und bildeten eine neue Gesellschaftsform. Mohammed konnte nur tun, was er tat, weil die Möglichkeit in den Arabern vorhanden war. Wäre nicht auch bei den so vielseitig begabten Germanen die Möglichkeit gewesen; bei den Mongolen, welche staatsmännisch vielleicht begabter sind als die Araber; bei den hochgebildeten Byzantinern? Mohammed hatte eine Idee gehabt, und die Idee war seinem Volk angemessen gewesen. Die Germanen hatten gar keine Idee, sie wollten Söldner werden oder Acker haben; und wenn sie zu mehr gedrängt wurden, so war das gegen ihre Absicht. Die Mongolen hatten eine zu kurze Idee. Die Byzantiner hatten die Vorstellungen von Hadrian und Diocletian, daß man ein großes Reich verwalten muß und daß Ordnung sein muß. Mohammed hatte den Gott der Araber gefunden. Mit ihrem Gott eroberten die Araber die Welt und schufen sie neue Staaten, neue Gesellschaften und neue Gesittungen.

Wir wollen ein kleines Beispiel wählen. Als das Deutsche Reich zerfiel, mußte irgendeiner der Teile die Herrschaft übernehmen. In dem ärmlichsten und entlegensten Teil Deutschlands fanden sich aufeinanderfolgend drei Staatsmänner: der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große, welche den preußischen Staat schufen. Sie hatten nicht einen Gott wie Mohammed, und deshalb trug ihr Werk nicht soweit wie das Werk Mohammeds, aber sie hatten eine Idee: das Preußentum; wir können die Idee nicht anders nennen, es ist eine Mischung von Pflicht, Entsagung, Härte, Unterordnung und anderem. Weshalb hat nicht das viel glücklicher gelegene Kursachsen die Führung Deutschlands übernommen?

Heute bricht die ganze alte Welt zusammen. Man kämpft ja bei Saloniki und in Flandern, im Atlantischen Ozean und in Mesopotamien. 177 Das ist etwas Ungeheures; aber nicht darum handelt es sich, ob Deutschland besiegt wird oder nicht, wie die Kurzsichtigen, und ob die Welt amerikanisch-japanisch wird oder nicht, wie die Weitsichtigen denken: es handelt sich darum, ob es ein Volk gibt, das die Welt führen kann und ob in diesem Volk sich ein Staatsmann findet, welcher die Idee dieses Volkes darstellt, diese Idee, die ihm heute selber noch nicht bekannt ist, wie den Arabern Allah nicht bekannt war und den Preußen das Preußentum.

Alles Äußere unterliegt dem Zufall. Ein Zufall ist im letzten Grunde auch Sieg und Niederlage selbst im gewaltigsten Krieg. Worauf es heute ankommt, das sind nicht die zufälligen äußeren Ereignisse, sondern das, was jedes Volk in seiner Hand hat, was ihm kein Zufall nehmen kann: das aus sich zu machen, was es sein soll. Das deutsche Volk hat eine große Aufgabe von Gott zugewiesen bekommen, die es noch nicht erfüllt hat; was unsere Gegner der Welt zu geben hatten, das haben sie ihr schon gegeben, und das neue Land Amerika hat nichts Neues zu sagen: Deutschland hat noch zu geben. Das ist unsere Aufgabe, uns dazu zu bilden, daß wir das können.

(Dem vorliegenden Durchschlag hat Paul Ernst handschriftlich hinzugefügt: »1917; ungedruckt wegen Staatsgefährlichkeit.«)


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