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Freie Bahn jedem Tüchtigen

(1919)

In demokratischen Zeiten haben die Schlagwörter eine große Bedeutung. Das Wesen der Demokratie besteht darin, daß die Führer des Volkes nicht durch Geburt oder durch bedeutende Persönlichkeit an ihrer Stelle stehen, sondern dadurch, daß sie der großen Menge sagen, was sie will. Die große Menge will immer das, was den Einzelnen aus ihr für den Augenblick das Angenehmste ist. Da aber die Menschen gewohnt sind, sich ihre Wünsche als Ideale vorzustellen, so muß es eine der Haupttätigkeiten des demokratischen Volksführers sein, dieses für den Augenblick Angenehmste so auszudrücken, daß es als eine sittliche Forderung erscheint. Auf solche Weise entstehen die politischen Schlagwörter.

Eines dieser Schlagwörter ist das, welches jedem Tüchtigen freie Bahn verspricht. Jeder vernünftige Mensch sieht die Sinnlosigkeit des Schlagwortes ein: denn die ewig menschliche Gemeinheit, welche durch keinen Umsturz oder Gegenschlag zu beseitigen ist, sieht eine ihrer Hauptaufgaben darin, dem Tüchtigen grundsätzlich den Weg zu versperren. Da die große Masse nun eben einmal gemein ist, so kann man sich sagen, was das bedeutet, wenn sie freie Bahn für den Tüchtigen verlangt.

Aber so ernst, wie es hier aufgefaßt ist, wird das Schlagwort ja auch nicht gemeint. Es kommt lediglich hinaus auf eine Umschreibung des Wortes Freiheit, welches Hobbes so erklärt, daß es die Möglichkeit bedeutet für jeden, mit seiner Kraft und Macht zu erreichen, was er will und kann. Nachdem die Freiheit aus den Höhen des Geistes in die trüben Niederungen des politischen Denkens gelangt war und da in der Wirklichkeit Folgen gehabt hat, welche die guten Leute nicht ahnten, die sie predigten, ist man ja bedenklich gegen sie geworden, und der Sozialismus als Idee ist aufgekommen als Rückschlag gegen die Freiheit. Auch dem Sozialismus ist der Sündenfall in das politische Denken hinab zugestoßen; in dessen Unklarheit und Verworrenheit befindet er sich nun; man braucht sich nicht zu wundern, wenn unter den vielen haarsträubenden Widersprüchen, welche er heute enthält, sich auch der findet, daß in der Gestalt unseres Schlagwortes die alte wohlbekannte freisinnige Redensart von ihm wieder aufgenommen ist: sind ja doch in Wahrheit neun Zehntel der Sozialdemokraten von heute dieselbe Art von Männern, welche vor fünfzig Jahren Fortschrittler waren.

Sozialismus bedeutet die Ordnung des gesamten Volkes zu einem bestimmten Zweck, bei rücksichtsloser Unterdrückung der etwaigen Ziele der Einzelnen. Das ist eine formale Bestimmung. Der Inhalt wird in diese Ordnung erst hineingebracht dadurch, daß man angibt, welches der höhere Zweck ist. Wenn ich die marxistische Sozialdemokratie recht verstehe, so ist dieser Zweck bei ihr die möglichst bequeme Herstellung von möglichst vielen Gebrauchsgegenständen bei möglichst gleichmäßiger Verteilung; es gibt aber auch andere Arten von Sozialismus mit höheren Zwecken, als dieser ist. Es versteht sich, daß man sich bei der Betrachtung dieser Zwecke nicht irreleiten läßt durch Bestimmungen wie »Das Wohl aller«: denn eben, was das Wohl aller ist, das ist ja die Frage; nicht jeder wird es in der bequemen Herstellung und gleichmäßigen Verteilung der Massenartikel sehen.

Die Sozialdemokratie ist von der gewerblichen Arbeit ausgegangen, nicht von der landwirtschaftlichen, in der gewerblichen Arbeit also müssen ihre Ursachen liegen. Die der heutigen, kapitalistischen Ordnung der gewerblichen Arbeit vorhergehende Ordnung war die der Handwerkerverfassung der mittelalterlichen Stadt.

In der mittelalterlichen Handwerkerverfassung war die Ordnung so, daß man den Bedarf an gewerblichen Gegenständen genau kannte, daß man wußte, wieviel Handwerksmeister bei ehrlichem Lohn und redlicher Arbeit ihn decken konnten, und daß man so viel Stellen für Meister hatte, wie der notwendigen Zahl der Handwerker entsprachen. Ein Meister damals konnte nicht »mit seiner Kraft und Macht erreichen, was er wollte und konnte«, er konnte also nicht etwa, wenn er besonders tüchtig war, sich eine Werkstätte von zwanzig und mehr Gesellen halten, indessen die anderen Freister der Stadt, die weniger tüchtig waren, verhungern mußten; er durfte nicht einen Gesellen mehr haben als die andern. Er konnte auch nicht höhere Preise nehmen, weil seine Erzeugnisse geschmackvoller waren, und er durfte nicht durch niedrigere Preise, die er bei größerer Tüchtigkeit in seiner Arbeit ermöglichen konnte, die andern unterbieten, um so die Kunden an sich zu locken. Also: es war durchaus keine »freie Bahn für den Tüchtigen.«

Auf Grund der allgemeinen Tatsache der Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit, welche leben will, war eine Ordnung geschaffen, wo dem Tüchtigen unmöglich gemacht war, äußerlich weiter zu kommen als der Untüchtigere. Wir wollen uns hüten, die mittelalterliche Arbeitsverfassung als einen Ausbund von Weisheit aufzufassen; sie war nichts als das Ergebnis der allgemein menschlichen Gemeinheit. Aber sie war als solche vernünftig, sie war nicht durch Schlagwörter und hohle Redensarten verlogen, und so hatte sie denn ein überraschend gutes Ergebnis: da dem Tüchtigen unmöglich war, äußerlich höher zu kommen als seine Arbeitsgenossen, so suchte er innerlich höher zu kommen: der Tüchtige legte in seine Arbeit mehr als ihm, der nicht mehr verdiente als der Untüchtige, bezahlt wurde: das war die Ursache des mittelalterlichen Kunstgewerbes; denn jede Kunst, auch das Kunsthandwerk, ist nur möglich als freies Geschenk, und der Schacher, welcher mit der Kunst verdienen will, wird nur wertloses Zeug machen. Und das war die Ursache des seelischen Hochstandes im Handwerk, denn der Mann, welcher seine Kraft nicht verzetteln konnte in Führen von Geschäftsbüchern, Handeln, Schreiben von Rechnungen und Beaufsichtigungen und Antreiben von widerwilligen Arbeitern, wendete sich nun auf das Wesentliche, auf das Heil seiner Seele. Die vorlutherischen Bibelausgaben gehen wahrscheinlich auf Handwerker zurück, in Handwerkerkreisen wurzelte die vorreformatorische freie Frömmigkeit; und naturgemäß wirkten die wenigen Wertvollen, da sie gesellschaftlich eng mit den Dumpfen und Stumpfen verbunden waren, auch auf diese.

Der Liberalismus hat die alte Handwerksverfassung zerstört. Er hat ihr mit Recht vorgeworfen, daß sie Tatkraft, Entschlußkraft, Unternehmungsgeist und ähnliches lähmte, mit einem Wort, daß sie durch die wirtschaftliche Unterdrückung der Tüchtigen zugunsten der Untüchtigen den wirtschaftlichen Aufschwung hinderte. Der Liberalismus

bewirkte nun, daß jeder »mit seiner Kraft und Macht erreichte, was er wollte und konnte«, er schuf freie Bahn dem Tüchtigen. Wer nun Verstand, Kraft, Fleiß, Tüchtigkeit, Mut und Ausdauer hatte, der las nicht mehr die Bibel und arbeitete nicht mehr schöne Dinge, die ihm niemand bezahlte, sondern er vergrößerte seinen Betrieb: mit einem Wort, er wurde aus einem Handwerker ein Unternehmer. Der wirtschaftliche Aufschwung kam. Die »freie Bahn jedem Tüchtigen« ist eine Vorbedingung des Kapitalismus.

Die Arbeiter haben ja nun im Kapitalismus ein Haar gefunden; andere Leute vielleicht auch. Ein Teil ihrer Bestrebungen entspricht völlig den Bestrebungen der mittelalterlichen Handwerker. Das sind im wesentlichen die gewerkschaftlichen Bestrebungen. Diese sind zwar engherzig, selbstsüchtig und kleinlich, sie sind aber jedenfalls vernünftig und natürlich. Und was natürlich und vernünftig ist, wird immer einmal irgendwelche guten Früchte tragen. Ein anderer Teil wird durch die allgemeinen politischen Redensarten bestimmt; und dieser ist scheinbar großartiger und hat die herrlichsten Menschenziele, ist in Wirklichkeit aber unvernünftig.

»Freie Bahn jedem Tüchtigen« wird kein Gewerkschaftsführer verlangen, wenigstens nicht als Gewerkschaftsführer; das verlangt nur der politische Wahlredner.

Es gibt eine alte Schnurre von einem polnischen Juden, der zum erstenmal in seinem Leben in einem Kaffeehaus sitzt und eine Tasse Schokolade trinkt. Er philosophiert: »Schokolade schmeckt gut, Knoblauch schmeckt gut: wie gut muß nun erst schmecken Schokolade mit Knoblauch.« Die politische Arbeiterbewegung befindet sich in der Lage dieses Juden, sie möchte Schokolade mit Knoblauch.

Die gewerkschaftlichen Ziele sind klar und einfach einzusehen, ähnlich wie die Ziele der alten Handwerker: der Durchschnitt will leben, Einer will es so gut haben wie der Andere, und wenn sich etwa die Schuster zusammengeschlossen haben, so will der eine Schuster ebensoviel Lohn haben und ebensowenig arbeiten wie der andere Schuster. Die politischen Ziele sind notwendig unklar, denn bei ihnen handelt es sich nicht darum, daß die Mittelmäßigkeit einer gleichartigen Masse sich durchsetzt, sondern die Mittelmäßigkeit einer ungleichartigen Masse will sich durchsetzen. Ein Sattlergeselle sieht, daß ein anderer Mensch den Staat leitet. Wir wollen nichts über das Verhältnis der beiden Menschen sagen, vielleicht ist der andere dumm und der Sattlergeselle immerhin noch gescheiter; aber auch, wenn er es nicht ist, dann wird er das sich jedenfalls einbilden, er wird rufen: Weshalb bin ich nicht Leiter des Staates? Zum Wesen der Mittelmäßigkeit gehört ja doch, daß sie die höhere Menschlichkeit gar nicht sieht, daß sie sich für vortrefflich hält. Der Sattlergeselle ist notwendig überzeugt, daß er zum mindesten so tüchtig ist wie der Staatsleiter; wäre er es nicht, so würde er sich ja nicht mit den politischen Dingen befassen, in die der Verständige sich ja doch nicht hineinbegibt, wenn er nicht unbedingt muß; er ruft: »Freie Bahn jedem Tüchtigen«, und nachdem er das lange genug gerufen hat, wird er wirklich denn auch Leiter des Staates.

Was die Gewerkschaften wollen, was die alten Handwerker wollten, das kann man doch wohl als »Demokratie« bezeichnen; was unser Sattlergeselle in der Politik will, das ist auch »Demokratie«. Man sieht, wie dasselbe Wort zwei ganz verschiedenartige Erscheinungen bezeichnet; zwei Erscheinungen, die beide aus derselben Minderwertigkeit entspringen, und von denen die eine zu vernünftigen Zuständen führt, die andere zu unvernünftigen.

Denn wir stehen in der politischen Entwicklung ja erst am Anfang.

Niemand wird Herrn Ebert ein gewisses Wohlwollen versagen. Er ist ein braver Mann, der niemand etwas Böses tut. Aber jeder wird auch zugeben, daß Herr Ebert nur durch Zufall an seine Stelle gekommen ist, daß so ziemlich alle anderen Mitglieder des Sattlerhandwerks seinen Platz ebensogut ausfüllen würden wie er. Mit anderen Worten: Freie Bahn für den Tüchtigeren ist noch gar nicht gemacht, der Tüchtigste kommt immer noch nicht hoch.

Er wird aber hochkommen.

Nur muß man sich fragen: Wer ist denn der Tüchtigste? Da das Hochkommen nicht von ihm abhängt, sondern von den Andern, offenbar der, welchen die Andern für den Tüchtigsten halten. In der demokratischen Politik ist das der, welcher den Leuten sagt, was sie am liebsten hören wollen. Jeder aber hört das am liebsten, was darauf hingeht, daß es ihm selber immer besser gehen soll. Nun hält sich jeder selber für tüchtig und glaubt, wenn der Tüchtige freie Bahn hat, so wird er selber schon hochkommen. Bei den Handwerkern sahen wir, daß das zur Herrschaft der wirklich Tüchtigsten führt, denn wenn die Tüchtigkeit durch die Tat bewiesen werden soll, dann kommen nur die wirklich Tüchtigen hoch.

Mit anderen Worten: man kann nicht Gott dienen und der Welt.

Wer freie Bahn dem Tüchtigen will, der will eine Ordnung, welche auf der Macht ruht, eine Ordnung von der Art, wie heute der Kapitalismus ist. Die Schlagworte der politischen Demokratie sind stets die Redeweise der Tyrannis gewesen: der Tyrann versteht die Kunst, dem Mann aus dem Volk am besten zu sagen, was er hören will; und wenn er dann oben ist, so zieht er die Tüchtigsten hervor und setzt diese an die ihnen gebührende Stelle. Viele Leute sind daher der Ansicht, daß die Tyrannis eine gar nicht so unebene Art der staatlichen Ordnung ist, und jedenfalls ist sie besser als gar keine. Daß freilich die Menschen unter ihr sittlich werden, dürfte man kaum behaupten: und eine Erhöhung der allgemeinen Sittlichkeit gehört doch auch zu den Erwartungen der Sozialdemokratie.


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